Mit den Ärmsten leben. Die Kleinen Schwestern Jesu
In: Arbeitshilfe zum Weitergeben, Evangelische Frauen in Deutschland, Nr. 4 (Oktober) 2011
Foto: Schwester Elisabeth und Schwester Maria Walburg von der Frankfurter Gemeinschaft der »Kleinen Schwestern Jesu«.
„Kleine Schwestern Jesu“ nennen sich rund 1300 Ordensfrauen aus 67 Nationalitäten, die sich auf ein spirituelles Leben verpflichtet haben, wie Magdeleine Hutin es entworfen hat. Sie leben in kleinen Gemeinschaften von vier oder fünf Frauen überall auf der Welt, in der Regel dort, wo die Menschen am ärmsten sind. In afrikanischen Dörfern oder indischen Metropolen, in osteuropäischen Plattenbausiedlungen oder in den Randbezirken industrialisierter Großstädte. Sie arbeiten als Wäscherinnen, als Fabrikarbeiterinnen oder als Krankenpflegerinnen.
Ansonsten tun sie: Nichts. Jedenfalls nichts, was weiter Aufsehen erregt. Sie sind „kleine Schwestern, die niemand für wichtig hält, die von den großen Leuten nicht verstanden, vielmehr manchmal ein bisschen ausgelacht werden“, wie es die Ordensgründerin einmal formulierte. Die Kleinen Schwestern bauen keine Krankenhäuser, gründen keine Schulen, sie retten nicht die Welt – sie führen vielmehr ein kontemplatives Leben mit regelmäßigen Zeiten der Stille, des Gebets, des Rückzugs. Sie missionieren auch nicht, im Gegenteil, sie interessieren sich für den Glauben und das Denken der anderen. Dass sie da sind, mitten in der Welt, ist ihnen Christentum genug.
„Ich werde euch immer wieder von Jesus als ganz kleinem Kind sprechen“, schrieb Magdeleine Hutin 1941, zwei Jahre, nachdem sie die Ordensgemeinschaft gegründet hatte. „Gott ist in ihm ganz da, in all seine Weisheit und Kraft; aber er wollte sie verhüllen, um diese Geheimnisse den Kleinen, Geringen zugänglich zu machen. Er hat all das den Weisen und Klugen verborgen und hat es den Kleinen offenbart.“
Magdeleine Hutin wurde 1989 in Elsass-Lothringen in einer sehr religiösen, katholischen Familie geboren. Schon als Jugendliche interessierte sie sich für die Schriften und das Leben von Charles de Foucauld (1858-1926), einem Priester, der viele Jahre unter den Tuareg gelebt hatte. Auch Magdeleine zog es nach Nordafrika. Gemeinsam mit einer Freundin brach sie 1936 in die Sahara auf und lebte im damaligen französischen Kolonialgebiet bei verarmten Nomaden. Dies war die Keimzelle des Ordens, der 1939 offiziell gegründet und 1964 von der römisch-katholischen Kirche anerkannt wurde.
Ursprünglich hatte „Kleine Schwester Magdeleine“, wie sie sich nun nannte, die Gemeinschaft speziell für Nordafrika und für das Leben unter der muslimischen Bevölkerung konzipiert – gewissermaßen als Zeugnis des „anderen“ christlichen Frankreich, das nicht überheblich und herrschaftlich auftritt. Sie drehte sogar einen kleinen Film über das Leben in der Wüste und reiste damit mehrere Jahre lang kreuz und quer durch Frankreich und hielt Vorträge. Sie gewann zahlreiche junge Frauen, die sich für ein solches Leben interessierten und sich ihr anschlossen.
Doch nach dem Zweiten Weltkrieg weitete sie den Horizont und gründete Gemeinschaften überall auf der Welt. Es drängt sie – Gott drängt sie, so ihre feste Überzeugung – hinaus in die Welt. „Warum sollte man als Ordensfrau sein Herz zuschließen, anstatt es vielmehr weit aufzutun, und zwar nicht nur ‚im Prinzip‘, sondern so, dass man es auch sehen kann?“ fragt sie einem Brief an René Voillaume, einen Freund und Seelenverwandten und Gründer eines ähnlichen Männerordens. „Ich möchte einen Funken Liebe überallhin, in jeden Zipfel der Erde tragen.“
Das war durchaus wörtlich zu verstehen. Die Chronik der Reisen von Schwester Magdeleine liest sich wie ein Abenteuerroman. Sie fährt in den Libanon, nach Israel und Palästina. In einem Lastauto durchquert sie die Sahara bis nach Kamerun, anschließend bereist sie Süd- und Mittelamerika sowie die USA, dann geht es nach Indien, durch Ostasien – Vietnam, Korea, Taiwan – bis nach Papua Neuguinea und Australien. Sie fährt in den Iran, in die Türkei und sogar nach Afghanistan. Immer sind Kleine Schwestern dabei, die sich an den Orten, wo die Benachteiligten, Ärmsten, Ausgeschlossenen leben, ansiedeln. Die dort die örtliche Sprache lernen, in die Kultur eintauchen, und mit ihrer Anwesenheit die Botschaft in die Welt tragen, dass wirklich jeder einzelne Mensch von Gott geliebt ist.
