Individualität und Solidarität.
Unterschiede zwischen Frauen als Basis weiblicher Politik
Vortrag am1.9.2010 in der TuBF-Frauenberatung Bonn
Soziale Bewegungen haben sich meist unter dem Banner der Solidarität organisiert. Auch die Frauenbewegung der 1970er Jahre versuchte – nach dem Motto »Gemeinsam sind wir stark« – ein Sprachrohr für die Interessen von Frauen zu sein.
Heute steht dieser Ansatz in Frage. Gibt es denn »die Frauen« überhaupt? Und wer sind die Gegner? Die Männer? Das System? Oder die doofen Frauen?
Jüngere Frauen verstehen sich nicht mehr als Opfer einer männlichen Vormacht. Sie sind bereits in einer Welt aufgewachsen, in der Gleichberechtigung der Geschlechter als Selbstverständlichkeit gilt – wenn auch vielleicht nicht in der Realität, so doch in der Theorie – und haben kaum mit direkten Diskriminierungen zu tun.
Unter dem Label »Queer« werden außerdem Geschlechtsidentitäten grundsätzlich in Frage gestellt. Der Bezug auf das eigene Frausein als Maßstab für Solidarität ist fraglich geworden. Sind »Männer« und »Frauen« nicht nur soziale Konstrukte, die wir hinterfragen müssen?
Auch Differenzen zwischen Frauen entlang von sozialer oder kultureller Herkunft treten stärker in den Vordergrund. Was hat die albanische Putzfrau ohne legalen Aufenthaltsstatus gemeinsam mit der Oberstudienrätin, deren Wohnung sie sauber hält? Was die Verkäuferin an der Lidl-Kasse mit der Managerin, die es wegen männlicher Seilschaften nicht auf den Vorstandsposten schafft?
Italienische Feministinnen aus dem Mailänder Frauenbuchladen haben der Vorstellung von einem solidarischen »Wir« der Frauen schon vor zwanzig Jahren eine Absage erteilt. In ihrem 1989 auf Deutsch erschienenen Buch »Wie weibliche Freiheit entsteht« entdecken sie die Grundlage weiblicher Freiheit nicht in einem gemeinsamen »Wir« der Frauen, in der Solidarität also, sondern vielmehr in der sexuellen Differenz, worunter sie die Unterschiedlichkeit der Frauen verstehen. Die Freiheit der Frauen, so ihre These, entsteht nicht aus Rechten, die Frauen mit den Männern gleichstellen, sondern aus weiblicher Autorität, also aus den konkreten Beziehungen zwischen Frauen, die gerade aus ihren Unterschieden den Hebel für gesellschaftliche Veränderung machen.
Ich möchte das an einigen Beispielen zur Diskussion stellen.
Als letztes Jahr das 90. Jubiläum des Frauenwahlrechts zu feiern war, lud Angela Merkel zu einem großen Staatsakt ein und ließ sich letztlich als erste Frau in ihrem Amt und als Vorkämpferin der Frauen feiern. Darf sie das? Obwohl sie doch gar keine feministische Politik macht?
Es ist eine heikle Frage. Denn wir erfolgreiche Frauen wie Angela Merkel auf Frauensolidarität verpflichten, sprechen wir ihnen letztlich ihre Eigenwilligkeit ab und reduzieren sie darauf, ihr Geschlecht repräsentieren zu sollen. Andererseits: Wenn Frauen einfach nur Individualistinnen sind, wäre von ihrer Gleichstellung keinerlei Impuls für eine bessere Welt zu erwarten.
Die Frauenbewegung schwankt daher zu Recht zwischen diesen beiden Polen, auch wenn sie sich zu widersprechen scheinen. Einerseits freuen wir uns darüber, dass wir mit Angela Merkel eine Bundeskanzlerin haben. Andererseits ärgern wir uns über ihr fehlendes frauenpolitisches Engagement.
Man könnte sagen, dass wir da unlogisch sind, aber das stimmt nicht. Die Gegenüberstellung von weiblicher Individualität und weiblicher Solidarität wäre ja nicht der erste falsche Dualismus, den der Feminismus überwindet.
Also: Wie können wir von Angela Merkel und anderen einflussreichen Frauen etwas erwarten und einfordern, ohne sie auf eine bestimmte Vorstellung davon zurechtzustutzen, was eine Frau tun und zu meinen hat?
