Antje Schrupp im Netz

Herr Schmidt aus Omsk, Sibirien

Er ist extrem sympathisch. Weil er dauernd lacht. Weil er lustige Witze reißt, in seinem schwäbelnden Oberhessisch mit russischem Akzent. Weil er jeden Quatsch mitmacht. Zum Beispiel sich mit Schippe und Eimer bewaffnet auf einen Schutthaufen setzen, um fotografiert zu werden.

Was David Schmidt zu erzählen hat, ist gar nicht lustig. Er sagt Sätze wie: »Alleine ginge es mir besser. Dann müsste ich mir keine Sorgen machen, wovon die Familie lebt«. Oder: »Ob ich glücklich bin? Ich war in meinem ganzen Leben noch nicht glücklich«. Sagt es und lacht dabei, weil er sich das so angewöhnt hat: »Ich hab mal irgendwo gehört, für jede Minute, die man lacht, lebt man fünf Minuten länger. Seither lache ich eben.«

David Schmidt ist einer der Menschen, deren Leben vom Lauf der Weltgeschichte durcheinander gebracht wurde. Vor drei Jahren kam er als Spätaussiedler nach Deutschland. Denn dort, wo er aufgewachsen war und sich ein Leben aufgebaut hatte, in einer Kolchose bei Omsk in Sibirien, war zehn Jahre nach der russischen »Wende« nichts mehr so wie vorher. Wie sein Vater und sein Großvater hatte David Schmidt zunächst in der Landwirtschaft gearbeitet, war dann aber Bauarbeiter geworden. Fünf Dörfer gehörten zu seiner Kolchose, vier davon waren fast komplett mit Deutschen bevölkert. Alles ging seinen geregelten sozialistischen Gang – bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion. Korruption breitete sich aus, es gab keinen Lohn mehr, das bisschen private Landwirtschaft reichte kaum zum Leben. Vor allem aber waren irgendwann alle weg: Die Eltern, die Geschwister, die Freunde. Alle im Westen. Dafür kamen Russen aus Kasachstan nach Omsk, die ihrerseits von den nationalistisch gewordenen Kasachen vertrieben worden waren. Moderne Völkerwanderung.

Also packte auch David Schmidt mit Frau und zwei Teenagern die Koffer. Tausend Mark Gespartes, zwanzig Kilo pro Person, der Rest blieb in Sibirien. Irgendwann im 18. oder 19. Jahrhundert sind seine schwäbischen Vorfahren nach Russland ausgewandert. Die meisten siedelten an der Wolga, doch im zweiten Weltkrieg wurden ihre Dörfer zerstört und fast alle Russlanddeutschen nach Sibirien gebracht, zur Strafe, weil das Stalin-Regime sie pauschal der Kollaboration mit den Deutschen beschuldigte. Nun also wieder Aufbruch. Was nimmt man mit, nach fast fünfzig Jahren Leben? Praktisches: Wäsche, Kleidung und Geschirr. Keine Erinnerungen? Fotos? »Wozu denn Erinnerungen?« David Schmidt lacht. »Die Frau hat, glaube ich, ein paar Fotos mitgenommen«.

Eigentlich wollten die Schmidts nach Passau, dort lebt ein Bruder, der hätte beim Neustart helfen können. Aber der Mann im Aufnahmelager Friedland sagte nur: »Wir sind doch kein Reisebüro. Sie kommen nach Alsfeld.« Dreimal erzählt David Schmidt diese Geschichte. Immerhin hat er als Bauarbeiter in Nordhessen Arbeit gefunden, bei der teils kirchlich getragenen Gesellschaft »Neue Arbeit«. Schnell ist er zum Vorarbeiter aufgestiegen, eine »unschätzbare Kraft«, sagt der Chef. Trotzdem wird er den Job Ende des Jahres verlieren, denn dann läuft das Projekt aus. Ob er auf dem freien Markt eine Chance hat? David Schmidt ist fünfzig Jahre alt.

Trotzdem ist Arbeit das einzige, was er sich wünscht. Und er bleibt optimistisch. Für sich, noch mehr aber für die Kinder, die sich hier eine Zukunft aufbauen sollen. Ihnen hat er anfangs verboten, Filme auf russisch zu gucken, damit sie deutsch lernen. »Heute dürfen sie, aber jetzt wollen sie schon nicht mehr«, sagt David Schmidt, und lacht. Und diesmal nicht nur, weil das angeblich das Leben verlängert.


in: Echt, Nr. 3/2003