Luisa Muraro:Endstation der Modernität
Luisa Muraro: Al capolinea della modernità . In: Via Dogana Nr. 74, September 2005, S. 3-5
Die pathetische Frage des anonym gebliebenen Mädchens am Tag nach dem 11. September: »Warum hassen sie uns so sehr?« musste nicht unbeantwortet bleiben. Es genügte innezuhalten und eine Weile gründlich nachzudenken. Ich sage das, weil ich nach den Bomben von London (und nach London sollte es Italien treffen, wie sie sagten) jemanden sagen hörte: »Aber sie haben doch angefangen«, als habe alles erst mit dem Blutbad der Zwillingstürme begonnen. Aber ich sage es auch und hauptsächlich deshalb, weil ich hinzufügen möchte, dass diese Frage, die aus einer durch unsere menschliche Säugetiernatur begründete Liebeserwartung entspringt, (weil wir nämlich von klein auf umsorgt worden sind,) in eine Richtung ging, die ich für damals und für heute als politisch richtig betrachte: Was können wir tun, damit wir geliebt werden? Dass es realistisch ist, mit solchen Begriffen zu argumentieren, hat uns Nelson Mandela gelehrt, als er noch im Gefängnis war, und später als Regierungsoberhaupt, in einem Land, das vorher durch den Rassenhass auf todbringende Weise gespalten war.
Ich bin sicher, dass viele Männer und Frauen sich in dieser Richtung engagieren, auch in den islamischen Ländern. Ich habe sogar die Sicherheit durch Belege, aufgrund dessen, was eine Frau sich durch bloßes Hinschauen an Belegen verschaffen kann, was jedoch nicht ganz leicht ist…Dabei denke ich missbilligend daran, wie viel Raum die Tageszeitung Corriere della sera jener Dame einräumt, die den Hass auf den Islam und die Angst vor ihm predigt. Der Himmel verzeihe ihr und helfe ihr, dass sie wieder zur Vernunft kommt. Leider ist die Politik, die am sichtbarsten ist, tatsächlich in Richtung Gesetz des Stärkeren gegangen und hat damit eine Gewaltspirale provoziert, von der wir nicht wissen, wann sie enden wird. Doch wir begehen nicht den Fehler zu glauben, dies sei der einzige und unabänderliche Lauf der Dinge. Dies zu glauben wäre, außer dass es in sich falsch ist, ein unfreiwilliger Beitrag zur Stärkung der Logik der Gewalt.
Bleiben wir also außerhalb, und wenn wir hineingezogen werden, arbeiten wir uns wieder heraus. Damit uns das gelingt, haben wir die Politik der Frauen. Nach den Volksabstimmungen über die künstliche Befruchtung fühlten sich diejenigen unter uns besiegt, die sich für ein Ja eingesetzt hatten und dafür ausgezeichnete Gründe hatten, das ist verständlich. Aber dann, als sie mit anderen Frauen darüber diskutierten und ins Gespräch kamen, verstanden sie etwas sehr Einfaches, nämlich folgendes: Dass viele, ja sehr viele Frauen sich gar nicht an die Front der politischen Lager des Referendums begeben hatten, weil sie so etwas nicht wollten, wofür sie unterschiedliche, durchaus gute Gründe hatten, und dass die zahlreichen Stimmenthaltungen, die die Volksabstimmungen scheitern ließen, in diesem Licht betrachtet werden müssen. Am Ende einer sehr lebhaft geführten Debatte über die Themen der Volksabstimmung, die in einer kaum durch die Ventilatoren gemilderten Gluthitze in Palermo stattfand, erinnere ich mich an die Stimme einer Frau, die aufstand und mit schönem Palermo-Akzent sagte: »Hätten wir auch gewonnen, wenn wir tatsächlich gewonnen hätten?«
Denjenigen unter euch, die sich entmutigt fühlen, weil die Politik der Frauen wieder unsichtbar geworden ist, und die deshalb versuchen, mit der Politik der Repräsentation zu Rande zu kommen, möchte ich sagen, dass diese Unsichtbarkeit schon schwerwiegend ist, aber dass sie nicht bedeutet, dass wir in irgendeiner Weise am Ende sind. Denn auch unter dem Schatten, den die Gewalt auf unsere Praxis und unsere Worte wirft, sind Frauen gegenwärtig und aktiv, und das war schon immer so. Chiara Zamboni schenkt uns in der Einleitung zur Geschichte der Philosophinnen , die zur Zeit der Preziosen1geschrieben wurde, folgenden Gedanken: Die totale Sichtbarkeit auf der Bühne der Geschichte dient nicht der Existenz der Frauen, schon immer haben sie auf eine Weise gelebt, die zwischen privat und öffentlich, zwischen sichtbar und unsichtbar liegt. Vor Jahren sagte Chiara Zamboni schon: Wenn ich kämpfe, dann nicht um zu gewinnen. Ich hielt dagegen, dass das nicht sein könne. Wir kämpfen, um zu gewinnen, sonst ist es kein Kämpfen. Das denke ich zwar immer noch, aber: Was will ich gewinnen? Eine Veränderung zum Besseren, die auch vom anderen, vom Gegner abhängt – das ist die Antwort. In