Die Frage ist relativ neu, es ist eine Frage, die sich erst mit erfolgreicher Gleichberechtigung stellt. Denn solange Frauen rechtlich aus allem Möglichen ausgeschlossen waren, ging es darum, Diskriminierung erst einmal abzuschaffen. Das ist erreicht.
Und jetzt erst stellen sich die Frage: Was wollen wir eigentlich mit dem gewonnenen Einfluss anfangen? Welchen Sinn sehen wir in unserer Gleichberechtigung? Geben wir uns damit zufrieden, jetzt alles das zu dürfen, was früher nur den Männern erlaubt war? Oder war da nicht noch mehr?
Es gibt im Allgemeinen zwei Antworten auf diese Frage, mit denen ich beiden nicht einverstanden bin.
Die einen sagen – vor allem viele jüngere Frauen, die oft gar nicht mehr wissen, wie radikal gesellschaftskritisch die Feministinnen in den 70er Jahren waren: Ja, mit der Gleichberechtigung ist es getan. Jetzt machen wir jede für uns, was wir wollen, feste Unterschiede zwischen Frauen und Männern gibt es sowieso nicht, das ist alles nur Klischee.
Das Problem an dieser Auffassung ist, dass sie sehr angepasst ist. Wer so argumentiert, akzeptiert letztlich die Regeln des männlichen Spiels und begnügt sich damit, mitspielen zu dürfen. Denn nur dadurch, dass Frauen irgendwo anwesend sind, ändert sich nicht automatisch etwas. Das ist eine Lehre, die wir aus drei Jahrzehnten Gleichstellung wohl ziehen müssen: Die meisten Regeln des Patriarchats – denken wir nur an den Bereich der Wirtschaft – haben größtenteils auch ohne klare Frauendiskriminierung weiter Bestand.
Bärbel Wartenberg-Potter, die acht Jahre lang Bischöfin der evangelischen Kirche in Nordelbien war, hat vor einiger Zeit bei einem Vortrag eine sehr ernüchternde Bilanz gezogen. Sie habe als Bischöfin über weite Strecken ein Spiel mitgespielt, dessen Regeln nicht von ihr waren, und der Mainstream sei auch in Institutionen, die sich wie die evangelische Kirche klar zur Gleichheit der Geschlechter bekennen, nach wie vor männlich.
Sie erinnere daran, was eigentlich das feministische Anliegen beim Aufbruch der Frauen in die Institutionen war: »Wir wollten nicht ein größeres Stück vom Kuchen, wir wollten einen anderen Kuchen.« Das ist bisher nicht gelungen, oder noch nicht genug, jedenfalls für meinen Geschmack.
Was aber genau ist jener andere Kuchen, den die Feministinnen wollten? Viele Frauen, zum Beispiel aus der Matriarchatsbewegung, sprechen von einer dezidiert »weiblichen« Politik, worunter sie eine radikalen Gegenentwurf zu der Politik der Männer sehen.
Aber was soll das sein, eine »weibliche« Politik? Kennen wir nicht inzwischen alle Frauen, die, wenn sie erst einmal zu Amt und Einfluss gekommen sind, dieselben negativen Verhaltensweisen an den Tag legen, die wir an Männern immer kritisiert haben? Offenbar liegt das »Weibliche« nicht in einem gut geschützten genetischen Tresor, sondern steht zur Disposition. Frauen können genauso sein wie Männer.
Die weibliche Differenz ist nur MÖGLICHERWEISE eine Dissidenz im Bezug auf die männliche Ordnung. Sie ist keineswegs in den Genen oder Gehirnströmen von Frauen oder in einem ominösen »weiblichen Wesen« verankert, sondern eine Frage der Kultur und damit veränderbar. Es besteht also die Möglichkeit, und dafür gibt es inzwischen ja auch zahlreiche Beispiele, dass Frauen, die sich den Spielregeln anpassen, am Ende gar kein Bedürfnis mehr danach haben, sie zu verändern, weil es ihre eigenen geworden sind. Wenn wir uns also nur lange genug darauf trainieren, können wir definitiv genauso werden wie Männer. Die weibliche Dissidenz, wenn wir denn auf sie Wert legen, muss kultiviert werden.
Das Problematische an der Hoffnung auf eine »weibliche Politik« ist aber nicht nur, dass die Alltagserfahrung ihr oft widerspricht, sondern viel grundsätzlicher. Dieser Gedanke widerspricht nämlich auch der weiblichen Freiheit.
