Niemals etwas glauben, das man nicht selbst erforscht hat
Ein biografisches Gespräch mit Elisabeth Gössmann. Radiosendung von Antje Schrupp. hr 2, 24. September 2000
Elisabeth Gössmann: Ich weiß noch, wie ich mich so im Alter von drei oder vier Jahren bemüht habe, den Sprung, ich sag’s jetzt mal mit heutigen Worten, den Sprung von der Immanenz in die Transzendenz zu tun, ich hab es aber nicht geschafft. Wir hatten einen Birnbaum im Garten, und mein Gesprächspartner, der Junge hieß Günter, der sagte, was glaubst du, wie groß der liebe Gott ist, wie der Birnbaum? und dann hatte ich so geantwortet, da müssen wir aber schon noch ein bisschen was draufsetzen. Und dann fing er an, Möbel aufzuzählen, die man auf den Birnbaum setzen könnte, aber wie gesagt, alles blieb innerweltlich, und wir haben nicht einmal die Wolken durchbrochen, geschweige denn sind wir ins Jenseitige gelangt.
Das Jenseitige, die großen philosophischen Entwürfe und Systeme sind bis heute Elisabeth Gössmanns Sache nicht. Die zierliche, in Ehren ergraute 72-Jährige ist vielmehr ein Ausbund an Bodenständigkeit, die nette, unscheinbare Dame von nebenan. Ihren Dutt trägt sie schon seit Jahren mit Stolz, und sie denkt nicht im Entferntesten daran, die dicken Socken, mit denen sie am Schreibtisch sitzt, gegen etwas Schickeres auszutauschen, bloß weil Besuch kommt.
Aber die überall in ihrer Münchner Wohnung gestapelten Folianten ma-chen auch so deutlich, dass hier eine der profiliertesten Expertinnen für Theologiegeschichte wohnt. Unzählige vergessene Schriften und Texte aus dem Mittelalter und der frühen Neuzeit hat Elisabeth Gössmann in Archiven aufgespürt, übersetzt und neu herausgegeben. Im Lauf der Zeit hat sie so den vieldiskutierten Schriften der Herren Aquin, Luther und Co. zahlreiche Texte von anderen Theologen und – man höre und staune – Theologinnen zur Seite gestellt und damit neue Grundlagen für theologische Debatten geschaffen. Vor allem für die kirchliche Frauenbewegung wurde das wichtig, denn Dank der Pionierarbeit von Elisabeth Gössmann sind Theologinnen heute nicht mehr nur auf einige wenige herausragende Frauenfiguren wie Hildegard von Bingen oder Teresa von Avila angewiesen, sondern können auf eine regelrechte weibliche Theologietradition zurückgreifen.
Dass sie ihr Berufsleben einmal in Archiven und hinter dicken Büchern verbringen würde, damit hat Elisabeth Gössmann wohl selbst nicht gerechnet, als sie nach dem zweiten Weltkrieg beschloss, Theologie zu studieren. Es waren eher die metaphyischen Sinnfragen, die die damals 17jährige bewogen, dieses für eine Frau damals äußerst ungewöhnliche Studienfach zu wählen.
Elisabeth Gössmann: Der geistige Ansporn, das war eigentlich diese Unsicherheit nach dem Krieg, ja wollen wir’s mal so sagen, diese metaphysische Sehnsucht, also ich hatte ja die Städte in Trümmern erlebt, ich hatte ja , nicht ich, wir, wir hatten ja im Luftschutzkeller gesessen und wir haben um unser Leben gebangt, und ich persönlich hatte z.B. die größte Furcht vor Verschüttetwerden, davon hat man ja viel gelesen und so, und das hat sich so übertragen, dass ich heut noch nicht alleine in einem Aufzug fahren, kann, da kommt das wieder hoch, diese Todesangst. Und der Sinn von dem Ganzen. Die vielen Gefallenen. Was soll das denn? Wer ist denn schuld? Alle diese Fragen.