Auch vom Eisernen Vorhang lässt sich Schwester Magdeleine nicht abschrecken. In einem zum Campingwagen umgebauten Transporter reist sie immer wieder mit Touristenvisum nach Polen und in die UdSSR, schaut sich um und knüpft Kontakte zur orthodoxen Kirche. Nach 1989 stellte sich heraus, dass auch in den sozialistischen Ländern Gemeinschaften der Kleinen Schwestern Jesu existiert hatten – heimlich.
Ob das Konzept funktioniert? Ob diese Art der bloßen Anwesenheit etwas nützt? Die Frage bringt Schwester Elisabeth und Schwester Maria Walburg zum Lachen. Die beiden haben Magdeleine Hutin noch persönlich gekannt, sie leben derzeit in der Frankfurter Gemeinschaft. „Ob das was nützt, müssen Sie die Leute fragen, nicht uns. Gott sei Dank müssen wir über unsere Erfolge nicht Buch führen. Wir sind einfach da, wir müssen nichts vorweisen.“
Ebenso wie ihre Gründerin verstehen sich auch die heutigen „Kleinen Schwestern“ nicht als Revolutionärinnen. Die Anerkennung durch die Kirchenhierarchie war und ist dem Orden wichtig. Auch wenn es dabei nicht immer konfliktfrei zuging. Umstritten war zum Beispiel der Wunsch, in Armut zu leben, das heißt, ohne Vermögen, Immobilienbesitz oder soziale Absicherungen, wie es bei Klöstern normalerweise üblich ist.
„Wir wollen nicht Armut an sich, sondern sie ist notwendig, damit wir am Leben der Leute, die es schwer haben, wirklich Anteil nehmen können“, sagt Schwester Elisabeth, die die Ausbildung von jungen Ordensschwestern betreut. „Die Frage ist doch: Wie kommen wir dahin, dass die Menschen uns annehmen und uns vertrauen? Das geht am besten über den Weg der gemeinsamen Arbeit.“ Daher leben die Kleinen Schwestern immer „auf dem Level der Unterschicht des jeweiligen Landes“. Auch eine darüber hinaus gehende Altersabsicherung haben sie nicht. „Wobei wir den Vorteil haben, dass wir in einer Gemeinschaft leben, die alles miteinander teilt“, ergänzt Schwester Maria Walburg. „Das ist natürlich auch eine Form der Absicherung.“
Maria Walburg hat die Biografie über Magdeleine Hutin „Kleine Funken – brennendes Feuer“ ins Deutsche übersetzt. Was sie von der 1989 in hohem Alter gestorbenen Ordensgründerin vor allem in Erinnerung hat, ist ihre einfache und unkomplizierte Art. „Sie konnte spontan anfangen zu weinen, wenn ihr etwas zu Herzen ging, oder auch zu lachen, wenn sie etwas freute.“ Beeindruckend sei auch ihre Fähigkeit gewesen, in allem einen positiven Aspekt zu erkennen. „Sie war sicher nicht blind gegenüber gesellschaftlichen Realitäten, aber es ist ihr immer gelungen, die möglichen Potenziale und das Gute zu sehen.“
Zum Beispiel fand Schwester Magdeleine, dass auch im Sozialismus nicht alles schlecht war. Erst recht nicht in anderen Religionen. Der Verzicht auf jegliche Mission und die große Offenheit gegenüber anderen Weltanschauungen, Kulturen und Denkweisen, der für die Kleinen Schwestern typisch ist, sorgte auf kirchenoffizieller Seite ebenfalls für so manches Stirnrunzeln.
In der heutigen multireligiösen Welt ist das aber eine große Stärke. „In der Fabrik habe ich fast nur mit Musliminnen zusammen gearbeitet“, erzählt Schwester Maria Walburg, „und wir haben vieles entdeckt, was wir gemeinsam haben, vor allem die Liebe zu Gott.“ Selbst unter Atheisten findet sie meist etwas, woran sich anknüpfen ließ. „Ich habe noch nie einen Menschen getroffen, der überhaupt keinen Sensor für das Religiöse hatte. Es gibt einen großen Hunger nach Sinn und nach Glück, auch wenn die Menschen das vielleicht nicht Gott nennen.“