Ina Praetorius hat das kürzlich in einem Kommentar für unser Internetforum »Beziehungsweise weiterdenken« schön formuliert. Darin kritisiert sie einen Vortrag, den Christa Mulack im Mai bei einem »Göttinnenkongress« gehalten hat, und schreibt:
»Und wieder dieses Gefühl, das mich nach jeder Lektüre eines matriarchal orientierten Textes ankommt: ich falle aus einer Norm in die andere. Statt männlich zu werden, soll ich jetzt der Welt zu heilsamer Rundheit verhelfen… Ich bin aber nicht rund, sondern frei. Ich rette nicht die Welt durch weibliche Vollkommenheit, sondern gehe befreit und neugierig und kritisch und zuversichtlich einer unbekannten Zukunft entgegen. Das matriarchal orientierte Denken bleibt in Anti-Dualismus stecken. Ich habe Lust, das dualistische Wahrnehmen und Bewerten als solches zu überschreiten, indem ich es erstmal aus Liebe zur Freiheit durcheinander werfe. Vielleicht, wer weiß, entsteht aus dem fröhlichen Durcheinander dann irgendwann eine neue Ordnung, die nicht ich mache, sondern…«
Auch ich bin der Meinung, dass die Zukunft für die Frauenbewegung nicht darin liegt, einen bestimmten feministischen Inhalt anzustreben, von dem wir jetzt schon wüssten, was er ist, sondern im Gegenteil darin, auf nichts mehr festgelegt zu sein. Weder auf die alten patriarchalen Normen, die von Frauen dieses oder jenes erwarteten, aber auch nicht auf irgendwelche weiblichen Normen, die ein klarer Gegenentwurf dazu wären.
Wie können wir das denken und auf den Begriff bringen?
Ich finde hier den Begriff des Begehrens sehr hilfreich, den die Italienerinnen stark gemacht haben. Das ist der Maßstab dafür, ob das, was eine Frau tut in Zeiten wie diesen, in denen ihr – zumindest hier bei uns – mehr Möglichkeiten offen stehen als jemals in der Geschichte, in einem feministischen Sinn befreiend ist. Folgt eine Frau ihrem Begehren? Oder versucht sie, irgendwelche Normen und Erwartungen zu erfüllen? Wessen auch immer?
Im Bezug auf Angela Merkel wäre also die interessante Frage nicht: Tut sie etwas für die Frauen oder nicht? Sondern: Tut sie als Bundeskanzlerin das, was sie selbst will oder tut sie das, was andere von ihr erwarten oder was sie glaubt, tun zu müssen?
Diese Frage können wir natürlich nicht nur an Angela Merkel stellen sondern an alle Frauen in einem öffentlichen Amt und vor allem natürlich erstmal an uns selber. Wie ist das denn bei uns: Bringen wir in den Ämtern, die wir haben und in den Organisationen, in denen wir uns engagieren, oder auch in der Familienarbeit, unsere persönliche Subjektivität und unser eigenes Begehren ein? Oder passen wir uns lediglich den Erwartungen anderer an und bemühen uns, professionell und effizient im Rahmen einer vorgegeben Ordnung zu sein?
Das ist aber nicht nur eine individuelle Frage. Als Feministin geht es mir auch um die Frage nach den Bedingungen, unter denen Frauen ihre eigenen Wünsche und Vorstellungen in die Welt tragen können oder eben daran gehindert werden. Was befördert das weibliche Begehren, die weibliche Freiheit? Und was behindert es?
Begehren ist dabei nichts, was sich leicht definieren ließe. Ich zum Beispiel weiß nicht, ob Angela Merkel in ihrer Politik ihrem eigenen Begehren folgt oder nicht. Im Fernsehen sieht man ihr das nicht an. Ehrlich gesagt weiß ich das auch von mir selbst manchmal nicht, o ich meinem Begehren folge. Vielleicht will ich auch nur euch gefallen, damit ihr mir applaudiert und mich wieder einladet?
Das weibliche Begehren wichtig zu nehmen, ist eher ein experimenteller Weg: Zu beobachten, was Frauen tun, was wir tun, was uns wichtig ist, welche Schwerpunkte wir setzen. Die These der Italienerinnen ist, dass das Begehren noch eine andere Seite braucht, ein Gegenüber, um in die Welt kommen zu können, nämlich weibliche Autorität: Ich brauche die Beziehung zu anderen Frauen, um meinem Begehren in der Welt folgen zu können.