Mit der nationalsozialistischen Herrschaft und dem Krieg war für Elisabeth Gössmann eine unbeschwerte Kindheit zu Ende gegangen. 1928 in Osnabrück geboren, wuchs sie in einer frommen, mittelständischen Beamtenfamilie auf, deren einzige Besonderheit war, dass die Eltern verschiedenen Konfessionen angehörten:
Elisabeth Gössmann: Als kleines Kind, zuhause wurde bei Tisch gebetet, hab ich gemerkt, dass meine Mutter das Kreuzzeichen machte und mein Vater nicht, und das hab ich dann auch gleich lauthals zum Ausdruck gebracht und gefragt, warum machst du das denn nicht und so, wie so Kinder sind. Und das religiöse Thema war also immer so in Form von Vergleichen präsent…. Und die evangelischen Verwandten auf der einen Seite und die katholischen Verwandten auf der anderen Seite, die hatten auch verschiedene Orte, wo sie gerne in der Freizeit hingingen und wanderten, es ist ja sehr schön, das Umfeld von Osnabrück, Teuteburger Wald, und beide Familien hatten verschiedene Lieblingsausflugsgebiete, und dann hab ich als Kind die Gegenden in katholische und evangelische eingeteilt. Und ich hatte ein ganz schlechtes Gewissen, weil ich nämlich die goti-sche Marienkirche am Marktplatz, wir sind immer noch vor dem 2. Weltkrieg, die also in der Reformation wie viele Stadtkirchen evangelisch geworden war, die mochte ich lieber als den gotischen Dom, der damals auch von innen noch düster ausgemalt war. Und das machte mir ein schlechtes Gewissen. Allen ernstes.
Mit dem Krieg kam die Unsicherheit. Mehrmals wurde die Familie ausgebombt und landete schließlich in Ostfriesland. Der Vater, SA- und Parteimitglied, wurde im Zuge der Entnazifizierung aus dem Beamtendienst entlassen und erst später wieder rehabilitiert. Statt familiärer Geborgenheit war da nun die Unsicherheit darüber, was richtig und falsch ist, die Konfrontation mit sich widersprechenden Ideologien und Meinungen. Damals entwickelte Elisabeth Gössmann die Devise, die sich später wie ein roter Faden durch ihre wissenschaftliche Forschung ziehen sollte: Glaube nichts, was du nicht selbst geprüft hast. Klarheit gewinnen durch eigenes Studium, nicht einfach glauben, was andere erzählen, sondern selber nachschauen, selber forschen, selber herausfinden. Den Büchern und Quellenschriften mehr vertrauen, als den Behauptungen der Menschen, den Kommentaren, den Lexika. Studieren, das wollte Elisabeth Gössmann nun unbedingt. Doch dafür brauchte sie zunächst einmal das Abitur. Zwei Schuljahre fehlten ihr noch zur Hochschulreife, mehr als eines, so der Vater, könne er nicht finanzieren. Sie entschied kurzerhand, dann würde sie eben ein Jahr überspringen und den Stoff in den Sommerferien vorlernen.
Elisabeth Gössmann: Und da war ich schon drauf vorbereitet, dass ich springen musste, und ich hatte in dem Dorf, wo wir waren, von einer Studentin Unterricht bekommen, dass das auch ging. Und dann hat ein Lehrer das gemerkt. Und ich sollte raus aus der Klasse, und ich hatte natürlich große Angst, dann krieg ich kein Abitur. Und dann hat meine Mutter ihre letzte, die sie hatte, goldene Brosche von ihrer Mutter in Speck verwandelt und ist den nächsten Tag in die Schule gefahren, um den Lehrer mit Speck zu bezirzen, dass er mich doch in der Klasse lässt, und da hatte diesen Lehrer die Entnazifizierung getroffen. Er war draußen. Und da bin ich den nächsten Tag wieder in die Klasse gegangen. Aber die Brosche war weg, und den Speck haben wir selber gegessen.
