Verstehen wollen.Hannah Arendt (1906-1975)
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Hannah Arendt und der Feminismus
Biografische Einführung
Hannah Arendt wurde am 14. Oktober 1906 in der Nähe von Hannover geboren, aufgewachsen ist sie jedoch in Königsberg, wohin die Familie bald umzieht. Ihr Vater, Paul Arendt, stirbt früh, als Hannah gerade erst sieben Jahre alt ist. Umso enger ist die Verbindung zu ihrer Mutter, Martha Cohn. In ihr erlebt sie eine politisch aktive, gebildete Frau, die den Wissensdurst und die Eigenwilligkeit ihrer Tochter fördert und unterstützt. Martha Cohn pflegt politische Freundschaften und engagiert sich in sozialdemokratischen Kreisen, und von klein auf erlebt Hannah Arendt eine diskussionsfreudige Kultur. Bücher gibt es zuhause genug, schon mit 14 liest sie philosophische Werke – Kant, Kierkegaard, Jaspers. Auch den deutschen Antisemitismus erlebt Hannah früh: Das Thema wird zuhause nicht tabuisiert, sondern offen diskutiert und durchdacht.
1924 beginnt Hannah Arendt in Marburg ihr Philosophiestudium bei Martin Heidegger, mit dem die 18-Jährige eine Liebesaffäre beginnt. Der damals 35 Jahre alte Professor war in jener Zeit eine Art Shooting-Star der unorthodoxen, neuen Philosophie. Die Affäre zwischen der jungen Studentin und dem verheirateten Familienvater ist so leidenschaftlich wie kurz. Nach einem Jahr geht Hannah Arendt – auf Anraten Heideggers, der seine bürgerliche Existenz nicht beschädigen will – nach Freiburg und ein Semester später nach Heidelberg, wo sie bei Karl Jaspers promoviert. Ihrem Lehrer und Mentor Jaspers verdankt Arendt in ihrem Denken am meisten, die beiden verbindet eine lebenslange Freundschaft. 1929 heiratet sie den philosophischen Schriftsteller Günter Stern, der später unter dem Pseudonym Günter Anders bekannt wird.
Als 1933 die Nationalsozialisten an die Macht kommen, ist Hannah Arendt weder überrascht, noch auch nur eine Sekunde im Zweifel darüber, dass die Situation in Deutschland bald unerträglich sein wird. Günter Stern muss Deutschland sofort verlassen, Arendt bleibt zunächst und wird politisch aktiv. Was ihr zu schaffen macht, sind nicht so sehr die Nazis selbst – Feinde sind eben Feinde. Was sie wirklich entsetzt, ist die Haltung vieler ihrer Studienkollegen. Heidegger ist ja nicht der einzige, der damals den Nationalsozialismus rechtfertigt. »Zu Hitler fiel ihnen etwas ein!« erinnert sich Arendt später, »und zum Teil ungeheuer interessante Dinge! Das habe ich als grotesk empfunden.«
Hannah Arendt engagiert sich in der zionistischen Widerstandsbewegung, geht 1935 zusammen mit ihrer Mutter nach Paris und organisiert dort Unterstützung für Menschen, die vor den Nationalsozialisten fliehen. Sie lernt Walter Benjamin und andere kritische Denker kennen. 1936 trennt sie sich von Günter Stern und verliebt sich erneut – in Heinrich Blücher, einen kommunistischen Exilanten. Dies ist nun wirklich die große Liebe ihres Lebens: Bis zu Blüchers Tod im Jahr 1970 bilden die beiden eine enge und sich gegenseitig bereichernde Lebens- und Denkgemeinschaft.