In dem Nachdenken darüber, was mein Begehren ist, in Gesprächen über die Erfahrungen, die ich und andere Frauen damit machen, hat sich gezeigt, dass das weibliche Begehren nicht wie der so genannte freie Wille etwas Vereinzeltes ist, sondern eher eine Bewegung, die eine Beziehung herstellt zwischen der einzelnen Frau, anderen Frauen, die ihr wichtig sind, der Welt, so wie wir sie vorfinden und der Welt, so wie sie gut wäre.
Diese Vermittlungsarbeit ist notwendig, denn wir leben in einer Welt, die auf das Begehren der Frauen nicht gewartet hat. In den Debatten über die »Gleichstellung« der Frauen wird ja im Allgemeinen ganz offen ihre Anpassung an die männliche Ordnung gefordert, nach dem Motto: Man muss das Spiel erst einmal mitspielen, um es dann möglicherweise zu verändern. Es gibt einen sehr starken Druck auf die Frauen, sich zu assimilieren. Wenn das nicht gelingt, wird das normalerweise als Problem angesehen: Die Frauen sind selbst schuld, wenn sie sich mit Kindern »belasten« und ihre Karriereoptionen dadurch vernachlässigen, zum Beispiel. Es gibt viele Themen, an denen wir das jetzt durchdeklinieren könnten.
Damit sich das subjektive Wünschen und Wollen einer Frau Bahn schaffen kann und sie nicht dem Konformitätsdruck der Welt, so wie sie sie vorfindet, unterliegt, braucht sie einen anderen Maßstab als den, den diese Welt ihr anbietet. Eine andere symbolische Ordnung, einen Haltepunkt, eine Unterstützung, und die kann sie nur in der Beziehung zu einer anderen Frau, zu weiblicher Autorität, finden. Beziehungen unter Frauen, in denen weibliches Begehren und Autorität zirkulieren, sind der Ort, der für die sexuelle Differenz einen symbolischen Maßstab schafft.
Oft sind es zum Beispiel andere Frauen, Freundinnen, die mich gut kennen, die mich darauf hinweisen, dass mein Begehren nicht mehr im Spiel ist. Die mich fragen, ob mir das wirklich Spaß macht, was ich mache, ob ich mit dem Herzen dabei bin. Ob ich es sinnvoll finde. Oder die mich ermutigen, etwas zu versuchen und anzupacken, auch wenn das vielleicht »unvernünftig« erscheint, weil sie sehen, dass es mir wichtig ist. Oder die etwas von mir erwarten und Ansprüche an mich stellen, weil sie mir etwas zutrauen. Oder die mir sagen, wenn ich irgendwo mit dem Kopf durch die Wand will und mich an falschen Fronten verkämpfe.
Ich mache damit seit vielen Jahren gute Erfahrungen. Wenn ich zum Beispiel ein Buch schreibe oder einen Vortrag wie diesen, dann überlege ich nicht, ob sich das wohl gut verkaufen wird oder ob ich damit zu Talkshows eingeladen werde, sondern was die Frauen, mit denen ich durch politische Beziehungen verbunden bin und deren Rat ich schätze, dazu sagen würden. Über Mailinglisten, Internetforen, regelmäßige Treffen oder einfach auch den direkten Austausch binde ich meine Überlegungen an ihr Urteil, das heißt, ich spreche ihnen Autorität zu. und das gibt mir Rückendeckung und Selbstsicherheit, um meine Thesen und Ideen auch dann zu vertreten, wenn ich mich vor großem Publikum damit vielleicht unbeliebt mache.
Im Bezug auf die Eingangsfrage, ob es bei feministischer Politik um weibliche Individualität oder Solidarität geht, wäre also zu sagen: Weder noch. Es geht in erster Linie um die Beziehungen unter Frauen. Eine Beziehung stellt eine Verbindung zwischen zwei Menschen her und geht insofern über die Individualität der Einzelnen hinaus. Trotzdem ist sie nicht gleichzusetzen mit Solidarität, weil ich eine Beziehung nicht aufgrund einer abstrakten Gleichheit eingehe, sondern aufgrund eines persönlichen Interesses – nicht an den Frauen generell, sondern an dieser Frau.
Mit dieser politischen Praxis steht stehen die Unterschiede zwischen Frauen im Zentrum der Politik. Damit ist aber mehr gemeint als das, was heute unter dem Stichwort »Diversity« diskutiert wird. Es geht nicht nur darum, dass es Frauen mit unterschiedlichen sozialen, kulturellen, finanziellen, religiösen Hintergründen gibt, die sich gegenseitig bereichern sollen.
