Antje Schrupp im Netz

Radikal und pragmatisch: Intersektionale Demokratie am Beispiel von Amerikas erster Präsidentschaftskandidatin Victoria Woodhull (1838-1927)

Vortrag beim Symposium „1848 – Demokratie“ am 9. und 10. November 2024 im Büchnerhaus Goddelau und im Museum Butzbach

„Sie kann reiten wie ein Indianer, auf Bäume klettern wie ein Sportler, sie kann schwimmen, ein Boot rudern, Billard spielen und tanzen. Und schließlich, als Krone ihrer körperlichen Tugenden: Sie kann den ganzen Tag lang gehen wie eine Engländerin.“

Diese Worte schrieb Theodore Tilton, ein renommierter Journalist, der 1871 einen heißen Sommer lang Victoria Woodhulls Liebhaber war. Wer war diese Wonderwomen, von der Sie womöglich noch nie etwas gehört haben?

Victoria Woodhull ist, und das macht sie für diese Reihe hier interessant, eine der wenigen politischen Denkerinnen aus der Unterschicht, von denen wir Genaueres wissen. Fast eher noch: Sie ist eine Frau aus der Gosse.

Ist Demokratie auch für Menschen wie sie gedacht?

Das demokratische Projekt ist von einem grundlegenden historischen Widerspruch geprägt, nämlich dem, dass es einerseits universale Grundsätze beansprucht, gleichzeitig aber ein exklusiv bürgerliches, männliches, weißes Projekt war. Die Frage, wie die zunächst „Ausgeschlossenen“ – die Frauen, die Kolonialisierten, die Armen – bei diesem Projekt mitmachen können, ist nach wie vor aktuell.

In der Regel wird die Geschichte der Demokratie als „Emanzipations“- und „Gleichberechtigungsprojekt“ diskutiert: Demnach befreien sich die zunächst Ausgeschlossenen von ihrer Unterdrückung durch die Dominanten und erkämpfen sich gleiche Rechte oder bekommen sie zugestanden. Victoria Woodhull war jedoch der Meinung, es sei andersrum: Geschichte verändert sich, indem die Ausgeschlossenen auf den Rechten und die Möglichkeiten, die sie schon immer haben und hatten, bestehen und diese selbstbewusst ausüben.

Adressiert sich die demokratische Revolution an die Unterdrücker oder adressiert sie die Unterdrückten mit dem Appell, sich ihrer Freiheit bewusst zu werden?

Wenn die Frage diskutiert wird, wann jemals eine Revolution gelungen sei, wird sehr oft eine Revolution vergessen, und zwar die feministische. Aber kein anderes gesellschaftliches Verhältnis hat sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts so grundlegend verändert wie das zwischen Männern und Frauen, und zwar weltweit. Das geschah vor allem durch ein verändertes Selbstbewusstsein der Frauen selbst, innerhalb von Beziehungen, Familien, an der Basis, und erst danach und das auch nur teilweise in Form von Gesetzen oder Strukturen.

Victoria Woodhull ist eine nicht bürgerlichen Revolutionärin, die wieder aus der politischen Ideengeschichte verschwunden ist, weil sie nicht in die Raster passt, und die nicht zufällig heute, 150 Jahre später, wieder von höchstem Interesse ist. Denn sie steht vor allem für den Versuch einer notwendigen Vermittlung: Wenn es darum geht, das ehemals prinzipiell Ausgeschlossene zu emanzipieren, genügt Gleichberechtigung nicht. Sondern es muss eine Brücke gebaut werden, Erfahrungen müssen „übersetzt“ werden, allerdings ohne sich zu assimilieren, denn dann wären die Differenzen verschwunden und gerade nicht integriert.

Ich möchte noch ein anderes Problem in Erinnerung rufen, und zwar, dass politische Ideen von „Ausgeschlossenen“ immer schnell als repräsentativ für ihre Identitätsgruppe wahrgenommen werden. Die einzelne Person, die sich zu Wort meldet, gilt dann als Stimme „der Frauen“ oder „der Armen“. Das Denken von weißen, bürgerlichen Männern hingegen wird als ein individuelles gesehen wird. Diese Gruppe steht nicht für eine Identitätskategorie, sondern für inhärenten Pluralismus.

Die Stimmen der Marginalisierten als von ihrer Identität geleitete Stimmen wahrzunehmen, lässt sich nicht restlos verhindern. Aber dennoch ist Victoria Woodhull ist Victoria Woodhull, sie repräsentiert nicht, sie ist präsent. Ihr politisches Agieren ist sicher von ihrer sozialen Position als Frau aus der Unterschicht geprägt, aber nicht mehr als das von Ludwig Börne oder Friedrich Weidig von ihrem Mannsein geprägt war. Ihre Geschlechtsidentität determiniert Frauen ebenso wenig wie Männer.

Victoria Woodhull wurde als Victoria Claflin in einem abgelegenen Örtchen namens Homer in Ohio geboren. Ihre Familie war nicht nur arm, sondern galt als „unrespectable“, sie war ein Kind aus der Gosse. Ihre Eltern waren Kleinkriminelle, häufig auf der Flucht vor der Polizei. Sie hatten zehn Kinder – Victoria war das siebte – und zogen die meiste Zeit von Ort zu Ort, auch weil sie oft von der Polizei gesucht wurden.