Diese Geschichte ist typisch auch für den weiteren Lebensweg Gössmanns – widrige Umstände werden gemeistert durch enormen Fleiß und Selbstdisziplin, und mit Hilfe weiblicher Solidarität. Und so hatte der Wunsch, gerade Theologie zu studieren, auch noch einen anderen An-trieb. Die Neugier einer Frau auf das, was die Männer eigentlich in ihren geschlossenen Gesellschaften so treiben. Und der Entschluss, die wichtigen Sinnfragen der Menschheit nicht mehr länger nur ihnen zu überlassen.
Elisabeth Gössmann: In dem letzten Schuljahr hatte ich einen Religionslehrer, der in Münster studiert hatte und wusste, dass in der Vorlesung meines späteren Münchener Doktorvaters schon Frauen gesessen hatten. Und da war’s ganz konkret für mich, diese Sinn-frage kam auf mich zu, ich wollte das einfach klären, was jetzt Sache ist, und also Theologiestudium ist nicht mehr bloß für Männer, nicht mehr nur für die, die später Priester werden. Ich war natürlich auch ganz neugierig, was die denn lernten, weil ich meine, ich hab sehr positiv eingestellte Geistliche kennen gelernt, … aber es gab auch Geistliche, die mit ihrem Wissen, grob gesagt, angaben, und ich wollte einfach wissen, was dahinter steckt, was die so studieren, also immer noch Neugierde, war dabei.
Elisabeth Gössmann studierte aber Theologie nur unter anderem. Das Theologiestudium bot Frauen damals keine Berufsperspektiven, es mussten andere Fächer dazukommen, um sich für den Lehrerinnenberuf zu qualifizieren: So studierte Gössmann Latein, Germanistik, Philosophie, später auch Kunstgeschichte, zunächst in Münster, später in München. Doch es war die Theologie, die ihre Leidenschaft weckte.
Elisabeth Gössmann: Also, meine Einstellung war damals so zu Studienbeginn: Ich interessiere mich nur noch für Ewigkeitswerte, und das Vergängliche, das geht ja alles kaputt, das haben wir ja gesehen, ist zerstörbar, und ich will nur noch auf Ewigkeit hin leben. Da hat mich das Leben natürlich was anderes gelehrt. Aber das war meine Einstellung. Und ich hab dann auch viel Metaphysik-Vorlesungen und so was gehört. Aber was mich dann wirklich gepackt hat, das war die Bibelexegese …. Also es fing grade an, dass an katholischen Fakultäten, in Münster war das noch nicht so gewesen, aber in München, dass die historisch-kritische Methode gelernt wurde und danach die Bibel angeeignet, persönlich angeeignet wurde. Und diese Mulier Tacere, was sie uns immer an den Kopf warfen, die Frau schweige in der Gemeinde, dass das einen bestimmten Sinn in einer bestimmten Situation hatte, und dass es nicht für Zeit und Ewigkeit gesagt ist, das waren Befreiungserlebnisse, die nur durch die Exegese kamen, also ganz anders, als ich das erwartet hatte durch die Metaphysik. Und dann kam natürlich hinzu, hier in den Seminaren bei Professor Michael Schmaus, dass ich die Entste-hensweise von Dogmen nachvollziehen lernte. Und Schmaus sagte immer, obwohl damals das Wort Hermeneutik noch nicht so im Schwange war, aber er sagte immer: Wir müssen die Sprache der Dogmen, die in vergangenen Jahrhunderten entstanden sind, erst mal übersetzen in die Sprache von heute. Also so etwas wie Historizität, das hatte ich vorher nicht kapiert gehabt. Und das, was Schmaus am meisten sagte, ist: Christentum ist Geschichte durch Geschichte hindurch gegangen und Geschichtlichkeit ist sein Merkmal. Und dann war das nicht mehr so wie im Katechismusunterricht, … da war es sehr stark apologetisch, da wurde keine Veränderung und Umbildung im Christentum, das wurde uns nicht beigebracht, und Christentum das ist stabil durch die Zeiten, so war ich erzogen worden. Jetzt kommt plötzlich Exegese, Dogmengeschichte, Theologiegeschichte, und das interessierte mich natürlich alles wahnsinnig. Also der metaphysische Traum ist nicht in Erfüllung gegangen, aber das historisch-theologische Studium hat mich dann doch sehr befreit und hat mir auch gezeigt, wie man leben kann mit Theologie.