Viel wichtiger ist noch, dass Frauen als Individuen ganz unterschiedliche Wünsche und Absichten, Ansichten und Begehren haben. Sie sind eben nicht nur qua Herkunft, also gewissermaßen ohne eigenes Zutun, unterschiedlich, sondern sie unterscheiden sich auch aktiv voneinander. Unterschiede unter Frauen haben ihre wesentliche Ursache nicht in »Diversity«, sondern in weiblicher Subjektivität. Ich will etwas anderes als du. Und doch hat unser Frausein dabei eine Bedeutung.
In einer Beziehung von Begehren und Autorität wird die Differenz unter Frauen nicht als Problem angesehen, das ihre Solidarität behindert, sondern zum Hebel für mehr weibliche Freiheit. Die Italienerinnen haben dafür das Wort »Affidamento« benutzt, das in etwa so viel heißt wie »sich anvertrauen« und in der deutschen Übersetzung des Buches unübersetzt geblieben ist. Gemeint ist eben, dass eine Frau sich mit ihrem Begehren der Autorität einer anderen Frau »anvertraut« und dadurch frei wird, in der Welt zu handeln. Begehren und Autorität, so die Italienerinnen, sind die beiden Aspekte, auf die es in der Beziehung zwischen zwei Frauen ankommt, und nicht ihre gemeinsamen Interessen oder ihr gemeinsames Opfer-Sein. Die Unterschiede zwischen Frauen sind der Hebel zu mehr Freiheit, wenn sie sich zueinander in Beziehung setzen.
Zwei Beispiele: Als ich anfing, meine Dissertation zu schreiben, wollte ich die politischen Ideen von Sozialistinnen im 19. Jahrhundert untersuchen und dabei sozusagen ein alternatives, »weibliches« Konzept von Sozialismus erforschen. Ich hatte also die Haltung der weiblichen Solidarität eingenommen: Ich verhelfe den ungehörten Worten der Frauen zu Sichtbarkeit und arbeite eine weibliche Gegenposition zum männlichen Sozialismus à la Marx und Co. heraus. Nachdem ich mich mit den Quellen vertraut gemacht hatte, musste ich allerdings feststellen, dass es eine solche gemeinsame weibliche Position nicht gab. Die Frauen waren sich schlicht und ergreifend nicht einig, und außerdem hatten sie teilweise auch noch Ansichten, mit denen ich wiederum gar nicht einverstanden war. Was sollte ich nun also schreiben? Die Theorie des Affidamento bot mir einen Ausweg: Ich begann, die Streitpunkte zwischen diesen Frauen genauer zu untersuchen – und ließ die Frage ganz beiseite, wie sich das nun zu den Männern verhält oder nicht. Und das wurde dann sehr interessant.
Ein zweites Beispiel: Vor einiger Zeit nahm ich an einer Konferenz zum Grundeinkommen teil. Es waren etwa 40 Personen da, davon vielleicht 6 oder 7 Frauen. Die Diskussionen fand ich sehr langweilig, sie drehten sich hauptsächlich um Finanzierungskonzepte und die Frage, wer bei der Bewegung mitmachen darf und wer nicht. Ein oder zweimal habe ich auch etwas gesagt. Es ging niemand weiter darauf ein, aber als ich in der Pause aufs Klo ging, kam eine der anderen Frauen auf mich zu und sagte, sie hätte ja gerne mit mir über meine These diskutiert, die sie falsch finde. Aber sie habe mich nicht öffentlich kritisieren wollen, weil wir Frauen angesichts der Männerdominanz auf dieser Konferenz doch solidarisch sein sollten. Ich finde, das war ein Fehler: Hätten wir unsere Themen, also unseren Konflikt miteinander öffentlich gemacht – und zwar als einen Konflikt unter Frauen – dann wäre die ganze Konferenz vielleicht weniger langweilig und ertragreicher gewesen.
Indem wir also bei unserem öffentlichen Sprechen die Wichtigkeit dessen, was eine andere Frau sagt, herausstellen und gleichzeitig unsere Differenz zu ihr sichtbar machen, erweitern wir den Spielraum für die Freiheit der Frauen, schaffen Raum für weibliche Subjektivität, und zwar ohne uns dem männlichen Konzept von autonomer Subjektivität anzupassen und ohne die Bezogenheit zum Frausein selbst aufzugeben.