Mit 15 heiratete Victoria einen Arzt namens Canning Woodhull, der sich jedoch als gewalttätiger Trinker entpuppte. Sie gebar zwei Kinder, Byron und Zulu Maud, von denen das erste, Byron, schwer behindert war. Victoria brachte die Familie als Sexarbeiterin und Cigar Girl in der Goldrausch-City San Francisco durch, bevor sie sich von ihrem Mann trennte und sich als Geistheilerin und Hellseherin in St. Louis selbstständig machte.

Dort lernte sie ihren langjährigen Lebensgefährten Henry Blood kennen, einen traumatisierten Bürgerkriegs-Veteranen mit radikalen sozialistischen Ansichten. Einer ihrer Visionen folgend siedelte Victoria 1869 nach New York City über, wo sie bald den Eisenbahn-Magnaten und Multimillionär Cornelius Vanderbilt als Kunden gewann. Sie gab ihm als „Hellseherin“ Insider-Informationen weiter, die sie sich über gute Kontakte ins Rotlicht-Milieu besorgte, wo reiche Männer zuweilen ihre Bankgeschäfte in Anwesenheit von Sexarbeiterinnen besprachen. Bei einem Börsencrash im Herbst 1869 machte Vanderbilt dank Woodhulls Tipps sehr große Gewinne. Woodhull hatte einen prozentualen Anteil ausgehandelt und war nun sehr, sehr reich. Zusammen mit ihrer Schwester Tennessee gründet sie mit diesem Kapital ein auf weibliche Kundinnen spezialisiertes Broker-Büro an der Wallstreet.

Um ihre politischen Ambitionen zu verwirklichen, gründete sie auch eine Zeitung, das Woodhull and Claflins Weekly und entwarf eine neue Strategie für die amerikanische Frauenbewegung, dazu später mehr. Sie gründete eine eigene Partei, die Equal Rights Party, und wurde 1872 von dieser als erste weibliche Präsidentschaftskandidatin der USA nominiert.

Wie kam eine Frau wie Victoria Woodhull zu so einer politischen Karriere?

Ein Faktor war sicher ihr großes Selbstbewusstsein, das ihr von ihrer Mutter, Annie Claflin, mitgegeben war. Ihre Kindheit bewahrte sie einerseits vor der Erwartung, bürgerlichen Frauenbildern zu entsprechen. Das Leben war hart, aber niemand verlangte von ihr, schwach, zurückhaltend und sittsam „wie eine Frau“ zu sein. Gleichzeitig war Victoria zeitlebens davon überzeugt, im Auftrag jenseitiger Kräfte unterwegs zu sein. Das mag heute absurd klingen, doch im Amerika Mitte des 19. Jahrhunderts war Spiritismus eine weit verbreitete Bewegung. Ihre Mutter bestätigte sie im Glauben an das Übersinnliche, ihr Vater vermarktete Victoria (und ihre jüngere Schwester Tennessee) als Hellseherin. Was für ihn ein Geschäft war, war für Victoria die Wahrheit. Sie glaubte wirklich, dass sie von den Geistern dazu berufen war, eine wichtige Rolle in der Welt zu spielen.

Ihr Beruf als Heilerin und Hellseherin brachte Victoria zudem Einsichten und Erkenntnisse in die Lebensverhältnisse vieler Menschen aller Schichten. Sie behandelte vor allem Frauen, die mit den unterschiedlichsten Problemen zu ihr kamen. Victorias Kundinnen sprachen über sexuellen Missbrauch, über Vergewaltigung, über schwierige Geburten, sterbende Kleinkinder, gewalttätige Ehemänner. Sie schilderten ihre Schmerzen beim Geschlechtsverkehr, die unerträgliche Arbeitsbelastung, Armut und Demütigung. Sie erzählten, wie sie Schwangerschaften verhinderten oder wo und wie sie Abtreibungen vornahmen. Die Armen sprachen über die Schwierigkeiten, sich und die Kinder satt zu kriegen, die Reichen über die Langeweile und Perspektivlosigkeit eines bürgerlichen Frauenlebens. Diese Erfahrungen legten den Grundstein für Woodhulls spätere Karriere als Reformerin und Politikerin. In ihren Vorträgen zitierte sie immer wieder aus dem riesigen Fundus an Schicksalen vor allem von Frauen, aber auch von Männern, den sie in den insgesamt 15 Jahren Praxis als Heilerin und Wahrsagerin gesammelt hatte.

Anfang 1869 ließen sich Victoria zusammen mit ihren Kindern, ihrer acht Jahre jüngeren Schwester Tennessee und ihrem Lebensgefährten James Blood in New York City nieder. Dort wollte sie eine gesellschaftspolitische Karriere starten – auch dazu hatte sie eine Vision aus dem Jenseits aufgefordert. James Blood war ein Intellektueller und Reformer und hatte sie mit politischen Theorien und Strömungen bekannt gemacht. Das für eine politische Karriere notwendige Geld hatte sie über ihre Beziehung zu Cornelius Vanderbilt zur Verfügung. Doch hatte keine Beziehungen und Netzwerke ins politische Establishment ihrer Zeit.