unserer Politik der Frauen wird gekämpft, aber es gibt keine Frontenbildung. Und wenn es manchmal so aussieht, als gäbe es Fronten, lösen sie sich nach einer Weile auf, um anderen Figuren Platz zu machen, die dem Erfordernis entsprechen, in Beziehung zu sein und die Gründe des anderen besser zu verstehen. In der Politik der Frauen bewirkt die Zirkulation des Worts dasselbe, was die Suche nach dem Profit in der Welt der Machtbeziehungen bewirkt, dass nämlich alle Grenzen überschritten werden. Dabei zählt meiner Meinung nach auch jene Lust zu sprechen, zu plaudern und auch Klatsch weiterzugeben, für die die Frauen bekannt sind. Beim Sprechen um zu sprechen, was geschieht da? Dabei stellt sich zwischen die gegnerischen Fronten, die als Quelle der Identität eng geschlossen und nah aneinandergerückt sind wie zusammengepresste Kiefer, der Gedanke von all dem Rest , der außen vor gelassen wurde, der ausgeschlossen und nicht in Betracht gezogen wurde. Ich würde gern alles aufzählen, was zu diesem Rest gehört , aber die Liste wäre zu lang. Um es kurz zu sagen, es ist einfach das Leben. […] Denken wir an den Krieg in den Schützengräben 1914-1918 und stellen wir uns vor, das Niemandsland zwischen den beiden feindlichen Stellungen würde sich mit all dem bevölkern, was jene armen Soldaten, die gezwungen waren, sich gegenseitig abzuschlachten, im Kopf hatten. (Sie schrieben es in ihren Briefen nachhause – falls sie schreiben konnten, versteht sich): das Weihnachtsfest, der kranke Vater, der neugeborene Sohn, den sie noch nie gesehen hatten, das Bett, die Liebe, die Heuernte, die Weinlese, die Küche, die Lieblingsgerichte… Eine ganze Welt, die hauptsächlich von Frauen bevölkert ist. In gewisser Weise ist das eine perfekte Darstellung der Politik der Frauen, denn sie zeigt, welchen Sinn der feministische Kampf um unsere Existenz im öffentlichen Raum hat: Es geht dabei nicht so sehr darum, nicht mehr ausgeschlossen zu sein, sondern vor allem darum, eine tödliche Spaltung zwischen Öffentlichem und Privatem aufzuheben, die nicht nur die Politik vom Leben trennt, sondern auch die Freude, auf der Welt zu sein, kaputtgehen lässt, für die einen ebenso wie für die anderen.
Ich erwähne eigentlich nicht gern junge Menschen als solche, ich höre ihnen zu, wenn sie auch mir zuhören. Jetzt will ich es aber tun, denn es hat mir besonders gefallen, dass es eine junge Frau war, die bei der Diskussion von Palermo, der mit den Ventilatoren, auf überzeugende und glaubwürdige Weise die Entscheidung verteidigte, sich nicht in die Fronten einzugliedern, sondern stattdessen Beziehungen zu pflegen, die das Leben verbessern. Sich dafür einzusetzen, dass die Politik von den Bühnen der Repräsentation an die Orte des Zusammenlebens verlagert wird.
Etwas an unserer modernen und »fortschrittlichen« Zivilisation ist nun an seiner Endstation angekommen. In dieser schwierigen Lage gewinnt eine bestimmte symbolische Kompetenz der Frauen an Wert. Als die schädlichen Reden über einen Krieg der Kulturen begannen, der angeblich zwischen dem Westen und dem Islam im Gange ist, wollten einige Männer den Tiger dieser fürchterlich vereinfachenden Formulierung reiten, indem sie Erklärungen folgender Art abgaben: Sie haben ihren Glauben, aber wir haben unsere Kultur, die ihrer überlegen ist. Zudem haben wir auch noch einen Glauben und eine religiöse Kultur. Wir müssen die christlichen Wurzeln Europas wieder finden und unserer Kultur eine Seele geben, um mit unseren christlichen Werten dem Islam Einhalt zu gebieten, usw.: eine viel zu spiegelbildliche Gegenüberstellung, eine von Grund auf reaktive Identitätssuche mit der Neigung, den anderen zum Spiegel der eigenen Überlegenheit zu machen. (Wir Frauen kennen das). Anschließend wurde diese Haltung dann zum Aushängeschild einer neuen ideologischen Rechten, die den Export der Demokratie mithilfe des Krieges unterstützt und die in Bezug auf die Volksbefragungen eine Allianz mit der katholischen Kirche eingegangen ist. Das heißt, dass jene Reden ( sie haben ihren Glauben, wir haben unseren usw.) einige Jahre vor der Tragödie der Zwillingstürme begannen: Wenn wir die historischen Verantwortlichkeiten einmal beiseite lassen, wird uns bewusst, dass eine symmetrische, antagonistische Gegenüberstellung einem Symbolischen entspricht, das nicht auf eine bestimmte Weise oder an einem bestimmten Ort begonnen hat, sondern der Kultur auf so elementare Weise eingepflanzt ist, dass man fast sagen könnte, es sei von Natur aus da.