1940, die Nazis haben Frankreich besetzt, werden Arendt und Blücher interniert, doch beiden gelingt die Flucht und gemeinsam mit Arendts Mutter die Ausreise in die USA, wo sie sich in New York niederlassen. Als sie 1943 von den nationalsozialistischen Vernichtungslagern erfahren, ist das ein Schock. Der Versuch, dieses Unfassbare zu verstehen, steht von nun an im Mittelpunkt von Arendts Denken. Schneller als Blücher gelingt es ihr, im Exil Fuß zu fassen, auch beruflich. Sie schreibt politische Artikel und Kommentare, arbeitet als Lektorin und veröffentlicht 1951 das Buch, mit dem sie bekannt wird: »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft«. Nach Deutschland, das sie 1949 erstmals wieder besucht, will sie nicht zurück, 1951 wird Arendt amerikanische Staatsbürgerin.
Hannah Arendt ist nun eine bekannte Persönlichkeit, sie erhält Lehraufträge und schreibt an ihrem philosophischen Hauptwerk »Vita Activa«, das 1958 erscheint und in dem sie die verschiedenen Weisen des Tätigseins analysiert, mit denen sich Menschen in das »Bezugsgewebe der menschlichen Angelegenheiten«, wie sie es nennt, einknüpfen können. Doch die Aufarbeitung des Nationalsozialismus ist für sie nicht abgeschlossen. Als 1960 in Jerusalem der Prozess gegen den Holocaust-Organisator Adolf Eichmann beginnt, reist sie als Berichterstatterin für den »New Yorker« dorthin. Ihr anschließendes Buch »Eichmann in Jerusalem«, in dem sie die Theorie von der »Banalität des Bösen« entwickelt, bringt sie ins Rampenlicht der Öffentlichkeit: Heftige Angriffe, gerade auch von jüdischer Seite, hat sie zu verkraften.
Auch wenn diese Kontroverse um ihre Person Arendt sehr mitnimmt, bleibt sie ihren Standpunkten treu. Dabei kann sie sich auf wichtige enge Freundinnen und Freunde stützen – neben Blücher und Jaspers ist das vor allem die Schriftstellerin Mary McCarthy. Bis an ihr Lebensende ist Hannah Arendt als Unterrichtende, als Vortragende, als Schreibende aktiv. Sie stirbt am 4. Dezember 1975 an einem Herzschlag.
»Ich will verstehen«
Hannah Arendt ist eine von ganz wenigen Frauen, die im männlichen Kanon der politischen Philosophie ihren Platz gefunden haben. Sie gilt selbst in der männerzentrierten Wissenschaft als ihren männlichen Kollegen völlig ebenbürtig und musste nicht erst rückwirkend von der feministischen Geschichtsschreibung »entdeckt« werden, wie so viele andere Frauen. Vielleicht war gerade das der Grund, warum ich sie erst relativ spät schätzen lernte. Während meines Politikstudiums in den 1980er Jahren stand sie nämlich für mich auf der Seite der »anderen«: Sie war schließlich keine Feministin, schrieb nicht über Geschlechterdiskurse und stand der Frauenemanzipation höchst skeptisch gegenüber – und deshalb glaubte ich, sie sei für mich nicht sonderlich interessant.
In den deutschen und englischen feministischen Texten, die damals in der Frauenbewegung zirkulierten und die mich brennend interessierten, kam Hannah Arendt nicht vor. Vielleicht kein Wunder, hatte sie doch Sätze gesagt wie: »Ich bin eigentlich altmodisch gewesen. Ich war immer der Meinung, es gibt bestimmte Beschäftigungen, die sich für Frauen nicht schicken, die ihnen nicht stehen, wenn ich einmal so sagen darf. Es sieht nicht gut aus, wenn eine Frau Befehle erteilt. Sie soll versuchen, nicht in solche Positionen zu kommen, wenn ihr daran liegt, weibliche Qualitäten zu behalten.