Es gab damals in den USA bereits eine etablierte Frauenrechtsbewegung. Schon 20 Jahre zuvor, 1848, hatte in Seneca Falls im Bundesstaat New York der erste Frauenkongress stattgefunden. Soziale Fragen spielten bei den amerikanischen Feministinnen allerdings kaum eine Rolle, sie kamen fast alle aus der gehobenen Mittelschicht: Es waren Töchter und Ehefrauen von Politikern, Juristen, Großgrundbesitzern, Pfarrern. Die meisten hatten keine Existenzsorgen. Ihr Problem war nicht Armut oder soziale Ungerechtigkeit, sondern der Ausschluss aus den bürgerlichen Rechten.

Inzwischen war diese Frauenrechtsbewegung in die Jahre gekommen, ohne ihrem Ziel, dem Frauenwahlrecht, näher gekommen zu sein. Sie befand sich in einer Krise. Von Beginn an hatten die Frauenrechtlerinnen ihren Kampf zusammen mit der Anti-Sklaverei-Bewegung geführt. Das gemeinsame Ziel war der Zugang der Ausgeschlossenen, der Frauen und der Schwarzen, zu den rechtlichen Privilegien der weißen Männer. Aber Anfang 1869, genau zu der Zeit als Victoria Woodhull politisch aktiv wurde, drohte diese Koalition zu zerbrechen. Nach dem Sieg der Nordstaaten im Bürgerkrieg war mit dem 14. Amendment das Wahlrecht für Schwarze Männer eingeführt worden. Vom Frauenwahlrecht war hingegen keine Rede mehr. Trotzdem begrüßten die meisten Frauenrechtlerinnen das Gesetz als ersten Schritt. Das Wahlrecht für Frauen, so meinten sie, würde dann auch irgendwann kommen.

Die Führerinnen des radikaleren Flügels der Frauenrechtsbewegung jedoch, Elizabeth Cady-Stanton und Susan Anthony, sahen das aber anders. Für sie war das Wahlrecht für Schwarze Männer Verrat an der gemeinsamen Sache. Denn nun waren Frauen nicht mehr eine von mehreren gesellschaftlichen Gruppen, denen das Wahlrecht verweigert wird, sondern die einzige. Oder, wie Cady-Stanton formulierte: „Es heißt nun: Männer gegen Frauen. Alle Männer werden wählen, nicht aufgrund von Intelligenz, Patriotismus, Wohlstand oder weißer Haut, sondern allein deshalb, weil sie Männer sind – und keine Frauen.“ Es sei absurd, sagte Cady-Stanton in einer später viel kritisierten rassistischen Rede, dass „Patrick und Sambo, die nicht einmal wissen, was der Unterschied zwischen Monarchie und Republik ist, die weder die Unabhängigkeitserklärung noch Webster‘s Wörterbuch lesen können, Gesetze machen sollen für Frauen wie Lucretia Mott, Ernestine L. Rose und Anna E. Dickinson“ – Ernestine Rose war eine bekannte jüdische Freidenkerin und Feministin, Anna Dickinson eine einflussreiche Intellektuelle und politische Rednerin dieser Jahre. Die Mehrheit der Frauenrechtlerinnen waren über Cady-Stantons Rassismus entsetzt. Sie begrüßten das Wahlrecht für schwarze Männer und betonten, dass die Lebensverhältnisse der afroamerikanischen Bevölkerung um so viel schlechter wären als die der Weißen, dass sie das Wahlrecht viel dringender brauchten als weiße Frauen. Es kam zur Spaltung in eine „gemäßigte“ Amerikanische Frauenwahlrechts-Vereinigung und in einer „radikalere“ Nationale Frauenwahlrechts-Vereinigung mit Elizabeth Cady-Stanton und Susan Anthony als Wortführerinnen.

„Stürme im Wasserglas“, urteilte Victoria Woodhull abfällig über diese Debatten. Sie war dafür, dass Schwarze Männer das Wahlrecht bekommen sollten, denn das wäre doch schon mal besser als nichts. Pragmatisch wie sie war, hielt sie Cady-Stantons Einwände für Spitzfindigkeiten. Andererseits gefiel ihr die radikalere Grundhaltung von Cady-Stanton und Anthony. Der ganze reformistische Habitus der „gemäßigten“ Frauenrechtlerinnen war ihr zu wenig kämpferisch.

Für Woodhull war klar, dass sie sich nicht einfach einer der beiden Strömungen anschließen würde, sondern einen eigenen Standpunkt entwickeln. Dabei verstand sie sich auch als Vertreterin einer jüngeren Generation, die neuen Wind in die alte, verstaubte Frauenrechts-Szene bringen würde. Sie wollte sich nicht einfach vor den Karren der Frauenbewegung spannen lassen, denn sie hatte, um es in heutigen Worten zu sagen, eine instinktive Abwehr gegen „Tokenism“, also die Instrumentalisierung marginalisierter Personen für die Ziele einer dominanten Kultur. Außerdem lehnte sie das tugendhafte Gehabe und die moralische Argumentation vieler Frauenrechtlerinnen ab.

