Antje Schrupp im Netz

Margarete Susman – Wege zur Freiheit

Vortrag im Haus der Religionen in Bern, 22.3.2023

Es gibt ganz unterschiedliche Möglichkeiten, sich Margarete Susman zu nähern. Man könnte sie als Lyrikerin und Dichterin würdigen, als anarchistische Sozialistin und Revolutionärin. Als Vermittlerin im christlich-jüdischen Dialog, als Vordenkerin der jüdischen Renaissance. Als Protagonistin der europäischen Idee und als Überlebende und Interpretin der Shoah. Ich habe den Schwerpunkt auf den Aspekt gelegt, der mich am meisten interessiert, nämlich Susman als Denkerin der Differenz, speziell auch der Geschlechterdifferenz.

Als Margarete Susman so alt war wie ich heute, Ende Fünfzig, lebte sie in Frankfurt am Main, wo ich auch lebe. Und genau wie ich mich im vergangenen Jahr mit ihr beschäftigt habe, einer Denkerin, die rund 100 Jahre älter ist als ich, beschäftigte sie sich damals mit Frauen, die 100 Jahr vor ihr gewirkt hatten, nämlich mit Caroline Schlegel, Dorothea Schlegel, Rahel Varnhagen, Bettine von Arnim und Karoline von Günderode, 1929 erschien ihr Buch „Frauen der Romantik“.

Natürlich stehen all die unterschiedlichen Aspekte von Susmans langer Wirkungszeit – sie starb 1966 im Alter von 93 Jahren – nicht unverbunden nebeneinander. Aber es stimmt durchaus, was sie selbst als Titel für ihre 1964 erschienene Autobiografie gewählt hat: „Ich habe viele Leben gelebt.“

Geboren wird Margarete Susman am 14. Oktober 1872 in einer wohlsituierten, assimilierten jüdischen Hamburger Kaufmannsfamilie. Als sie zehn Jahre alt ist, zieht die Familie nach Zürich, dort verbringt sie ihre prägenden Jugendjahre. Ich war begeistert, dass in der Einladung zu dieser Veranstaltung ein Familienfoto gezeigt wurde, mit ihren Eltern und der älteren Schwester Paula.

Nach dem Abitur würde Susman gerne studieren, doch der Vater erlaubt es nicht – erst nach seinem plötzlichen Tod 1894 kann sie in Düsseldorf ein Kunststudium beginnen.

Bevor sich Margarete Susman der Philosophie und auch der Politik zuwendet, widmet sie sich zunächst der Lyrik und der Malerei. Sie geht nach München, wo sie Kontakt zu dem Dichterkreis um Stefan George und Karl Wolfskehl findet und selbst Gedichte veröffentlicht. Dort lernt sie auch ihre lebenslange Freundin Gertrud Kantorowicz kennen, gemeinsam gehen die beiden nach Berlin und studieren bei Georg Simmel Philosophie. Gertrud Kantorowicz wird 1942 auch bei dem missglückten Fluchtversuch dabei mit Susmans Schwester Paula Hammerschlag, von dem wir nachher von deren Enkel, Peter Hammerschlag, noch hören.

1906 heiratet Margarete Susman einen ehemaligen Kommilitonen, Eduard von Bendemann. Dessen Familie ist vom Judentum zum Protestantismus konvertiert und wünscht sich dasselbe auch von der Schwiegertochter. Susman, die als Kind mit evangelischem Religionsunterricht sozialisiert wurde, willigt zunächst ein. Doch wenige Tage vor ihrer Taufe entscheidet sie sich um und versteht sich von nun an bewusst als jüdische Denkerin. Ihre erste philosophische Publikation, ein 1907 in der Frankfurter Zeitung erschienener Text, trägt den programmatischen Titel „Judentum und Kultur“.

In den folgenden Jahren entwickelt sich Margarete Susman zur Differenzphilosophin, so würde ich das jedenfalls beschreiben. Und zwar interessieren sie vor allem zwei Differenzphänomene: Die jüdische Differenz innerhalb einer von Christentum und Nationalismus geprägten europäischen Kultur, und die weibliche Differenz in einer männerdominierten, patriarchalen Kultur.

Dass sie beides erst relativ spät, im Alter von 34 Jahren, für sich entdeckt, hat vermutlich biografische Gründe: So wie sie ihre jüdische Identität in der Auseinandersetzung mit einer möglichen Taufe entdeckt, entdeckt sie ihre weibliche Identität durch Heirat und Mutterschaft – ein knappes Jahr nach der Hochzeit bringt sie ihren Sohn Erwin zur Welt.