Luce Irigaray sprach ganz anders über diese Fragen. Sie wies auf das Leiden hin, das damit verbunden ist, wenn das selbstverständliche Vertrauen in traditionelle Wahrheiten verloren geht. Und sie suchte nach Worten, die uns Mut machen, Vertrauen in die anderen Kulturen zu entwickeln. Sie sieht darin eine Möglichkeit, dass wir auch die eigene Kultur wieder finden.
Sie sagte: Wir befinden uns schon immer auf einem Kreuzweg, sind schon immer damit geschlagen, dass wir täglich fremdartige Realitäten vorfinden und uns mit ihnen auseinandersetzen müssen. Wir müssen dafür immer wieder neue Verhaltensweisen, neue Worte und neue Einstellungen erfinden. Dies schrieb Irigaray in ihrem Kommentar zu Joseph Ratzingers Rede gegen den Relativismus, im April 2005, kurz bevor er Papst wurde. Sie wetterte nicht gegen Ratzingers Position: Sie sagte, es sei verständlich, dass ein Vater versuche, seine Kinder vor der ständigen Versuchung der Verschiedenheit zu beschützen. Doch sie fügte hinzu, diese Versuchung gehöre zu dem, was das Leben uns aufgebe, und wir könnten das auf uns nehmen.
Es überrascht, dass eine Denkerin der Differenz bei dieser Gelegenheit nicht das Loblied auf die Differenz gesungen hat. Ich erkenne darin ihr großes Verantwortungsgefühl und einen viel tieferen Gedanken. Sie lehrt uns, dass der Pluralismus nicht die Antwort ist und dass die wirkliche Antwort durch ein Leiden hindurchgehen muss. Wie mir scheint, hat dieses Leiden eine Ähnlichkeit mit dem Leiden des Exils, wie es Maria Zambrano beschreibt.
Wenn wir über dieses Thema nachdenken, sollte vielleicht noch auf eines hingewiesen werden: auf die genaue Unterscheidung zwischen Relativismus und Relativität. Gemeint ist genau die Relativität, die der berühmten Theorie von Einstein den Namen gegeben hat. Relativismus bedeutet, die Suche nach dem allumfassenden Wahren und Richtigen aufzugeben, weil in Betracht gezogen wird, dass alle möglichen Antworten von Kulturen abhängen (oder von Standpunkten oder Interessen), die historischer Natur und daher veränderbar sind, wobei keine sich als den anderen überlegen betrachten könne. Die Relativität, als Gedanke und vor allem als geistige Grundhaltung, kann als ein unvorhergesehener Sieg über den Relativismus betrachtet werden. Dieser Sieg wird errungen, bzw. diese geistige Grundhaltung entsteht, wenn wir nach Vermittlungen suchen, um vom einen zum anderen Standpunkt zu gelangen. In der Praxis heißt das, dass ich versuche, das, was ich in erster Person lebe, weiß und empfinde, in etwas zu übersetzen, was die andere Person verstehen kann, weil es dem entspricht oder ähnlich ist, was er oder sie weiß, empfindet und lebt. Das ist nur möglich, nachdem ich der anderen Person zugehört habe, während diese versucht hat, mir ihre Erfahrung zu vermitteln. Philosophisch ausgedrückt ist das nichts anderes, als die symbolische Arbeit der Vermittlung der eigenen Erfahrung zu leisten, doch nun mit einer neuen Sprache, durch die wir fähig sind, mehr und besser zu verstehen.