Vor allem aber war sie nicht überzeugt, dass das Wahlrecht die einzig entscheidende feministische Frage war, ja, dass es hier überhaupt um Rechte ging: „Das ganze Gerede über Frauenrechte ist dummes Geschwätz“, sagte sie einem Reporter. „Frauen haben jedes Recht. Alles was sie tun müssen ist, es auszuüben. Genau das tun wir. Indem wir faktisch das Recht ausüben, unseren eigenen Geschäften nachzugehen, tun wir jeden Tag mehr für die Rechte der Frauen, als papierne Tiraden und Bühnenreden in zehn Jahren.“

Genau so war es auch: Zunächst einmal investierte Woodhull aber in Eigen-PR. Mit ihrem neu gewonnenen Wohlstand richtete sie sich zusammen mit Tennessee schicke Büros ein und mietete ein elegantes vierstöckiges Wohnhaus in Murray Hill, in unmittelbarer Nähe zur Fifth Avenue. Orientalische Teppiche, Ölgemälde und Kronleuchter aus venezianischem Glas wurden angeschafft. Purpurner Samt, Spiegel, Mahagoniregale und riesige Kronleuchter schmückten die Räume, wenn man Zeitungsberichten Glauben schenken will, die das Haus „Modern Palace Beautiful“ tauften.

Das Haus füllte sich rasch. Neben Victoria, Tennessee und James Blood sowie Victorias Kindern, dem inzwischen 17jährigen Byron und der 10jährigen Zulu Maud, lebten dort auch die Eltern Buck und Annie, Schwester Utica, Schwester Margaret Ann mit drei Kindern sowie Schwester Polly mit Tochter Rosa und ihrem neuen Mann. Eines Abends stand dann auch noch Canning Woodhull vor der Tür, Victorias erster Ehemann, völlig abgemagert und betrunken: Er hatte von dem plötzlichen Wohlstand seiner Ex-Frau in der Zeitung gelesen. Woher kamen die alle? Sie hatten aus der Zeitung erfahren, dass Victoria und Tennessee reich waren, denn die Medien hatten überregional über den Wallstreet-Erfolg der Schwestern berichtet. Was würden Sie machen, wenn Sie praktisch in der Gosse leben, und dann in der Zeitung lesen, dass ihre Tochter oder Schwester im Geld schwimmt? Eben.

Unverzichtbar für Victorias Karriere ist die Unterstützung ihrer Schwester Tennessee. Dabei sind gerade die Unterschiede zwischen beiden interessant, denn sie machen sich gerade an dem Willen Victorias fest, ihre Erfahrungen und Überzeugungen in die bürgerliche Sphäre der „richtigen“ Politik hineinzubringen. Tennessee war in vielerlei Hinsicht radikaler als Victoria, eine echte Rebellin, noch unkonventioneller und noch origineller. Aber sie hatte kein Interesse daran, ihre Ansichten im politischen Geschehen ihrer Zeit zu vermitteln. Es war ihr egal, was andere von ihr dachten: „Wenn ich mich darum scheren würde, was die so genannte Gesellschaft sagt, dann könnte ich meine Wohnung nur in merkwürdigen Kleidern oder Kostümen verlassen. Aber ich pfeife darauf, was schwächliche Mädchen oder gepuderte Dandys über mich sagen.“ Tennessee lief an heißen Tagen in Unterhose und Unterhemd herum, und sah überhaupt keine Veranlassung, sich etwas anderes anzuziehen, wenn Besuch kam. Sie wollte sich nicht mit Leuten abgeben, die ihrer Meinung nach in falschen Kategorien dachten und langweilige Dinge taten, wie Kongresse abhalten und Petitionen schreiben.

Victoria hingegen genügte es nicht, für sich selbst Freiraum erkämpft zu haben. Sie ärgerte sich über die Doppelmoral von Politikern, über die Selbstgerechtigkeit der Frauenrechtlerinnen, über ungerechte Gesetze, Wirtschaftsstrukturen, Sitten. Sie wollte nicht nur ihr eigenes Leben verändern, sondern die Welt. Und ihr war klar: Wenn sie gehört werden wollte, dann würde ihr Wissen und ihre Ansichten auch vermitteln müssen. Sie musste die Sprache derjenigen lernen, die in der politischen Arena tonangebend waren.