Dieser Gedanke, dass Freiheit nicht aus Autonomie, sondern aus einer Beziehung heraus entsteht, ist natürlich der westlich-männlichen Philosophie, die letzten Endes ja auch unsere ist, denn wir sind in dieser Kultur aufgewachsen, vollkommen entgegengesetzt. Üblicherweise denken wir Beziehungen nicht als Grundlage von Freiheit, sondern Freiheit wird im Gegenteil als Loslösung des Subjekts von den Beschränkungen durch Beziehungen verstanden, nach dem Motto: Meine Freiheit endet da, wo sie die Freiheit der anderen beginnt. Das Höchste, wozu wir uns aufraffen, ist Toleranz und das Zugestehen gleicher Rechte. Zu denken, dass das Anderssein der anderen die Basis meiner Freiheit bildet – das steht völlig quer zu unserer Kulturgeschichte und schon gar im Bereich der Politik, wo wir es ja mit Parteien und Fraktionen zu tun haben, gegen die wir uns profilieren müssen und wo also jedes Eingehen auf die Anderen als Schwäche interpretiert wird.
Auch dazu noch ein Beispiel: Ich bin befreundet mit einer Frau aus Bosnien, die wegen des Bürgerkriegs nach Deutschland gekommen ist und sich heute für bessere Chancen von Kindern aus Zuwanderungsfamilien engagiert. Sie ist eine Kritikerin von »Multikulti«, kritisiert den Islam – ihre eigene Religion – als frauenfeindlich und fordert Migranten und Migrantinnen auf, sich in die deutsche Gesellschaft zu integrieren. Ich hingegen finde, dass gerade die angeblich so schlimme »Frauenunterdrückung« im Islam häufig nur als Pseudoargument benutzt wird, um von der Nicht-Anerkennung weiblicher Freiheit im Westen abzulenken, und bin besorgt über eine sich ausbreitende Islamfeindlichkeit. Ich denke, Sie erkennen in diesen beiden Positionen einen gegenwärtig sehr diskutierten politischen Konflikt wieder.
In der Logik der Partei- und Standpunktpolitik könnten meine bosnische Freundin und ich uns nun auf den entgegen gesetzten Seiten dieser Front einrichten und uns wechselseitig vorwerfen, unfeministisch zu sein oder überhaupt eine falsche Meinung zu haben. Aber indem wir uns zueinander in eine Beziehung setzen, heben wir diese ganze Auseinandersetzung auf eine andere Ebene. Wir interessieren uns nämlich wirklich für die Argumente und Einwände der anderen, auch und gerade, wenn wir sie nicht teilen.
Wenn jemand von den üblichen Verdächtigen islamfeindliche Anfälle bekommt, irritiert mich das nicht. Es ist das, was ich von diesen Leuten erwarte, und es bestärkt mich eher in meinem Urteil. Aber wenn meine Freundin die Multikulti-Szene kritisiert, ist das anders. Denn ich halte sie für klug, und vor allem weiß ich, dass sie sich wirklich um die Welt und diese Gesellschaft sorgt und nicht nur auf einer zeitgeistigen Strömung mitschwimmt. Sie bringt mich dazu, meine eigene Meinung zu überdenken und damit auch zu verbessern. Sie kann mir also gerade, weil sie eine andere Meinung hat als ich, in meinem Begehren helfen, eine Lösung für die Herausforderungen der Interkulturalität zu finden. Was im Übrigen keineswegs bedeutet, dass wir am Ende doch einer Meinung sind. Die Differenzen bleiben meistens bestehen, aber sie verändern sich, weil das Zirkulieren von Begehren und Autorität Neues hervorbringt.
Es geht bei »Affidamento« also nicht bloß darum, dass Frauen sich untereinander fördern, dass sie aufmerksam sind für die weibliche »Diversity«, dass sie Netzwerke bilden und ihre unterschiedlichen Ressourcen kombinieren. Sondern es geht um den sehr revolutionären Gedanken, dass Freiheit nur möglich ist, wenn ich eine Beziehung habe zu einer, die wirklich anders ist als ich. Es geht immer auch um einen Konflikt. Autorität erkennen wir daran, dass ich das, was eine Frau sagt, wichtig und hilfreich finde, obwohl ich ihr nicht zustimme. Nur diese Differenz ermöglicht es mir nämlich, Neues zu entdecken, aus vorgegebenen Denkmustern und Bahnen auszubrechen – Freiheit also.