Der Münchner Dogmatiker Michael Schmaus wurde Gössmanns wichtigster Lehrer und Förderer. Als liberaler, fortschrittlicher Wissenschaftler setzte er sich auch dafür ein, Frauen die Promotion zu ermöglichen, und so ermutigte er die junge Theologin, statt Lehrerin zu werden, doch eine wissenschaftliche Karriere einzuschlagen und ihre Doktorarbeit zu schreiben.
Elisabeth Gössmann: Die Münchener Fakultät war damals die Berühmteste, in der ganzen BRD, und das war auch die erste, die Frauen promoviert hat. Die anderen deutschen Unis machten das erst so ungefähr 10 Jahre später. Und dann bekam ich also 1951 kurz vor Pfingsten in Münster die neue Münchener Promotionsordnung in die Finger. Und vor-her hatte ich eben darin gelesen, der Kandidat muss die Diakonatsweihe bereits empfangen haben. Und da ging’s ja nicht, ne. Und dann kriegte ich diese neue Promotionsordnung in die Finger, und da stand drin dieser Satz eben nicht mehr. ne, sondern nur fachliche Voraussetzungen und so was. Und da bin ich zu Pfingsten … nach München, und dann gleich zu Prof. Schmaus und diese Frage gestellt. … Ja, und da sagte er, ja, das haben wir natürlich gemacht, damit ihr Laien auch promovieren könnt. Und wir möchten aber dazu sagen, ihr müsst am Anfang ein bisschen mehr leisten, eigentlich doppelt so viel, damit wir euch durchbringen.
Als Thema ihrer Doktorarbeit wählte Elisabeth Gössmann die Verkündigung an Maria im Lukasevangelium und ihre Auslegungsgeschichte im Mittelalter. Schon damals entdeckte sie, was später der Schwerpunkt ihrer theologischen Forschung werden sollte: Dass nämlich nicht nur Männer, sondern auch Frauen durch die Jahrhunderte weg Theologie getrieben haben.
Elisabeth Gössmann: Und es gibt sehr viele mittelalterliche Auslegungen zu diesem Lukastext von Frauen, die hoch theologisch sind. Und da hab ich gemerkt, erstens mal, was man so wusste von Mystikerinnen, die sind nur fromm und haben da ihre Gotteserfahrung, aber das ist keine Theologie, das hat sich bei mir total umgedreht. Ich hab gemerkt, wie die auf scholastische Texte anspielen, wie sie scholastische Texte kennen, wie sie sie leicht verändern, wie sie sie umwandeln, das hab ich bei der Doktorarbeit gespürt …
Um diese damals unerhörte Entdeckung einer weiblichen Theologietradition in der Doktorarbeit unterzubringen, griff Elisabeth Gössmann zu einem Trick: Über die Frauentexte schrieb sie nicht im Kapitel „Theologisches Schrifttum, sondern gab ihnen die Überschrift »geistliche Dichtung«. Auch wenn ihr dieses Zugeständnis, sicher mit gutem Grund, damals notwendig erschien, war sie in ihrem jugendlichen Überschwang doch optimistisch und zuversichtlich, mit ihrer Arbeit neue Massstäbe gesetzt zu haben.
Elisabeth Gössmann: Ich hab damals auch die Einbildung besessen, also es war ne große Einbildung, ich konnte ja nicht wissen, dass noch soviel sogenannter neuer Feminismus notwendig war, um diese Sache mal bewusst zu machen, ich hab gedacht, wenn die anderen jetzt Arbeiten schreiben, egal ob es jetzt Männer oder Frauen sind, dann werden die auch die Frauen einbeziehen. Das hab ich mir damals eingebildet, Mitte der 50er Jahre. Das war natürlich nicht der Fall.