Die Chance ergab sich, als Victoria Anfang 1870 Esther Andrews kennenlernte, eine Spiritistin, Ärztin und Heilerin. Andrews hatte als eine der ersten Frauen in Amerika Medizin studiert und auf dem Gebiet der Kräuterheilkunde geforscht. Sie war verheiratet mit dem Philosophen und Freidenker Stephen Pearl Andrews, und es stellte heraus, dass er genau die Kenntnisse und Kontakte hatte, die Victoria fehlten: Der damals fast Sechzigjährige Universalgelehrte hatte Europa bereist und als Kongressreporter für die New York Tribune gearbeitet, eine Kommune und diverse philosophische Projekte gegründet, darunter eine Gruppe namens Pantarchy, „gemeinsames Regieren“, die es sich zur Aufgabe machte, den Entwurf für eine Weltregierung zu erarbeiten. Er trat für neue Geschlechterverhältnisse ein und war ein Anhänger der freien Liebe. Er hatte Kontakt zur organisierten Arbeiterbewegung. Er hatte mehrere sehr umfangreiche, aber über weite Strecken unverständliche Bücher geschrieben, die aber kaum jemand las. Seine Ansichten waren so dubios und auf eine merkwürdige Weise radikal, dass er als Sonderling galt. Kurz gesagt: Andrews konnte seine Ideen nicht vermitteln. Pearl Andrews war sofort daran interessiert, Victoria Woodhulls politische Ambitionen zu unterstützen. Für ihn war das eine großartige Chance, seine Ideen zu verbreiten. Und für Victoria bot die Zusammenarbeit die Möglichkeit, ihre Ansichten und Erfahrungen in soziale Theorien umzusetzen. Außerdem lernte sie im Dunstkreis der Andrews Menschen kennen, die sie bei ihrem Vorhaben, eine größere öffentliche politische Rolle zu spielen, unterstützen konnten.

Als anderer wichtiger Kontakt stellte sich der linke Politiker Benjamin Butler heraus. Butler war republikanischer Kongressabgeordneter aus Massachusetts, Kriegsveteran und mit seinen radikalen Ideen und berüchtigtem Dickkopf in Washington bekannt. In diesem neuen Bekanntenkreis gelang es Victoria Woodhull, eine eigene Linie zu finden. Kurz gesagt könnte man es so beschreiben: Während die Frauenrechtlerinnen von dem ausgingen, was Frauen fehlte – Rechte, Bildung, Fähigkeiten –, ging Victoria Woodhull von dem aus, was Frauen haben: Energie, Durchsetzungsfähigkeit und vor allem den starken Wunsch, etwas zu erreichen, etwas zu verändern. So war es jedenfalls in ihrem Leben bisher immer gewesen. Victoria Woodhull hat sich nie die Frage gestellt: Was darf ich, was ist mir erlaubt? Sondern: Was will ich und wie kann ich das, was ich will, erreichen?

Andrews Konzept der „Pantarchie“, des „gemeinsamen Regierens“, der Kooperation freier Individuen passte gut dazu. Alle Menschen sind demnach grundsätzlich an der politischen Gestaltung des Gemeinwesens beteiligt und übernehmen Verantwortung – oder eben nicht. Wenn sie freiwillig auf ihre politische Mitbestimmung verzichten, müssen sie sich aber an die Gesetze und Regeln halten, die die anderen ausarbeiten. Politische Teilhabe bedeutet nach der Lehre von Andrews nicht in erster Linie den passiven Besitz von Rechten, sondern vor allem die aktive Übernahme von Verantwortung. Diese Theorie wandte Victoria Woodhull nun auf das Thema Wahlrecht an. Es geht, so ihre Argumentation, nicht darum, ob Frauen wählen dürfen, sondern darum, ob sie wählen wollen. Victoria forderte die Frauen auf, ihr Recht auf politische Mitbestimmung in Anspruch zu nehmen und darauf zu bestehen, sich in die Politik einzumischen. Sie richtete sich mit ihrem Appell also nicht, wie die anderen Frauenrechtlerinnen, an die Männer (die den Frauen das Wahlrecht zugestehen sollen), sondern an die Frauen (die politische Verantwortung übernehmen sollen).

Mit Hilfe von Andrews verfasste sie ihr „Woodhull Memorial“, das dies in eine konkrete politische Forderung goss. Sie setzte argumentativ dabei an, dass das Wörtchen „male“ überhaupt erst mit dem 14. Amendment in die amerikanische Verfassung hineingekommen war. Vorher hatten verfassungsgemäß geschlechtsneutral „citizens“ das Wahlrecht gehabt. Da Frauen zudem auch steuerpflichtig waren, galt für sie auch „No taxation without representation“, die Parole schlechthin der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung. Woodhull argumentierte daher, dass die Einfügung des Wortes „male“ in Sektion 2 des 14. Amendments verfassungswidrig gewesen sei, und forderte, es wieder zu streichen. Dank der Kontakte von Benjamin Butler konnte sie dieses Memorial im Januar 1871 vor dem Rechtsausschuss von Kongress und Senat in Washington persönlich vorstellen. Die Petition wurde abgelehnt, bekam aber zustimmende Minderheitsvoten.