Nein, Hannah Arendt war wirklich alles andere als eine Vorkämpferin derFrauenemanzipation – ein Umstand, und das kam erschwerend hinzu, derdurchaus eine Rolle spielte für ihre Anerkennung seitens der Männer. So schreibt zum Beispiel Joachim Fest: »Ich habe sehr oft bei ihr zu Hause gegessen. Ich erinnere mich: Sie hat Spiegeleier gebraten und gesagt: ‚Das bisschen Haushalt kann doch jeder!’ Sie konnte den ganzen Feminismus nicht verstehen, der damals darüber erhebliche Aufregung machte. Sie war ein Mensch im wirklichsten, wahrsten und vollsten Sinne, den dieser Begriff haben kann. Das hat mich immer ungeheuer beeindruckt.«Doch dass Frauen nur zu »wahren Menschen« aufsteigen konnten, wenn sie ihr Frausein nicht zum Thema machen, leuchtete mir nun ganz und gar nicht ein.
Es war deshalb die Vermittlung einer anderen weiblichen Autorität notwendig, um mein Interesse an Hannah Arendt zu wecken. In meinem Fall waren das die italienischen Philosophinnen und Feministinnen des Mailänder Frauenbuchladens und der Universität Verona, mit deren Denken ich Anfang der 1990er Jahre in Kontakt kam. Immer wieder zitierten sie in ihren Texten Hannah Arendt. Und es waren höchst interessante Zitate! Sollte an ihr doch etwas dran sein?
Ich begann nun, Arendts Texte selbst zu lesen – und war sofort in den Bann geschlagen. Ich kann mich noch an einen Strandurlaub erinnern, in dem ich die ganze »Vita acitva« verschlang, das Buch erschien mir so spannend, dass kein Krimi mithalten konnte. Da war kein gestelztes Bla Bla, kein unverständliches Kauderwelsch, nichts Altbekanntes, sondern vielmehr Denken in höchster Originalität, Wortwitz, eine beeindruckende Kenntnis der Traditionen und unglaubliche Klugheit. Kurz: Ich mutierte in kürzester Zeit zum bekennenden Hannah-Arendt-Fan.
Zurück zu Hause besorgte ich mir das Video des legendären Interviews, das Günter Gaus im Oktober 1964 für das ZDF mit Hannah Arendt geführt hatte. Da war er wieder, der Satz von den Beschäftigungen, die sich für Frauen angeblich nicht schicken. Aber mit welchem Charme, mit welcher Autorität gesprochen! Was für eine Präsenz diese Frau hatte, mit welcher Sicherheit sie ihre Meinung verkündete, einer Sicherheit, die nicht aus Überheblichkeit oder Arroganz herrührte, sondern aus der Tatsache, dass sie nicht einfach daherredete, sondern über das, was sie sagte, vorher gründlich nachgedacht hatte und zu originellen Schlussfolgerungen gelangt war. Ich war hingerissen.
Hannah Arendts zentrale politische These, die sie in der Vita Activa entwickelt hatte, ist die von der Pluralität der Menschen als Grundlage politischen Handelns: Weil wir alle Geborene sind, als einzigartige Wesen in diese Welt getreten, gibt es jederzeit die Möglichkeit eines neuen Anfangs. Die Unterschiedlichkeit der Menschen, die in der Politik miteinander verhandelt wird, ist die Grundlage jeder menschlichen Gesellschaft und ihre wichtigste Ressource. Noch heute – fünfzig Jahre später – sind Arendts Analysen von höchster Aktualität, wenn sie etwa das bevorstehende Ende der Arbeitsgesellschaft beschreibt oder die innere Leere und Sinnlosigkeit einer Gesellschaft, die den Konsum zu ihrem Zentrum macht.