Dass eine fundierte wissenschaftliche Arbeit allein nicht genügt, um Frauen in der Kirche ihren angemessenen Platz zu verschaffen, musste Elisabeth Gössmann bald schon am eigenen Leib erfahren. Denn das hat sie bis heute mit »ihren« Kirchenfrauen gemeinsam: Formal gesehen ist sie gar keine Theologin. Ihre Habilitation über franziskanische Theologie, die sie 1963 an der Theologischen Fakultät München vorlegen wollte, wurde nicht anerkannt – nicht etwa, weil es eine schlechte Arbeit gewesen wäre, sondern weil die Kandidatin keine Priesterweihe hatte. Das heißt: Frauen konnten damals grundsätzlich in katholischer Theologie nicht habilitieren.
Elisabeth Gössmann: Das Verfahren musste abgebrochen werden. Gleichzeitig rief mich Kardinal Döpfner war das damals, zu sich, war sehr freundlich, und sagte, es tut mir leid, wir Bischöfe wissen noch nicht, was wir mit habilitierten Laien in der Theologie anfangen sollen, denn eigentlich sollten Theologieprofessoren doch der Priestererziehung die-nen. Ich hab dann versucht, ihm klarzumachen, dass es sehr sinnvoll sei, wenn Priester auch von Laien in Theologie unterwiesen würden, das sah er auch wohl ein, aber er sagte, er ist einer von vielen deutschen Bischöfen und so einfach geht das nicht.
Elisabeth Gössmann war ihrer Zeit um Jahrzehnte voraus. Es sollte noch lange dauern, bis Frauen an deutschen Universitäten Professorinnen für katholische Theologie werden konnten. Zu lange in ihrem Fall. 15 Jahre später nahm Gössmann einen neuen Anlauf – 1978 habilitierte sie an der Münchner Universität, allerdings nicht in Theologie, sondern in Philoso-phie. Und so kommt es, dass eine der bedeutendsten Kirchengeschicht-lerinnen Deutschlands gar keine Theologin ist, sondern, jedenfalls formal gesehen, Philosophin.
Elisabeth Gössmann: Aber de fakto bin ich doch Theologin, ich bin ja jetzt außerplanmäßige Professorin an der philosophischen Fakultät in München, aber mein Seminar sieht es mir nach, dass ich genauso viel Theologie wie Philosophie mache, und die haben auch nichts dagegen.
Es waren vor allem die Studentinnen aus der kirchlichen Frauenbewegung, die Elisabeth Gössmanns wissenschaftliche Leistungen schon früh anerkannten. Heute sind die von ihr herausgegebenen und kommentier-ten Texten aus der mittelalterlichen und neuzeitlichen Theologiegeschichte für Wissenschaftlerinnen unverzichtbar. Acht Bände umfasst ihre Reihe »Archiv für philosophie- und theologiegeschichtliche Frauenforschung« inzwischen, und weitere sind geplant. Lange bevor in den achtziger Jahren die feministische Theologie in Deutschland Fuß fasste, hat Elisabeth Gössmann damit der gesamten theologischen Frauenforschung eine neue Richtung gegeben: Während die männliche Theologie sich bis dahin vor allem mit der Frage beschäftigt hatte, was die Kirche und die Theologen über die Frauen sagten, wollte sie wissen, was die Frauen selbst zur Kirche sagen, welche theologischen Auffassungen sie vertreten. Und das eben nicht nur heute, sondern schon immer in der Geschichte des Christentums.
Elisabeth Gössmann: Das ist eben der Schlüssel zu allem, die Frauen hatten Stimme, und sie haben sich geäußert. Und vielfach auch in Auseinandersetzung mit männlichen Stimmen, als Gegenstimmen. Und ich spreche ja auch gern von einer Gegentradition von Frauen und Frauen Gerechtigkeit widerfahren lassen wollenden Männern. Das sind also die vorfeministischen Feministen.