Eine solche Beziehung, in der weibliches Begehren und weibliche Autorität aufeinandertreffen, ist niemals abstrakt, sondern immer konkret. Sie lässt sich nicht herstellen, einklagen oder einfordern. Sie ist da oder sie ist nicht da – worauf es ankommt, ist dass wir sie erkennen und arbeiten lassen, dass wir sie wertschätzen, und vor allem unserem Begehren auf der Spur bleiben. Autorität kann im Übrigen auch in Gruppen »zirkulieren«. In Gesprächen können Worte von Autorität fallen, die aber immer nur von derjenigen als solche wahrgenommen werden, die ein entsprechendes Begehren hat. Autorität ist immer von der Situation, vom Kontext abhängig, sie muss immer wieder neu in einer Beziehung begründet werden, sie kann sich nicht in Rangabzeichen oder Titeln festschreiben.
Das ist übrigens auch der große Unterschied zwischen Autorität und Macht. Macht ist abhängig von der Mehrheit. Sie gerinnt in Positionen und Status. Macht kann man einklagen, sich auf sie berufen. Autorität hingegen braucht keine Mehrheiten. Sie braucht nur die Beziehung zwischen zwei Frauen. Deshalb macht Autorität auch von der Macht unabhängig – ich kann zum Beispiel einer Frau Autorität zusprechen, die von der Mehrheit überhaupt nicht anerkannt ist, die aber Antworten auf mein Begehren hat, die mir hilft, mit meinen Wünschen und Absichten in der Welt zu handeln. Und so kann Autorität die Macht aushebeln – im Übrigen ganz konkret. Die originellsten weiblichen Denkerinnen kommen nämlich im Allgemeinen keineswegs aus den Institutionen – ich denke nur an Dorothee Sölle, die wohl die wichtigste und einflussreichste deutsche Theologin der Nachkriegszeit war und niemals einen Lehrstuhl an einer deutschen Uni hatte. Ich selbst mache jedenfalls die Erfahrung, dass die interessantesten Ideen und Diskussionen nicht an den Unis oder in den Zeitungen oder in den Fernsehtalkshows stattfinden, sondern anderswo.
Dieses Konzept der vom eigenen Begehren getragenen Differenzbeziehungen als Grundlage von Politik ist weiblich, insofern es Frauen sind, die es entwickeln und verbreiten. Aber es ist natürlich ein allgemeines Konzept, das letzten Endes Antworten auf die Pluralität des Menschseins gibt. Es schlägt vor, den Raum des Politischen nicht länger als Ansammlung von Individuen zu verstehen, die ihre jeweiligen Interessen gegeneinander durchzusetzen versuchen und sich daher zu Parteien vereinigen, um in diesem Krieg der Meinungen schlagkräftiger zu werden, sondern als einen Ort, an dem an dem Pluralität verhandelt wird. An dem es nicht um Macht und Lobbyismus geht, sondern um das allgemeine Wohl. An dem es möglich ist, Differenzen und Konflikte offen auszutragen, also weder unter den Teppich zu kehren, noch für eine unüberwindliche Mauer zu halten.
Nur in konkreten Beziehungen kann das gelingen. Sie überwinden den unfruchtbaren Streit zwischen Universalismus und Relativismus, zwischen Moderne und Postmoderne, mit dem sich die männliche Philosophie schon so lange herumschlägt, und zwar im Begriff der Relativität, des sich-in-Beziehung-setzens. Ich kann nur dann hoffen, jemanden von meinen Ansichten zu überzeugen, wenn ich zunächst einmal offen bin für das, was er oder sie gerade an anderem zu sagen hat. Einen Dialog kann ich nur führen, wenn ich bereit bin, meine eigenen Positionen aufs Spiel zu setzen – aber genau dann ist er eben auch möglich, und es besteht eine gute Chance, dass am Ende alle dazu gelernt haben, auch wenn sie sich vermutlich niemals ganz einig werden.
Wenn ich, eine Frau, öffentlich spreche und auftrete, dann spreche ich jedenfalls nicht »als Frau«, als Repräsentantin einer bestimmten Gruppe, sondern ich spreche als ich, als Antje Schrupp. Aber um zu verstehen, was ich sage, ist es keineswegs unerheblich zu sehen, dass ich eine Frau bin, denn das bedeutet, dass die Maßstäbe, die eine männliche symbolische Ordnung für das öffentliche Auftreten eines Mann-Menschen vorgibt, nicht meine Maßstäbe sind.