Nicht um Beweise oder unverrückbare »Wahrheiten« geht es laut Arendt im Bereich des Politischen, sondern darum, dass die Verschiedenheit der Menschen eine gemeinsame Welt schafft, deren Zukunft nicht vorhersagbar ist. Dazu gehört, die eigene Meinung kund zu tun, und sich damit auch angreifbar und kritisierbar zu machen. Im Interview hört sich das zum Beispiel so an: Günter Gaus stellt Arendt als Philosophin vor, sie widerspricht und sagt, ihr Beruf sei »politische Theorie«. Gaus erwidert, dass er sie aber dennoch für eine Philosophin halte. Und Arendt antwortet kurz: »Ja, also dagegen kann ich nichts machen, aber meine Meinung ist, dass ich keine Philosophin bin.«
Dies ist eine rhetorische Figur, die ich inzwischen in mein eigenes Sprechrepertoire integriert habe: Differente Meinungen nicht zu widerlegen, nicht zu versuchen, Beweise anzubringen, die die andere Meinung als falsch entlarven (im Sinne von: »Was du sagst, stimmt aber nicht, weil…«), sondern die Differenz zu benennen und festzuhalten: Ich bin anderer Ansicht, und zwar aus diesem und jenem Grund.
Noch eine andere Passage in diesem Interview hat mir auf ähnliche Weise die Augen geöffnet. An einer Stelle fragt Gaus nach Arendts Motivation, zu schreiben: Will sie damit etwas bewirken, etwas erreichen? Arendt erwidert: »Das ist – wenn ich ironisch werden darf – eine männliche Frage. Männer wollen immer furchtbar gern wirken; aber ich sehe das gewissermaßen von außen. Ich selber wirken? Nein, ich will verstehen. Und wenn andere Menschen verstehen, im selben Sinne, wie ich verstanden habe – dann gibt mir das eine Befriedigung, wie ein Heimatgefühl.«Der Wunsch, zu verstehen, so wurde mir klar, ist auch das, was mein eigenes Denken antreibt und motiviert. Und zwar die Welt als solche zu verstehen – und nicht nur nachvollziehen zu können, was andere darüber gedacht und geschrieben haben. »Denken ohne Geländer« hat Arendt das genannt.
Was jedoch bei aller Faszination blieb, war der Stachel ihrer Abneigung gegen den Feminismus. Wie konnte es sein, dass eine so kluge, originelle und faszinierende Denkerin bei sich zu Hause in eine fast schon klischeehafte Frauenrolle schlüpft und ihrem Mann die Pantoffeln holt? Wie konnte sie es zulassen, dass etwa ihrEhemann Heinrich Blücher in einem Brief an sie schreibt: »Ich habe Dich so unabhängig und frei, wie ich Dich als Mensch mag, und ich habe Dich so abhängig, wie ich Dich als Weib will?
Mit den Ansichten einer anderen Frau nicht einverstanden zu sein, aber das, was sie zu sagen hat, dennoch inspirierend und faszinierend zu finden, ist das Wesentliche bei einer Autoritätsbeziehung – das hatte ich von den Italienerinnen gelernt. Denn es ist genau diese Auseinandersetzung, die zu neuen Erkenntnissen führen kann. Ich ging also der Frage nach, wie dieser Widerspruch (und als solcher erschien er mir) zwischen der hellsichtigen Denkerin und der Antifeministin in der Person Hannah Arendts zu verstehen sein könnte.
Vielleicht so: Obwohl sie heiratete, eine gute Ehefrau abgab und hausfrauliche Pflichten gewissermaßen »mit links« erledigte (wie sie selber meinte, ihre Freundin Mary McCarthy war da allerdings anderer Ansicht) ließ sich Hannah Arendt niemals auf die Logik des heterosexuellen Paares reduzieren. Sie kreiste mit ihrem Begehren und ihrer Tatkraft nicht um einen Mann, sondern sie war ganz auf die Welt ausgerichtet – diese wollte sie verstehen und sich mit ihr arrangieren, nicht irgendein männliches Gegenüber. Wie ungewöhnlich dieses weibliche Aktivsein in der Welt für die westliche Kulturgeschichte ist, zeigt sich darin, dass dennoch immer wieder versucht wird, auch Arendt zum Teil eines solchen Paares zu machen. Weil ihre lebenslange Liebesbeziehung und Ehe mit Heinrich Blücher dies aber gar nicht hergibt, stürzen sich Biografen und Interpretinnen auf die kurze Affäre, die sie als junge Studentin in Marburg mit ihrem Professor Martin Heidegger hatte. Offenbar ist es immer noch so, dass viele das Denken einer Frau nur in der Bezogenheit auf einen Mann überhaupt wahrnehmen und interpretieren können.