Gegenseitiges Verstehen entsteht nicht, wie manche meinen, aus bloßen Akten guten Willens. Hier muss eine Arbeit geleistet werden, Übergänge und Passagen müssen gefunden werden. Dafür muss Geduld mitgebracht werden, wie Luce Irigaray so schön sagt und wie es auch Anna Leoni in der Via Dogana unter der Überschrift Ein Schritt zurück beschrieben hat. In Einsteins Theorie bestehen die Übergänge aus bestimmten mathematischen Formeln, die Transformationen genannt werden. Das Schöne ist, dass diese Formeln schon existierten und dass Einstein sie wieder aufgriff, um auf ein Problem zu antworten, das sich ihm neu stellte. Mehr als die Theorie selbst zu betrachten, lohnt es sich, Einsteins Gedankenoperationen nachzuvollziehen, vor allem zwei davon: Wir können zwei Aussagen nebeneinander haben, die beide wahr sind, einander aber widersprechen, bis wir eine stillschweigend vorhandene, absolute Vorannahme entdecken, die zu dem Widerspruch geführt hat. Wenn wir diese Vorannahme fallenlassen – dies ist die zweite Operation, der »Schritt zurück« – ist eine neue Auffassung von Raum und Zeit entstanden und damit eine neue Physik.
Warum beharre ich so sehr auf diesem Punkt, was möchte ich damit sagen? Dass es uns von unseren Absolutheiten loslöst, wenn wir mit dem anderen in Beziehung sind, dass uns das aber nicht in den anderen verwandelt, als würden wir uns bekehren und die Sichtweise des anderen zu unserer machen. Die Übersetzungsarbeit der Relativität führt vielmehr zum Ende unserer Festgefügtheiten und ermöglicht etwas Neues. Natürlich verändern auch wir uns dabei, aber erst in der Folge. Um zu Einstein zurückzukehren: Seine Theorie hat die alte Physik nicht aufgehoben, sie befreite diese nur von ihrem falschen Absolutheitsanspruch, indem sie zeigte, unter welchen Bedingungen die alte Physik als wahr betrachtet werden konnte und musste. Ich glaube, es ist kein Zufall, dass Einstein nicht nur ein genialer Physiker, sondern auch ein Verfechter der menschlichen Friedensfähigkeit war.
Es geht also im Wesentlichen nicht darum, große Ideale zu predigen oder universelle Werte zu verwirklichen, obwohl ich gern anerkennen will, dass einige Männer das mit Erfolg getan haben. Ich erkenne es aber nicht an, wenn es zum Nachteil der weiblichen Freiheit geschah… Es gelang Mahatma Gandhi, auch Jesus, wie die Evangelien zeigen, aber nicht Franz von Assisi, der seine Anhängerin Chiara entgegen ihrer Berufung in die Klausur zwang, und das ist nur ein Beispiel von vielen. Die Reihe der großen Männer und der großen »allumfassenden« Ideale, die aber nicht mit der weiblichen Freiheit zu vereinbaren waren, ist sehr lang.
Es geht vielmehr darum, neue Übergänge und Passagen in der verwickelten menschlichen Welt zu erfinden bzw. zu entdecken, einer Welt, die sich ohne Unterbrechung innerhalb und außerhalb von uns erstreckt, wie ich durch die Praxis der Politik der Frauen gelernt habe. Ein solches Unternehmen steckt voller Risiken und kann scheitern, wie wir intuitiv erkennen, wenn wir den Film von Lars von Trier, Dogville, anschauen, oder wenn wir ohne Vorurteile noch einmal über die Geschichte der kommunistischen Bewegung nachdenken.
Es gäbe noch einiges, was ich dazu sagen könnte, aber noch wichtiger ist mir, zu diesem Thema meinen LeserInnen zuzuhören. Daher breche ich nun ab und schließe mit einem Gedanken, den ich ebenfalls Einsteins Schriften entnommen habe und der mir eine einleuchtende Lektion in politischer Praxis zu sein scheint: Für mich als Physiker (und Nicht-Physiker) hat ein Gedanke dann einen Wert, wenn ich unterscheiden kann, ob er im konkreten Fall zutrifft oder nicht. Einstein denkt über den Begriff der Gleichzeitigkeit nach, wir haben von der Liebe gesprochen, aber es gilt für beides. Die Frage »Was können wir tun, damit wir geliebt werden?« hat dann einen Sinn, wenn sie mir Antworten ermöglicht, für mich als Person und im Hinblick auf das, was uns gerade geschieht.
Übersetzung: Dorothee Markert
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Die Zeit der Preziosen (deutsch: »Schöngeister«) bezieht sich auf eine Geisteshaltung und einen Lebensstil, der im 17. Jahrhundert in französischen Salons vorherrschte. Es ging um eine Verfeinerung der Sitten, den Versuch einer Wiederbelebung des mittelalterlichen Ideals der höfischen Liebe (Anm. d. Ü.). ↩