Im Kreis ihrer neuen Freund*innen war parallel dazu noch ein anderes Projekt entstanden, mit dem Victoria Woodhull ein Exempel statuieren wollten, und das politisch in eine ähnlich Richtung geht. Im April 1870 ließ sie im New York Herald eine Annonce drucken mit dem Wortlaut: „Während andere meines Geschlechts einen Kreuzzug gegen Gesetze führen, die die Frauen des Landes einschränken, habe ich meine persönliche Unabhängigkeit behauptet. Während andere für bessere Zeiten beteten, tat ich etwas dafür. Während andere für die Gleichheit von Frauen mit den Männern argumentierten, habe ich sie unter Beweis gestellt, indem ich eine erfolgreiche Geschäftsfrau wurde. … Deshalb beanspruche ich für mich das Recht, für die vom Wahlrecht ausgeschlossenen Frauen des Landes zu sprechen und, im festen Glauben, dass die landläufigen Vorurteile gegen Frauen im öffentlichen Leben bald verschwinden werden, kündige ich hiermit meine Kandidatur für die Präsidentschaft an.“

Damit berührte sie einen wunden Punkt in der damaligen Frauenbewegung. Denn zwar traten die meisten Frauenrechtlerinnen für das aktive Wahlrecht ein, aber das passive Wahlrecht war sehr umstritten. Die prominente Autorin Catharine Beecher schrieb etwa: „Viele intelligente und gut meinende Menschen glauben, es sei das große Heilmittel der schweren Unbilden, die unser Geschlecht unterdrücken, Frauen politische Macht und Ämter zu geben, und so in dieses gefährliche Handgemenge die klare, verführerische Stärke ihres Geschlechtes zu bringen. Wer kann ohne Schrecken auf diese neue Gefahr schauen?“ Catharine Beecher fürchtete, dabei könnten die weiblichen Werte und Tugenden, die sie im Interesse der Allgemeinheit für unverzichtbar hielt, verloren gehen. Ähnlich sah das ihre Schwester Harriet Beecher Stowe, die bekannte Autorin des Anti-Sklaverei-Bestsellers „Onkel Toms Hütte“. Sie kritisierte Woodhulls Präsidentschaftskandidatur direkt und schrieb: „Wer immer auch Präsident der Vereinigten Staaten werden will, muss sich darauf einstellen, dass sein Charakter in Stücke gerissen wird, dass er verletzt, geschlagen und mit Schmutz überzogen wird von jedem unflätigen Blättchen im ganzen Land. Keine Frau, die nicht wie ein alter Putzlumpen durch jede Gosse und jedes dreckige Wasserloch gezogen werden will, würde jemals einer Kandidatur zustimmen. Es ist eine Qual, die einen Mann umbringen kann. Was für ein unverschämtes Luder von Frau muss das sein, die so etwas aushält, ohne dass es sie umbringt?“

Sie sehen hier, wie sich hier politische Positionen mit Klassen-Ressentiments „überkreuzen“, wie man heute sagen würde. Victoria Woodhull war aus Sicht dieser bürgerlichen Frauen nicht eine Feministin mit anderen Ansichten, sie war ein „unverschämtes Luder“. Und ja, das war sie ja auch. Sie war nämlich aufgrund ihrer Herkunft tatsächlich schon buchstäblich daran gewöhnt, „verletzt, geschlagen und mit Schmutz überzogen zu werden“, so wie die meisten Frauen ihrer Klasse. Im Unterschied zu bürgerlichen Frauen musste sie dafür gar nicht erst Präsidentschaftskandidatin werden.

Viele der gängigen frauenrechtlerische Argumente für das Wahlrecht kritisierte Woodhull aus einer Klassen- oder Schicht-Perspektive. Zum Beispiel glaubte sie nicht, dass Frauen das Wahlrecht bräuchten, um ihre Interessen zu vertreten. „Dass Frauen Geld verdienen können, ist ein besserer Schutz gegen die Tyrannei und Brutalität von Männern, als dass sie wählen können“, schrieb sie. Wichtiger als die rechtliche Gleichstellung waren ihrer Ansicht nach wirtschaftliche Verhältnisse, Bildung und Eherecht: „Frauen müssen aus ihrer Position als Dienerinnen der Leidenschaften der Männer zu deren Gleichen aufsteigen. Ihr ganzes Erziehungssystem muss geändert werden. Sie müssen trainiert werden, wie die Männer beständige und unabhängige Individuen zu werden. Sie müssen Kameradinnen der Männer aus freier Entscheidung, niemals aus Notwendigkeit sein.“

Auch in ihrer Affinität zum Sozialismus unterschied sich Woodhull vom Mainstream der bürgerlichen Frauenrechtlerinnen. Die „Woodhull and Claflins Weekly“ brachte als erste das kommunistische Manifest auf Englisch heraus, Victoria und Tennessee gründeten in New York City die ersten englischsprachigen Sektionen der Ersten Internationale in Amerika, und sie organisierten im Herbst 1871 eine großen Solidaritäts-Demonstration für die Opfer der Pariser Kommune. Doch auch in der Arbeiterbewegung löste ihr breites Programm Widerstand aus. Die deutschen und französischen Sektionen beklagten sich, dass Woodhull und ihre Sektionen feministische Themen auf der Agenda hätten, die mit dem Programm der Ersten Internationale nichts zu tun hätten. Ebenso wie Michael Bakunin und James Guillaume wurde auch Victoria Woodhull 1872 beim Internationale-Kongress in Den Haag auf Betreiben von Marx und Engels aus der Internationale ausgeschlossen, weil ihr Programm sie zu „bourgeois“ sei.