Hannah Arendt war aber ein unabhängiger Geist, und ihre anfängliche Skepsis, sich auf eine Liebesbeziehung mit Blücher einzulassen, ist ein Zeichen dafür, dass sie diese Unabhängigkeit bewusst gewählt und reflektiert hat.Damals, im Sommer 1936 – da ist sie dreißig Jahre alt – ist sie kurz davor, die soeben begonnene Affäre zu beenden und schreibt an Blücher: »Hätte ich Dich vor 10 Jahren getroffen – aber inzwischen bin ich leider gezwungen worden, bis zu einen gewissen Grade aufzuhören, eine Frau zu sein«Da ist wie wieder, diese Vorstellung, dass eine Frau nur dann wahrer Mensch sein kann, wenn sie aufhört eine Frau zu sein. Allerdings sollte es Hannah Arendt gelingen, sich davon letztlich gerade nicht einschränken zu lassen:Sie heiratete Blücher schließlich doch und blieb das ganze Leben mit ihm zusammen. Es war eine eine sehr intensive und enge Bindung, und sie hatte auch noch eine Reihe andere enge und vertraute männliche Freunde, deren Gespräch und Gegenwart sie schätzte und auch brauchte. Aber diese Männer waren nicht, wie es die traditionelle Frauenrolle eigentlich vorsah, der Ort, auf den sich ihr Begehren, ihre Leidenschaften ausrichteten. Oder, wie es einer ihrer Studienfreunde einmal formulierte: »Hannah Arendt hatte zwar ein großes und reiches weibliches Gefühlssensorium, aber die völlige Hingabe an das männliche Du konnte ihr nicht gelingen.«
Hannah ArendtsEngagement und Interesse richtete sich immer auf die Welt, und sie fand einen Weg, wie sie das tun konnte, ohne deshalb auf eine persönliche und befriedigende Liebesbeziehung verzichten zu müssen. Dieses Kunststück, Beziehungen mit Männern zu haben und dennoch das eigene Begehren auf die Welt ausgerichtet zu halten, macht Hannah Arendt für mich zu einem großartigen Vorbild, dessen »feministischer« Wert, wenn man so will, um vieles höher einzuschätzen ist, als wenn sie sich geweigert hätte, ihrem Mann Spiegeleier zu braten.
Welchen Weg nun fand Hannah Arendt, um diesem weiblichen Dilemma des sich auf den Mann und nicht auf die Welt Ausrichtens zu entgehen? Man könnte natürlich hier äußerliche Faktoren anführen: Nach ihrer gemeinsamen Emigration in die USA war zunächst sie es, die für den Lebensunterhalt sorgte, die sich schnell in die neue Gesellschaft integrierte, während Blücher sich im Ausland anfangs schwer zurecht fand. Aber es gibt viele Frauen, die Geld verdienen und die dennoch in ihren Gedanken und ihren Gefühlen ganz auf den »Mann in ihrem Leben« ausgerichtet sind.
