Jesus – Gott der Verlierer?
»Meine Seele preist die Größe des Herrn, und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter. Denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut. Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen« –
diese Verse aus dem Magnifikat, dem Gebet der Maria, gelten spätestens seit den siebziger Jahren als Beleg dafür, dass Jesus ein Messias der Armen war, ein Retter der Unterdrückten, ein Gott für die, die ganz unten stehen in der gesellschaftlichen Hackordnung. Und in der Tat halten die Evangelien hierfür starke Bilder bereit: Jesus, der Sohn Gottes, wird geboren in einem Stall, zieht als besitzloser Wanderprediger durch die Gegend, findet seine Anhängerinnen und Anhänger unter Fischern und Prostituierten, und wird schließlich wie ein gewöhnlicher Krimineller hingerichtet.
»Jesus in schlechter Gesellschaft« überschrieb der Wiener Theologe Adolf Holl Anfang der siebziger Jahre sein Buch über die soziale Rolle des Jesus von Nazareth. Einige Jahre später legten deutsche Befreiungstheologinnen wie Dorothee Sölle nach, sahen im Kreuz das Symbol des Klassenkampfes und fanden überhaupt eine ganze Reihe Parallelen zwischen den Lehren Jesu und denen von Karl Marx.
Jesus, ein Kommunist? Nun, ein Anhänger der Besitzlosigkeit war er bestimmt. Man könne nicht beidem dienen, Gott und dem Mammon. Die Raben solle man sich zum Vorbild nehmen, sie arbeiten nicht, sie säen nicht, sie sammeln keine Vorräte an, und Gott ernährt sie doch. Ein Grund für diese naiv anmutende Unbekümmertheit könnte sein, dass Jesus dachte, der Anbruch des Reiches Gottes stehe unmittelbar bevor. Es sind einige unter euch, die werden den Tod nicht schauen, bevor der Menschensohn wiederkommt, prophezeite er. Wenn das Ende der Welt unmittelbar bevorsteht, dann ist jede Anhäufung von weltlichem Besitz natürlich sinnlos. Aber heute, wo die Wiederkunft Jesu schon seit 2000 Jahren auf sich warten lässt?
Die Kirche hat im Lauf ihrer langen Geschichte meist eher zu Protz und Prunk, als zu Bescheidenheit und Besitzverzicht geneigt. Prächtige Dome wurden da gebaut und unglaubliche Kostbarkeiten angesammelt. Und doch: Immer wieder haben die Armen in aller Welt Jesus zu ihrem Fürsprecher gemacht. Das Bild von einem Gott, der sich selbst erniedrigt und zu einem gewöhnlichen, leidenden Menschen wird, war seit den Zeiten des Urchristentums besonders für diejenigen attraktiv, die gesellschaftlich ganz unten standen, von den Sklaven auf amerikanischen Baumwollfeldern bis zu den Landlosen in Brasilien.
Die Aufforderung zur Wohltätigkeit, zum Teilen und zu sozialer Hilfe gibt es aber nicht nur im Christentum. Im Islam gehört das Almosengeben zu den wichtigsten Pflichten der Gläubigen, das Judentum kennt eine ganze Reihe von Regeln zur Umverteilung von Eigentum. In dieser Tradition stand auch Jesus. Doch bei ihm kommt es vor allem auf die innere Haltung an. Der Reiche, der für die Armen spendet, ist nichts im Vergleich zur Witwe, die ihr letztes Scherflein gibt.
Gleichwohl forderte Jesus nicht zu demonstrativer Armut auf. Er lief nicht, wie Johannes der Täufer, in schäbiger Kleidung herum und ernährte sich von wildem Honig, sondern wusste gutes Essen und einen guten Wein durchaus zu schätzen. Gefastet wurde in seinem Kreise selten, und ohne mit der Wimper zu zucken, ließ er sich von einer Frau mit teurem Öl salben. Der Jünger, der meinte, das Geld hätte sie besser den Armen gegeben, wurde harsch zurechtgewiesen: Die Armen habt ihr immer bei euch, mich aber nicht.
Soziologisch gesehen gehörten Jesus und seine Gefolgschaft nicht zu denen ganz unten. Nicht die Tagelöhner und Bettler waren sein Publikum, sondern Fischer, Handwerker, Zöllner, Marktfrauen und Kleinunternehmerinnen. Sie lebten zwar nicht in Saus und Braus, aber auch nicht von der Hand in den Mund. Unterer Mittelstand würde man heute sagen. Die Jesusanhänger hatten nicht viel Geld, aber doch genug, um damit zu wirtschaften und sich Sorgen um ihre alltäglichen Unternehmungen zu machen. Daher waren sie ja so erschrocken, als Jesus erklärte, eher gehe ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in den Himmel komme. Aber, tröstete er sie, für Menschen mag das unmöglich sein, aber nicht für Gott. Für Gott ist alles möglich. Und so mag die christliche Hoffnung auf einen Erlöser, der alle Tränen abwischt, zwar vor allem diejenigen freuen, die einen Grund haben zu weinen – doch gerichtet ist die Zusage an alle.
Sendung in hr1 an Karfreitag 2001