Zurück zum Beginn des Jahres 1871: Victoria Woodhull war auf dem Höhepunkt ihrer Karriere. Nach ihrer fulminanten Präsentation des Memorials in Washington adoptierte die Nationale Frauenrechtsbewegung sie als Anführerin. Die ganze Strategie wurde entsprechend geändert, statt Petitionen für ein weiteres Amendment gingen die Frauenrechtlerinnen jetzt zum „illegalen Wählen“ über, also pressewirksam inszenierten Versuchen, eine Stimme abzugeben unter Berufung auf die Verfassung.

Doch die Phase der Anerkennung war kurz. Schon im Mai holte Victoria ihre Herkunft ein. Ihre Eltern waren auf die dumme Idee gekommen, Cornelius Vanderbilt zu erpressen, woraufhin dieser dafür sorgte, dass das Woodhull-and-Claflin Broker-Büro geschlossen wurde. Außerdem verklagte Mutter Annie James Blood vor Gericht mit dem Vorwurf, er würde ihr ihre Töchter entfremden. Der öffentliche Gerichtsprozess löste ein wahnsinniges Medienspektakel aus, bei dem viel schmutzige Wäsche gewaschen wurde – vielleicht so ähnlich wie Johnny Depp gegen Amber Heard – , bei dem Woodhulls „unrespektabler“ Lebensstil genüsslich durchgekaut wurde, etwa dass sie mit zwei Ehemännern unter einem Dach lebte. Die bürgerlichen Frauenrechtlerinnen spalteten sich über die Frage, wie sie sich dazu verhalten sollen. Elizabeth Cady-Stanton und Susan Anthony hielten recht lange zu Woodhull. Doch vor allem Catherine Beecher und Harriet Beecher-Stowe nutzten ihren großen gesellschaftlichen Einfluss und ihre publizistische Macht, um Woodhull als unmoralische Verfechterin der freien Liebe zu diskreditieren.

Die Beechers waren zu der Zeit eine der einflussreichsten Familien in Amerika. Es gebe drei Klassen von Menschen, lautete ein beliebtes Sprichwort, „the good, the bad, and the Beechers“ Die Beechers waren reformorientiert und liberal, sie standen für das fortschrittliche, keineswegs das konservative Amerika. Sie schafften es, wie eine Historikerin es mal formulierte, „immer etwas links vom Zentrum zu stehen, alle neuen Ideen aufzugreifen, ohne dabei aber jemals wirklich gefährlich radikal zu werden“. Zu dem Clan gehörte neben den Bestsellerautorinnen Catherine und Harriet vor allem auch ihr jüngerer Bruder Henry Ward Beecher, ein extrem populärer Pfarrer – eine Biografie nennt ihn „The most famous man in America“ – der in Brooklyn eine Megachurch aufgebaut hatte, Plymouth Church, einen wahren Konzern und Quelle sprudelnder Gewinne. Sonntags morgens fuhren eigens Fähren von Manhattan nach Brooklyn, die so genannten Beecher-Ferrys, um Menschenmassen zu seinen Gottesdiensten zu bringen.

Es war ein offenes Geheimnis, dass Henry Ward Beecher ein Frauenheld war. Er und seine Schwestern predigten zwar Tugend und Moral, aber es war allgemein bekannt, dass Beecher vielfältige Affären hatte, oft mit Frauen aus seiner Gemeinde, die ihn anhimmelten. Eine davon war Elizabeth Tilton, der Ehefrau seines PR-Manns, Theodore Tilton – derselbe, den sich Victoria Woodhull im Sommer 1871 als Liebhaber nahm. Über ihre Beziehung zu Tilton (den sie aber durchaus auch sexuell attraktiv fand), hoffte Woodhull zu erreichen, dass Henry Ward Beecher sich an ihre Seite stellte und seine Schwestern dazu bringen würde, ihre Angriffe auf Victoria zu mäßigen.

Doch Beecher ließ sich nicht erpressen. Daraufhin beschloss Victoria, auf Konfrontation zu gehen: Im November 1871 hielt sie in der ausverkauften Steinway Hall vor 3000 Menschen eine Rede über „Die Prinzipien der Sozialen Freiheit einschließlich der Frage von freier Liebe, Heirat, Scheidung und Prostitution.“ Zwei Stunden redete sie frei über Sex, Orgasmen, Verhütung. Die Ehe sei nichts anderes als Prostitution. Sie habe das Recht, jederzeit zu lieben, wen sie will, und wenn es jeden Tag ein anderer ist. Und so weiter und so fort. Nach diesem Abend wurde Amerika von einer Freie-Liebe-Panik erschüttert. Der berühmte Karikaturist Thomas Nast zeichnete Victoria als „Mrs. Satan“. Der Herald schrieb von der „erstaunlichste(n) Doktrin, der jemals ein amerikanisches Publikum zugehört hat“, und der Independent: „Es war die schmutzigste Versammlung, die jemals in New York abgehalten wurde.“