Ich glaube, dass es Hannah Arendt gelungen ist, diesen Widerspruch denkerisch zu lösen.Und dieser Weg ist für mich sehr bedeutsam, denn er besteht darin, das Wesen des Menschen nicht in der Natur oder in der Prägung durch äußere Umstände zu verankern, sondern im Handeln der Person. In der Vita activa schreibt sie: »Im Gegensatz zur Bedingtheit des Menschen, über die wir, wenn auch noch so unzureichende Aussagen machen können, scheint das Problem des Wesens des Menschen unlösbar. Die Formen menschlicher Erkenntnis sind anwendbar auf alles, was »natürliche« Eigenschaften hat, und somit auch auf uns selbst, insofern die Menschen Exemplare der höchst entwickelten Gattung organischen Lebens sind; aber diese gleichen Erkenntnisformen versagen, sobald wir nicht mehr fragen: Was sind wir, sondern: Wer sind wir. Die Bedingungen menschlicher Existenz – das Leben selbst und die Erde, Natalität und Mortalität, Weltlichkeit und Pluralität – können niemals »den Menschen« erklären oder Antwort auf die Frage geben, was und wer wir sind, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil keine von ihnen absolut bedingt.«
Dass es um die Frage geht, wer ich bin, und nicht darum, was ich bin, führt uns auch aus der leidigen Debatte heraus, was denn das Wesen der Frau ausmache, die heute im Zuge von Gehirn- und Evolutionsforschungen wieder im Aufwind ist. Aber mir als Feministin (ließe sich nun im Anschluss an Hannah Arendt sagen) geht es eben gar nicht darum, herauszufinden, was eine Frau ist , sondern welche Sinn es hat, vom Frausein zu sprechen und in welcher Weise. Hannah Arendts Betonung der menschlichen Pluralität öffnet so den Weg dazu, der weiblichen Differenz eine Bedeutung zu geben: Der Differenz der Frauen untereinander, ihren Konflikten und Kontroversen, und sich von der Illusion und der Zumutung, es gebe ein großes, solidarisches »Wir« der Frauen, zu verabschieden.
Dass es Hannah Arendt auf die Frage ankam, wer wir sind – nicht was wir sind – erklärt somit auch, warum sie sich zeitlebens jeder Interessenspolitik verweigert hat, die ja per Definition auf das »was« fokussiert. Warum sie nicht bereit war, im Reich der Politik Unterscheidungen nach Rasse, Geschlecht, Klasse und dergleichen als relevant zuzulassen. Sie war nicht nur keine Feministin, sie lehnte auch zum Beispiel die Einführung von »Black Studies« an den Universitäten ab. Auch mit keinem anderen »ismus« hat sie sich jemals identifiziert oder auch nur sympathisiert, außer, eine kurze Zeitlang, mit dem Zionismus. Aber eine »istin« zu sein, egal welche, war mit ihrer Vorstellung des freien Denkens schlichtweg unvereinbar. Weil jeder »ismus« ihrer Ansicht nach ein in sich kohärentes inhaltliches Denkgebäude umfasst, also seine Anhänger und Anhängerinnen auf bestimmte Positionen festlegt, was mit der Freiheit des Denkens, Handelns und Sprechens sich nun mal nicht verträgt.
Natürlich bleiben offene Fragen: Zum Beispiel, warum Hannah Arendt zwar die Gebürtigkeit als Grundlage menschlicher Pluralität erkannte, aber die Haus- und Familienarbeit nicht als schöpferisches, kreatives Tätigsein wahrnahm, sondern in die Rubrik des sich ständig wiederholenden, öden Arbeitens einordnete. Warum sie die alten Griechen so uneingeschränkt schätzte, obwohl die doch den leidigen Dualismus von Geist und Körper, oben und unten, Frau und Mann in die Welt gesetzt haben. Aber das macht nichts. Offene Fragen und Differenzen sind ein guter Ausgangspunkt, um weiter zu denken.
Und wenn einmal eine gute Fee zu mir kommt und ich hätte einen Wunsch frei, dann würde ich mir wünschen, einmal einen Abend lang mit Hannah Arendt über den Feminismus diskutieren zu können.
Veröffentlicht in:In: Martina Kreidler-Kos: Von wegen von gestern! Der Lebenskunst großer Frauen begegnen. Schwabenverlag, Ostfildern 2008. (mehr)