Recht haben nützt nichts
Wenn zwei sich streiten, dann drehen sich die Diskussionen schnell im Kreis: mit gegenseitigen Schuldzuweisungen und endlosen Debatten darüber, wer denn nun Recht hat und wer nicht. Doch es geht auch anders.
Voller Schwung lädt Carla die Einkaufstüten auf dem Küchentisch ab – und landet in den Krümeln von Jans Frühstücksbrot. Entnervt greift sie zum Wischlappen, dabei fällt ihr Blick auf den Herd: Verkrustete Reste von Tomatensoße. Ärger steigt hoch. Ist sie hier vielleicht das Dienstmädchen? Wutentbrannt rennt sie ins Wohnzimmer, wo Jan gemütlich vor dem Fernseher hockt: »Du hast schon wieder die ganze Küche dreckig gemacht!« Jan zieht erstaunt die Augenbrauen hoch. Hat er nicht eben erst den Müll runtergetragen? Und sogar die Spülmaschine laufen lassen? Entgeistert folgt er Carla in die Küche, wo sie entrüstet auf ein paar Tomatenspritzer zeigt. Genervt tippt er sich an die Stirn: »Du mit deinem Putzfimmel!«
Ob ein paar Soßenspritzer schon eine dreckige Küche ausmachen, oder ob so ein bisschen Durcheinander das Ganze erst wohnlich macht – das ist nun mal, wie so vieles im Leben, Ansichtssache. Dennoch laufen Streitigkeiten, egal ob im Privaten, bei der Arbeit oder in der Politik, oft so ab: Beide Seiten glauben, im Recht zu sein, die Diskussionen drehen sich im Kreis, und wenn gar nichts mehr geht, zieht man am Ende vor den Kadi. Nur: Zufrieden stellende Lösungen kommen so meistens nicht zustande.
Der amerikanische Mediator Marshall Rosenberg schlägt einen anderen Weg vor. Seine Grundthese: Bei Konflikten, egal ob im Privaten, bei der Arbeit oder in der Politik, gehe es nicht darum, wer Recht hat und was die Wahrheit ist, sondern darum, ob sich die Beteiligten ihre Sichtweisen gegenseitig vermitteln können. »Du machst immer die Küche dreckig« ist nämlich ein Satz, dessen Wahrheitsgehalt schlichtweg nicht festgestellt werden kann. Denn: Was ist eine dreckige Küche? Die Reaktion »Du mit deinem Putzfimmel« ist aber ebenso sinnlos, denn: Was ist ein Putzfimmel?
Für alle, die aus solchen fruchtlosen Kreisdebatten herauskommen möchten, hat Rosenberg eine Art Kommunikationstraining entwickelt. Er schlägt vier Schritte vor, um das Ganze aufdröseln. Der erste – und vielleicht wichtigste – besteht darin, die Fakten von ihrer Bewertung zu trennen. Also statt: »Du machst die Küche dreckig« zu sagen, was genau eigentlich passiert ist: »Du hast gekocht und danach den Herd nicht abgewischt.«
Der zweite Schritt lautet, sich über die eigenen Gefühle klar zu werden. Carla etwa könnte sagen: »Mich stören diese Spritzer«. Und statt ihr pauschal einen Putzfimmel zu attestieren, könnte Jan deutlich machen: »Ich fühle mich durch deine Ansprüche unter Druck gesetzt.« Das führt rasch zum dritten Schritt, nämlich die eigenen Bedürfnisse zu benennen. »Ich möchte nicht, dass Krümel in der Küche herumliegen« oder: »Ich will nicht dauernd wegen jeder Kleinigkeit den Putzlappen schwingen.« Was schließlich, viertens, darin mündet, konkret die eigenen Wünsche zu äußern – und das ist etwas ganz anderes, als Forderungen zu stellen.
»Ich wünsche mir, dass du immer nach dem Kochen die Herdplatte sauber machst«, könnte Carla zum Beispiel sagen – und, wer weiß, vielleicht tut Jan ihr den Gefallen. Nicht, weil sie Recht hat, sondern weil er sie mag. Vielleicht entschließen sich die beiden aber auch, eine Putzfrau zu engagieren. Wie auch immer: Das Ergebnis ist nicht zu verallgemeinern, sondern ihr eigenes. Nicht die Wahrheit. Sondern eine Lösung.
April 2005