Für die Frankfurter Zeitung schreibt sie nun regelmäßig ausführliche Rezensionen philosophischer und literarischer Neuerscheinungen, darunter viele von jüdischen Autoren wie Ernst Bloch, von dem nachher auch noch die Rede sein wird, Martin Buber, Franz Kafka. Als einzige Frau trägt sie 1913 zum Sammelband „Vom Judentum“ bei, der wichtigsten Publikation der damals aufkommenden Bewegung der „Jüdischen Renaissance“, und zwar einen Aufsatz über „Spinoza und das jüdische Weltgefühl“, in dem sie die maßgebliche Bedeutung jüdischen Denkens für Herausbildung einer europäischen Moderne beschreibt.

Während Susman in ihren Zeitungsartikeln vor allem die Beiträge anderer würdigt und sichtbar macht, beschäftigt sie sich in ihrer eigenen philosophischen Arbeit mit einem anderen Differenzphänomen, der Geschlechterdifferenz.

1912 erscheint ihr Buch „Vom Sinn der Liebe“, eine philosophische Metaphysik, die von der Geschlechterdifferenz als Grundlage für Welterkenntnis und In-der-Welt-sein ausgeht. Speziell das Gebären als eine Tätigkeit, die einer anderen Logik folgt als das männlich geprägte „Schaffen“, will Susman aus dem Bereich des Privaten herausholen und für die Philosophie fruchtbar machen.

So schreibt sie zum Beispiel: „Nicht das Mutterwerden, nicht das Kind kann die Persönlichkeit erlösen, nie erlöst die Natur die Persönlichkeit. Das Symbol der weiblichen Erlösung in der Mutterschaft ist das Gebären Gottes. Die Verkündigung lautet nicht: Du sollst den Menschen gebären, sie lautet: Du sollt Gott gebären. Und dies ist die Bestimmung der weiblichen Seele. Der Gott, den wir alle verhüllt in uns tragen; der Mann muss ihn enthüllen in gestaltender Tat, die Frau muss ihn in Liebe und Schmerz gebären.“

Aus heutiger, an den Ideen von Dekonstruktivismus und queerfeministischer Hinterfragung traditioneller Geschlechterkonzepte geschulter Perspektive erscheinen solche Passagen etwas altmodisch. Einer der Referenten beim Abend zu Margarete Susmans Geburtstag in Zürich vorigen Herbst hat das Problem ein bisschen flapsig so ausgedrückt wie: Nach Judith Butler könne man ja nicht mehr so wie Susman über Geschlecht sprechen.

Ich bin da anderer Meinung. Ich denke, wir könnten unsere heutigen dekonstruktivistischen Debatten von Susman befruchten lassen. Denn für Susman ist „Geschlecht“ weder eine an weibliche Natur oder Biologie geknüpfte ontologische Wahrheit, noch geht es in sozial erlernten Verhaltensmustern und sozialen Zuschreibungen auf. Anders als heute üblich interessiert sich Susman weder für „Sex“ noch für „Gender“, sondern betrachtet Frausein und Weiblichkeit als ein historisch entstandenes Kulturphänomen. Ganz ähnlich auch wie Jüdischsein und Judentum im Unterschied zum Christsein und Christentum und in den vielfältigen Beziehungen zum Deutschsein oder zum Europäischsein.

Was sie interessiert, das ist nicht ein zeitlos weibliches Wesen, sondern explizit die „moderne, europäische Frau“ und die Rolle, die sie in der ideengeschichtlichen kulturellen Landschaft einnimmt, ebenso wie sie das Judentum in seiner historischen Rolle interessiert.

Mit dem Ende des ersten Weltkriegs wird Susman zunehmend politischer. Sie hinterfragt den deutschen Idealismus – also sich selbst – mit seiner Verachtung für pragmatische Politik. Scharf kritisiert sie auch die deutschen Frauen, die anders als die Engländerinnen und Französinnen sich während des Kriegs ihrer politischen Verantwortung entzogen und sich in Heim und Herd eingerichete hätten. Jetzt gelte es, endlich eine aktive und selbstbestimmte Rolle in der Politik zu ergreifen. Und zwar nicht im Sinne einer rein formalen Gleichstellung: „Was wir bedürfen”, warnt Susman gleich 1918, “ist nicht eine bloße Vermehrung der Stimmen.”

Angesichts des patriarchalen kulturellen Rahmens, den die europäische Moderne vorgibt, nütze bloße Gleichstellung nichts, vielmehr sei ein grundlegender symbolischer Wandel notwendig, schreibt Susman 1926: „Alle Fragen nach der Frau und um die Frau sind mit dieser einen Frage aufgerollt. Ist die Frau endgültig an das Bild des Mannes gebunden oder ist es möglich, dass sie von sich aus zu einem wahren Bild ihrer selbst, zu ihrer eigenen Wirklichkeit gelangen kann? Sie ist der Ausdruck für das hartnäckige Ringen zweier entgegengesetzter Kräfte: des Willens des Mannes zu seiner Welt, die die Frau mit umschließt, und des Willens der Frau, als Frau wahrhaft Mensch zu sein.“

Susmann erwartet von den Frauen, dass sie das Andere, die weibliche Differenz, in die bis dahin rein männlich Politik einbringen. Bei ihrer Wendung zu revolutionärer Politik war sie auch von ihrer Freundschaft zu Gustav Landauer beeinflust, dem anarchistischen Sozialrevolutionär, der mit ihr nach der Lektüre von “Vom Sinn der Liebe” Kontakt gesucht hat. Landauer spielt eine maßgebliche Rolle in der Münchener Räterepublik und wird Mai 1919 von antirepublikanikanischen Freikorps-Soldaten ermordet.