Diese Praxis der Differenzbeziehungen unter Frauen sind auch ein möglicher Ausweg für ein Problem, über das ich seit einiger Zeit nachdenke und das ich einmal als »Wiedervermännlichung der Welt« beschrieben habe.
Die Männer sind heutzutage ja durchaus bereit, uns größere Stücke von ihrem Kuchen abzugeben, solange bloß die Rezepte dieselben bleiben. Aber die Phase, in der Frauen mit Begeisterung beweisen wollten, dass sie alles Mögliche »auch« können, sind längst vorbei. Es stellt sich heute verstärkt die Frage, ob sie das auch wollen. Und immer mehr Frauen beantworten diese Frage für sich mit nein. Sie bleiben weg, und die Männer machen so weiter wie bisher und es scheint ihnen überhaupt nichts zu fehlen. Im Gegenteil, die alten männlichen Institutionen haben mehr Legitimation denn je, denn Frauen dürfen ja mitmachen. Die Gefahr ist groß, dass sich auf diese Weise unsere westlich-moderne Welt wieder »vermännlicht«, und zwar gerade auf der Grundlage der angeblich durchgesetzten Gleichheit und Emanzipation der Frauen.
Ich halte das für gefährlich, und zwar vor allem gefährlich für die Welt, der diese ständigen Überdosen Männlichkeit überhaupt nicht gut tun. Aber wir können das Problem nicht lösen, indem wir an die Frauen appellieren, sich doch für die gute Sache aufzuopfern und zum Beispiel zu kandidieren und sich durchzubeißen, auch wenn sie danach gar kein Begehren haben. Sinnvoller finde ich, dieses ganz offensichtliche Fehlen des weiblichen Begehrens im Bezug auf das, was Männer für bedeutsam halten (die Posten, das große Geld, den Status, die Herrschaft über andere) offen zu benennen und für bedeutsam zu erklären.
Ein Politikverständnis, so wie ich es hier zu beschreiben versuchte, könnte vielleicht diesem Trend begegnen: Wenn ich mein eigenes Begehren an weibliche Autorität binde, also an konkrete andere Frauen mit denen ich in Beziehung bin, dann bin ich handlungsfähig, auch in schwierigen Umständen. Ich bin frei von den Mehrheitsmeinungen der Welt, ohne dadurch aber orientierungslos und auf mich allein gestellt zu sein. Und das ist der erste Schritt, um angesichts der Tatsache, dass es diese Machthaber und Mehrheitsmeinungen nun einmal gibt, überhaupt sinnvoll handeln zu können.
Indem wir unser Begehren nicht an die Anerkennung der Mächtigen, sondern an die Autorität anderer Frauen binden, gewinnen wir außerdem auch die Verhandlungsstärke, die wir dringend brauchen, um die Auseinandersetzungen mit der männlichen Ordnung durchzustehen – und solche Auseinandersetzungen sind unvermeidlich. Die Hoffnung vieler junger Feministinnen, dass das Verhältnis zu den Männern eigentlich gar nicht konfliktreich sei, weil wir doch alle an einem gender-egalitären Strang ziehen, halte ich nämlich für eine Illusion. Meiner Erfahrung nach sind harte und anstrengende Konflikte mit der gegebenen Ordnung unausweichlich, wenn eine Frau ihrem Begehren folgt. Was natürlich nicht heißt, dass es nicht auch Männer gibt, die an unserer Seite stehen.
Die Freiheit der Frauen, unsere Freiheit, hängt jedenfalls nicht von äußerlichen Rechten oder Rahmenbedingungen ab, sondern davon, ob wir einen Weg finden, die Welt nach unseren Wünschen zu gestalten. Sie muss uns nicht von irgendwem gegeben oder zugestanden werden, sondern sie ist schon da, in der Stärke unseres Begehrens und in der Fülle möglicher Beziehungen zu anderen Frauen, die uns etwas voraus haben. Wenn wir das verstehen, können wir die leidige »Frauenpolitik« endlich hinter uns lassen, bei wir qua Geschlecht immer nur Objekte der Politik sind, und uns auf das konzentrieren, worauf es wirklich ankommt: auf eine »Politik der Frauen«, auf weibliche Subjektivität und Dissidenz, auf eine feministische Revolution jenseits der Emanzipation.