Nach dem Motto „Ist der Ruf erst ruiniert“ radikalisierte sich Woodhull nun weiter. Auf ihre Einladung kamen im April 1872 gut 600 Delegierte aus 22 Staaten in der New Yorker Apollo Hall zusammen, um ihre neue „Equal Rights Partei“ zu gründen, die dann Victoria Woodhull zu ihrer Präsidentschaftskandidatin nominierte. Eine Zeitung schrieb, es war „die wahrscheinlich heterogenste Zusammenkunft, die sich jemals in einer Stadt versammelt hat. Da waren Frauen und Männer und solche, die, soweit man nach Kleidung und Erscheinung gehen kann, zu jedem Geschlecht gehören könnten. Es gab alle Arten von Farben und Gesichtern, jedes Spektrum von religiöser, politischer oder sozialer Meinung, und Vertreter von nahezu jedem ’ismus’, den die Welt kennt. Der roten Fahne der Kommune auf der einen Seite der Halle hingen blaue Banner gegenüber, die in goldenen Lettern Textstellen aus der Bibel trugen.“

Woodhull hatte es also geschafft, eine intersektionale Bewegung „von unten“ um sich zu sammeln. Die jeweils radikalsten Teile der Frauenbewegung, der Arbeiterbewegung, des Abolitionismus und des Spiritismus kamen unter ihrer Führung zusammen. Doch bei den bürgerlichen politischen Gruppierungen hatte sie sich damit restlos unmöglich gemacht. Und das war das Ende ihrer politischen Karriere.

Noch einmal bäumte sie sich auf, mit einem kläglichen Erpressungsversuch gegen Henry Ward Beecher. Dieser „Beecher-Tilton-Skandal“ wurde zum sensationellen Medien-Ereignis, das die Öffentlichkeit und die Gerichte auf Jahre hinaus beschäftigte. Plymouth Church setzte nun die ganze Macht des Establishments in Gang. Beecher hetzte seine Anwälte auf Woodhull. Unter dubiosen Anklagen wurde sie von bestochenen Richtern verurteilt und ins Gefängnis gesteckt. Dort war sie noch, als im November 1872 der Republikaner Ulysses S. Grant erneut zum Präsidenten gewählt wurde. Als Victoria aus dem Gefängnis entlassen wurde, war sie politisch endgültig tot.

Und mehr noch: Victoria Woodhull wurde absichtsvoll aus den Annalen der amerikanischen Frauenbewegung getilgt. In der „Geschichte der amerikanischen Frauenbewegung“, die Elizabeth Cady Stanton, Susan Anthony und Mathilde Joslyn Gage im Jahr 1882 veröffentlichten, kommt sie so gut wie nicht vor. Von dort haben praktisch alle späteren Historikerinnen abgeschrieben. Zuweilen wurden die Quellen sogar absichtlich gefälscht. Ida Harper, die 1898 eine Biografie über Susan Anthony schrieb, ging sogar so weit, die Seiten, in denen Woodhull erwähnt wird, aus Anthonys Tagebuch herauszureißen und zu vernichten. Erst Ende der 1990er Jahre wurde Victoria Woodhull von feministischen Historikerinnen wieder entdeckt und rehabilitiert. Im Oktober 2002 bekam sie schließlich einen Platz in der „Seneca Hall of Fame“, der größten Gedenkstätte für wichtige Frauen der amerikanischen Geschichte.

1877 starb Cornelius Vanderbilt. Er hinterließ sein gesamtes Erbe seinem ältesten Sohn William, wogegen seine elf anderen Kinder klagen, und zwar mit dem Argument, ihr Vater sei unzurechnungsfähig gewesen, da er an Geister glaubte. Als Zeugin luden sie Victoria Woodhull vor. Daraufhin versprach William Vanderbilt Victoria eine große Menge Geld und ein Haus in London, unter der Bedingung, dass sie sich sofort nach England einschifft. Was sie auch tat, zusammen mit ihren Kindern, mit Tennessee, mit den Eltern Annie und Buck und einigen Nichten und Neffen.

In London lernte sie John B. Martin kennen, den Sohn einer reichen Bankiersfamilie, die beiden heirateten 1883. Es war Glückliche Ehe. 14 Jahre später starb Martin ganz plötzlich, er war erst 55 Jahre alt. Victoria, inzwischen fast sechzig, erbte nicht nur die Besitztümer ihres Mannes, sondern durch einen unglaublichen Zufall auch den Großteil des Martinschen Familienvermögens. Denn drei Tage vor John war dessen Vater gestorben und hatte seinem ältesten Sohn 150.000 Pfund hinterlassen, umgerechnet in heute 10 Millionen Euro. Die somit erneut superreiche Victoria zog in das Familienanwesen in Bredon‘s Norton, einem kleinen Ort rund 150 Kilometer nordwestlich von London. Dort lebte sie, zusammen mit ihren Kindern Byron und Zulu Maud, happily ever after. Sie betrieb weiterhin etliche Projekte, zum Beispiel eine Landwirtschaftsschule und den ersten weiblichen Automobilclub Englands. 1920 gab sie als alte Dame ein stolzes Interview zur Einführung des Frauenwahlrechts in den USA.

Victoria Woodhull Martin starb, als respektierte und beliebte Wohltäterin, am 9. Juni 1927 im Alter von 88 Jahren.

Alle Zitate und Quellen aus Antje Schrupp: Das Aufsehen erregende Leben der Victoria Woodhull, Ulrike Helmer Verlag 2002 (vergriffen), identischer Nachdruck verfügbar bei Buch&Netz (2015), als Print und E-Book.