Dieser Wille, als Frau wahrhaft Mensch zu sein, ist für Margarete Susman auch im Privaten eine Herausforderung. In ihrer Ehe kriselt es, seit die Familie 1919 aufs Land, nach Säckingen am Rhein gezogen ist, wo sie im Stil von Landkommunen eine neue Lebensweise ausprobieren wollten. Die viele körperlich anstrengende Arbeit in Haus und Hof, das Leben getrennt von ihren Freund*innen in Berlin, gefällt Susman nicht; außerdem hat ihr Mann wohl eine Affäre.

1928, der Sohn ist inzwischen erwachsen, trennt sich das Paar, und Margarete Susman zieht nach Frankfurt. Das ist der Moment, von dem ich eingangs gesprochen habe, und in dem sie ungefähr so alt ist wie ich heute.

In Frankfurt, ohne Familie, kann sie wieder mehr schreiben, beschäftigt sich mit jüdischer und weiblicher Ideengeschichte. Sie vertieft ihre Kontakte zum Kreis der jüdischen deutschen Intellektuellen, insbesondere zu Franz Rosenzweig, der sie schon 1921 in Säckingen besucht hatte, inzwischen allerdings schwer an ALS erkrankt ist und Ende 1929 stirbt. Sie freundet sich mit der zwölf Jahre älteren Sozialreformerin Bertha Pappenheim an und verkehrt mit dem Rabbiner und Vorsitzenden der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland, Leo Baeck.

Doch mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten zerschlägt sich Susmans Traum von einer erneuerten europäischen Kultur, in der die weibliche und die jüdische Differenz ihren vernehmbaren und bedeutenden Platz innehaben. Früh entscheidet sie sich zur Flucht, am Silvesterabend 1933, sie ist nun 62 Jahre alt, steigt sie in den Nachtzug nach Zürich. Dort wird sie die restlichen 32 Jahre ihres Lebens verbringen.

Für sie ist es eine harte und persönlich herausfordernde Zeit. Ihr Aufenthaltsstatus als Geflüchtete ist prekär, und ihre finanziellen Möglichkeiten sind begrenzt. Eine neue politische Heimat findet Margarete Susman bei den Religiösen Sozialist*innen um Leonhard und Clara Ragaz und ihre Zeitschrift “Neue Wege” für die sie nun regelmäßig schreibt.

Schon 1946 erscheint Susmans Deutung der Shoah unter dem Titel „Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes“. Mit der Figur des Hiob als unschuldig Leidendem hat Susman sich schon lange zuvor beschäftigt, aber mit der nationalsozialistischen Massenermordung jüdischer Menschen nimmt das Thema eine völlig neue Wende und gewinnt schreckliche Aktualität. Lässt sich einem solchen Leiden tatsächlich, wie das Buch Hiob ja nahelegt, ein Sinn geben? Eine Frage, die Susman nicht leichtfertig angeht.

Sie fragt: Was bedeutet es, eine kulturelle Differenz, das Andere, zu repräsentieren? Soll man diese Position akzeptieren? Soll man dagegen ankämpfen, weil sie unweigerlich mit Diskriminierung und Abwertung verknüpft ist?

Oder lässt sich eine gerechte, gute Welt für alle nur verwirklichen, wenn nicht abstrakte Gleichheit, sondern Pluralität und Differenzbewusstsein ihre Grundlage bildet?

Auch angesichts der Prekarität des Anderssein, die sich in der Shoah als reale Möglichkeit der Auslöschung gezeigt hat, bleibt Susman dabei, die Notwendigkeit dieser Position zu verteidigen, also den Weg der Assimilation an das „Normale“ zu verweigern. Kritisch äußert sie sich daher auch zur Gründung des Staates Israel, denn sie befürchtet, dass das Judentum dadurch „ein Volk wie alle anderen“ werden könnte.

Wenn ich nun abschließend Susmans Aktualität für uns heute in einer These beschreiben müsste, dann vielleicht so: Wirklicher Universalismus kann nicht gelingen, indem das Andere assimiliert, aufgelöst, gleichgestellt wird. Wirklicher Universalismus gelingt nur, indem die konkreten Rahmenbedingungen der Alterität immer wieder ausgehandelt und neu bestimmt werden. In einem unendlichen Prozess von, wie wir heute sagen würden, „identitätspolitischen“ Auseinandersetzungen – so schmerzhaft die auch unter Umständen sein können.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.