Der Streit um das große I
Das große I und die Schrägstrich-/innen kommen wieder aus der Mode. Nachdem Anfang der achtziger Jahre viele Frauen protestierten, weil sie nicht länger »mitgemeint« sein wollten, wenn von Mitarbeitern, Lesern oder Pröpsten die Rede war, gingen Anfang der neunziger Jahre sogar Bundeskanzler und Kirchenpräsidenten zu »frauengerechter« Sprache über. Inzwischen wird man wieder nachlässiger. Selbst ehemalige Vorreiterinnen der Sprachreform wie die Berliner »taz« werden zunehmend laxer im Gebrauch der oft ja tatsächlich unschönen Konstruktionen, die eine »inklusive« Sprache so mit sich bringt.
Es gibt darauf zwei Reaktionen: Die einen, meistens Männer, fühlen sich in dem bestätigt, was sie immer schon dachten, daß nämlich diese ganze Diskussion über die weiblichen Endungen Humbug sei und sich die Frauen ihre sprachliche Diskriminierung nur einbildeten. Die anderen, meistens Frauen, sind empört und sehen die Entwicklung als Beleg für ihre These vom sogenannten »backlash«, daß nämlich die Errungenschaften der Frauenbewegung derzeit Stück für Stück wieder zurückgedrängt würden.
Beides ist falsch. Natürlich war die Sensibilisierung für die Tatsache, daß die deutsche Sprache die männliche Form für die allgemeingültige hält, während die weibliche Form das Besondere kennzeichnet, überhaupt kein Humbug. Es ist ja schlicht falsch, daß Frauen immer mitgemeint seien. »Die Hälfte der Flüchtlinge hat in der Heimat eine Frau und Kinder zurückgelassen« las ich neulich in einer Zeitung – das Problem erschöpft sich also nicht am Phänomen der grammatikalischen Endungen. Wir Frauen kennen das: Von klein auf haben wir geübt zu unterscheiden, ob wir mitgemeint sind oder nicht. Wenn wir einen solchen Satz lesen, dann glauben wir keine Sekunde, daß die Hälfte der Flüchtlinge lesbisch sei. Das ist keineswegs ein Defizit in unserem Denken, sondern eine Fähigkeit, die wir schätzen sollten.
Männern geht diese Fähigkeit zur Unterscheidung meistens ab: Sie glauben, sie seien immer gemeint. Es fällt ihnen (wie zum Beispiel dem Autor des zitierten Textes) schwer, zu unterscheiden, wann von ihnen als Männern die Rede ist, und wann von Menschen allgemein. Sie glauben, das sei dasselbe, womit sie sich natürlich irren. Wenn ein Mann gegen inklusive Sprache polemisiert, so meine Erfahrung, dann tut er es selten aus Frauenfeindlichkeit, sondern weil er tatsächlich nicht in der Lage ist zu verstehen, was das bringen soll.
Nun ist es aber so, daß auch immer mehr Frauen genervt sind vom großen I und von den Schrägstrich/-innen. Und das ist ein Phänomen, das man ernst nehmen sollte. Wenn Journalistinnen, Managerinnen oder Schülerinnen keine Lust mehr haben, ihr Selbstbewußtsein per Sprachakrobatik zu demonstrieren, dann ist feministischer Dogmatismus fehl am Platz. Die meisten von ihnen stellen die inklusive Sprache ja nicht grundsätzlich in Frage, sondern sind einfach nur von den immer gleichen Debatten gelangweilt und wollen sich mit wichtigeren Dingen beschäftigen. Ich finde, das ist ihr gutes Recht.
Außerdem: Wenn jeder farblose Politiker per Computerknopfdruck die weiblichen Formen in seine Reden hineinredigieren läßt, dann ist da kaum noch widerständiges Potential zu erwarten. Viele Männer scheinen doch heute davon auszugehen, mit ein bißchen Sprachkosmetik sei die »Frauenfrage« erledigt. Sie reden zwar von Zuhörerinnen und Zuhörern, aber sie meinen nach wie vor nur sich selbst. Daß jemand heutzutage inklusive Sprache benutzt, heißt noch lange nicht, daß er verstanden hat, was das bringen soll. Ich glaube, auch deshalb sind viele Frauen von diesem Spektakel gelangweilt: In vielen Fällen bringt’s nämlich tatsächlich nichts.
Eine politisch korrekte Sprache kann das Bewußtsein nicht nur schärfen, sondern auch vernebeln. Es gibt daher keine endgültige Antwort auf die Frage, ob inklusive Sprache notwendig ist, oder nicht. Wichtig ist es, das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren: Durch die Benutzung weiblicher Endungen sollte doch deutlich werden, daß es nicht einfach Menschen gibt, sondern daß sie immer nur in der Variante Frau oder in der Variante Mann vorkommen. Und daß es notwendig ist, sich beim Sprechen oder Schreiben klar zu machen, von wem die Rede ist und von wem nicht – und wo man selbst dabei steht. Diesem Ziel ist inklusive Sprache meistens förderlich. Aber eben nicht immer, und schon gar nicht ist sie eine Gewähr dafür, auch wirklich etwas zu erreichen.
in: Evangelische Kirchenzeitung, 1998