Dabei wandte Gössmann eine Methode an, die ebenfalls später ein Grundmuster der feministischen Theologie wurde: Dass man nämlich von den – meist gut überlieferten – Schriften der Männer indirekt auch auf die der Frauen schließen kann. Nur so hat sie nämlich all die Frauentexte überhaupt ausfindig machen können:
Elisabeth Gössmann: Ich hab sie gefunden dadurch, dass ich männliche Texte las, und die haben wahrhaftig in der frühen Neuzeit auf Frauentexte verwiesen. Also im Mittelalter, in der Scholastik, da war das noch stärker so, Frauen können keine Autoritäten sein, also wurden sie auch nicht zitiert. Aber in der frühen Neuzeit war das ein bisschen anders. Ich hab also in männlichen Texten Verweise auf Frauentexte gefunden. Und denen bin ich nachgegangen. Und da hab ich ne ganze Menge gefunden. … Aber die Geschichte dieser Jahrhunderte, aus denen wir Frauentexte haben, die ist noch längst nicht aufge-arbeitet, das ist also wirklich erst ein Minimum, was da gemacht worden ist.
Heute erntet Elisabeth Gössmann auch in Deutschland den verdienten Ruhm für ihre Pionierarbeit. Sie ist eine gefragte Referentin bei wissen-schaftlichen Kongressen, Theologinnen an verschiedenen deutschen Universitäten laden sie immer wieder als Gastprofessorin ein, für eine ganze Generation von Kirchengeschichtlerinnen ist sie zum Vorbild geworden. Und auch wenn ihr letztlich die formale Anerkennung an den theologischen Fakultäten noch immer versagt bleibt, reicht Gössmanns Autorität als theologische Expertin inzwischen weit über den Bereich der Universitäten hinaus. Sogar in den Bestsellerlisten ist sie inzwischen vertreten, wenn auch im Schlepptau des Verkaufsschlagers »Die Päpstin«. In diesem Historienroman erzählt die Erfolgsautorin Donna W. Cross die Geschichte einer Frau, die im 9. Jahrhundert als Mann verkleidet Kirchenkarriere gemacht hat und schließlich sogar zum Papst gewählt wur-de. Der Verlag reagierte auf die Nachfrage tausender Leserinnen, die wissen wollten, was denn an dieser Geschichte dran ist, und legte Gössmanns gelehrten Wälzer über die Rezeptionsgeschichte der Päpstin Johanna als Taschenbuch auf. Dass sie die Frage, ob es sie denn nun wirklich gegeben hat, die Päpstin, auf vierhundert Seiten schließlich mit einem wissenschaftlich korrekten »Man weiß es nicht« beantwortet, hat dem Erfolg keinen Abbruch getan. Das Buch ist bereits in der vierten Auflage.
Doch die Jahrzehnte bis zum späten Ruhm waren hart. Elisabeth Göss-mann verbrachte sie mit ihrer Familie – sie ist seit Studienzeiten verheiratet und hat zwei Töchter – im fernen Japan, weitgehend unbeachtet vom deutschen Theologiebetrieb. 1955, direkt nach der Promotion und zwei Monate nach der Geburt ihrer ersten Tochter, trat sie in Tokio eine Stelle als Dozentin für christliche Philosophie und mittelalterliche Theologie an der Seishin-Frauenuniversität an – nur für einige Jahre, dachte sie, bis sie später an einer deutschen Universität unterrichten könnte.
Elisabeth Gössmann: Das war ein Zeitvertrag, erst drei Jahre, dann noch mal zwei Jahre verlängert, aber ich hatte schon meinen Habilitationsplan im Kopfe. Ich hatte schon das Thema mitgenommen nach Japan und habe während dieser 5 Jahre schon eifrig daran gearbeitet, nämlich über eine franziskanische Summa Theologica. … Aber die Habilitation hat nicht geklappt, obwohl es zunächst gut aussah…. Ich war natürlich über mein Scheitern sehr traurig, aber ich war nicht verzweifelt, denn ich sah, dass das Konzil gut weiter ging, dass also Texte verabschiedet, die sehr positiv über Frauen sprachen, und irgendwie hat ich im Hinterkopf immer noch den Gedanken, vielleicht geht’s später doch mal. Ich kam mir auch eben wie ein Opfer vor, vielleicht für später, und hab nur gehofft, dass das Opfer sinnvoll wäre.
Obwohl ihre Habilitationsschrift, die immerhin als Buch herauskam, in wissenschaftlichen Kreisen anerkannt und gelobt wurde, waren mit dem gescheiterten Habilitationsverfahren auch Gössmanns Berufschancen an deutschen Universitäten gesunken. 37 Bewerbungen hat sie in diesen Jahren geschrieben, alle wurden abgelehnt.
Elisabeth Gössmann: Es war einfach noch nicht drin, dass Frauen auf philosophische und theologische Lehrstühle berufen wurden….. Mein Fall war also allgemein bekannt, und die Dekane, die mir zurückschrieben, waren zum guten Teil meine Studienkollegen gewesen, die wussten alles über meinen Werdegang. .. Im Einzelfall hätten die mich ganz gern genommen, ich glaube sogar, vom Dekan Ratzinger in Regensburg habe ich so einen Brief bekommen, der ein persönliches Bedauern ausdrückt, aber die Fakultät, und natürlich von Lehmann hab ich einen solchen bedauernden Brief, ich weiß gar nicht mehr, wo der damals Professor war, vielleicht in Freiburg, hab ich auch einen solchen bedauernden Brief bekommen, also ich hab viele solche bedauernden Dekansbriefe und die schrieben mir dann später noch mal privat, dass es ihnen leid tut. Aber es ging eben nicht. Es war eben einfach noch nicht drin.
Also blieb ihr nichts anderes übrig, als in Japan zu bleiben, wo sie wissenschaftlich anerkannt war. Die Seishin-Frauenuniversität stelle Göss-mann als ordentliche Professorin an, ein Lehrstuhl an der jesuitischen Sophia-Universität kam hinzu – dort war sie die erste Dozentin, noch be-vor überhaupt Frauen zum Studium zugelassen wurden. Mit dem für sie typischen Fleiss lernte Gössmann Japanisch, und seit den siebziger Jah-ren unterrichtet sie sogar in dieser Sprache. Sie forschte über die Ge-meinsamkeiten zwischen buddhistischer und christlicher Mystik, grub auch in der japanischen Geschichte unbekannte Frauenfiguren aus, wie etwa die zum Christentum übergetretene Märtyrerin Gracia Hosokawa Tama aus dem 16. Jahrhundert.
Heute lebt Gössmann abwechselnd in Tokio, und in München. Die kirchenpolitischen Aktivitäten ihrer früheren Studienkollegen Ratzinger und Co., die nach wie vor Frauen den Zugang zu den Weiheämtern in der katholischen Kirche verwehren, verfolgt sie mit Entrüstung und Traurigkeit.
Elisabeth Gössmann: Ich sagte ja schon, dass ich mal nicht nur in der ersten Studienzeit, sondern auch während des Habilitierens sehr lebhaft in einem Gespräch mit dem jetzigen Kar-dinal Ratzinger war, er arbeitete auch über Joachim von Fiore und Bonaventura, ich über Alexander Lendis, den Lehrer Bonaventuras, wir waren gut im Gespräch, sag ich mal. Und dass er jetzt den Vatikan vertritt und eine andere Meinung hat, das ist schon schmerzlich für mich. Ich war auch mit seiner Schwester ganz gut befreundet. Es ist schmerzlich.
Was Elisabeth Gössmann den Kirchenmännern am wenigsten verzeiht, ist ihre wissenschaftliche Schludrigkeit im Umgang mit den Quellen der Kirchengeschichte, auf die sie sich doch angeblich berufen. Denn den Streit über die Priesterweihe von Frauen, so hat sie in ihren Büchern immer wieder nachgewiesen, ist wahrlich nicht neu. Und wenn konservative Kirchenvertreter heute argumentieren, Frauen könnten nicht zugelassen werden, weil die kirchlichen Tradition sich schon immer darauf berufen habe, dass Jesus sich nur Männer und keine Frauen als Nachfolger erwählt hätte, dann sagt Gössmann nur: Eine solche Tradition gibt es nicht.
Elisabeth Gössmann: Die Frage ist immer gestellt worden nach dem Amt der Frau. Also die großen Theologen im 13. Jahrhundert, auch die Kirchenrechtler, die stellen immer die-se Frage. Aber das, was vatikanische Papiere heute als Tradition behaupten, das immer schon gesagt worden wäre, Jesus hat nur 12 Männer erwählt, das find ich einfach nicht. Was die mittelalterlichen sagten, … das ist eben das mulier taciat, und dann Tim. folgende, die Frau soll nicht lehren, und diese Sachen, und dann kommt der ganze Aristoteles da rein mit seinem Frauenbild, geringere Verstandeskräfte, geringere moralische Verlässlichkeit, …. und dann in den späteren Jahrhunderten, dann kommen dann diese Aufzählungen, wer alles nicht Priester werden kann, das sind Behinderte sag ich jetzt mal, milde gesagt, die originalen Ausdrücke, die sind natürlich Krüppel. Hermaphroditen, Verrückte und Frauen.
In einer solchen Denktradition stehen Theologen, wenn sie heute immer noch das Amt der Frau ablehnen, und nicht in der Tradition derjenigen, die sich auf Jesus und die Evangelien berufen, betont Gössmann. Doch dank ihrer Arbeit weiß man heute auch, dass solche frauenverachtenden Argumentationen nur die eine Seite der Theologiegeschichte ausmachen, dass sie nicht typisch sind für die Kirche insgesamt. Schon immer hat es eine Gegentradition gegeben, hauptsächlich von Frauen, aber auch von Männern, die ein anderes Menschenbild dagegen setzten und auf die man sich heute berufen kann.
Elisabeth Gössmann: Nehmen wir Gertrud die Große, da sehen wir, … Sie führt meditative Ge-spräche mit Christus, und hört zu sich sagen: Du bist mein Bild, wie ich das Bild des Vaters bin. Die geringere Gottebenbildlichkeit der Frau war nämlich auch ein Argument gegen das Amt. Da sagt also Christus zu der Frau, über die Geschlechtergrenze hin-weg, die ja in den päpstlichen Papieren noch eine große Rolle spielt, … sagt, also dieser meditative Gesprächspartner Christus, auch ich erneuere in dir alle sieben Sakra-mente. Das schließt ein, sie weiß sich als Priesterin. Solche Texte, die sind ungeheuer ausdrucksreich. Ja, die muss man einfach kennen, sonst kann man gar nicht diskutieren, das ist lebensnotwendig.
Nichts macht Elisabeth Gössmann ungehaltener, als wissenschaftliche Unsauberkeit, als Schludrigkeit in der Quellenauslegung oder gar falsche Übersetzungen lateinischer Originaltexte. Wer nicht fließend Latein kann und hunderte von Quellen auswendig im Kopf parat hat, sollte sich besser nicht mit ihr auf einen Disput über mittelalterliche Theologie einlassen. Genauso allergisch reagiert sie auf manche feministischen Theologinnen, die ihre Forderungen mit wissenschaftlich unsauberen Rückgriffen etwa auf die Mystikerinnen untermauern wollen – etwa auf die angeblichen naturwissenschaftlichen und heilkundlichen Arbeiten der Hildegard von Bingen. Bei diesen Themen seien die »textgeschichtlichen Grundlagen sehr ungeklärt« sagt Gössmann, und das ist so ziemlich das schlimmste Urteil, das ihr Repertoire hergibt. Und nicht nur die Theologie, alle Christinnen und Christen sieht sie in der lebenslangen Pflicht, sich auf der Höhe der theologischen Forschung ihrer Zeit zu halten.
Elisabeth Gössmann: Theologie muss vermittelt werden. Ich weiß nicht, wie heute Menschen, oh-ne sich zeitlebens durch Aneignung theologischer Forschungsergebnisse weiterzubilden, wie die als Christen leben wollen, das weiß ich nicht. Das stell ich mir ungeheuer schwierig vor.
Niemals etwas glauben, was man nicht selbst erforscht hat, niemals die Neugier verlieren, es ganz genau wissen zu wollen – mit diesem Motto hat Elisabeth Gössmann die theologische Forschung der letzten Jahr-zehnte, und vor allem die Forschung der Frauen, beflügelt wie kaum eine andere. Eine Einstellung, die auch ausserhalb der Universitäten Sinn macht.