Antje Schrupp im Netz

Freiheit und Notwendigkeit. Eine anarchistische Ethik des Müssens

Vortrag am 15.8.2021 beim KongressA in MÜnster

Im Internet machte sich mal jemand über einen Vortrag von mir lustig, in dem ich das Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern bei der unbezahlten Fürsorgearbeit behandelt hatte.

Er schrieb: “Frauen ziehen also immer noch den Kürzeren. Sie müssen sich um Kinder, Alte und Haushalt kümmern (die Haustiere hat sie dabei noch vergessen). Wer sagt eigentlich, dass sie müssen? Wer zwingt sie dazu? Das Patriarchat, verkörpert durch den Herrn und Gebieter daheim?”

Ja, wer zwingt uns dazu? Warum müssen wir Dinge tun?

Weil wir von jemandem gezwungen werden?

Leider Ja, meistens. Daher sind Anarchist:innen und freiheitlich liebende Menschen gegen das „Müssen“. Etwas zu müssen ist schlecht, möglichst gut ist eine Welt, in der niemand mehr etwas muss und wir alle tun können, was wir wollen.

Allerdings Corona – Masken tragen. Das nicht Müssen als Freiheitsstandard, bis hin zu dem Recht, sich und andere zu gefährden.

Oder, noch wichtiger: Klimawandel. Das Recht, nicht auf CO2 verzichten zu müssen, nicht den eigenen Energieverbrauch reduzieren zu müssen, keine politisch unbequemen Positionen vertreten zu müssen, nicht auf eigene Profitmöglichkeiten verzichten zu müssen.

Wer sagt eigentlich, dass wir das Klima schützen müssen? Wer zwingt uns dazu?

Niemand, leider möchte ich fast sagen.

Auf diese Fragen müssen besonders Anarchist:innen Antworten finden, weil sie nicht, wie andere Sozialist:innen, auf den kommunistischen Staat setzen können, der das von oben anweist. Deshalb stehen sie mehr in der Verantwortung, und auch mehr in der Gefahr, tatsächlich zum Katalysator der Katastrophe zu werden.

Das heißt, wir müssen – haha – zu einer freiheitlichen Ethik des Müssens kommen, die ohne Herrschaft und Zwang auskommt, aber dennoch in der Lage ist, das Notwendige zu tun.

Natürlich hat die männliche Philosophie schon immer versucht, die Frage zu beantworten, inwiefern Menschen zu einem moralischen (also nicht bloß zweckrationalen, bequemen oder egoistischen) Handeln fähig sind, und was sie dazu bringt, Pflichten zu erkennen und sich entsprechend zu verhalten.

Insbesondere Kant hat das pflichtgemäße Handeln freier Menschen, die den Aufforderungen der Vernunft auch und gerade dann folgen, wenn sie nicht dazu gezwungen sind, ins Zentrum seiner Philosophie der Aufklärung gestellt. Die aufgeklärte Vernunft, so Kant, kann sich nicht damit begnügen, nur das zu tun, was von ihr verlangt wird. Aber natürlich kann sie auch nicht einfach bloß der eigenen Lust oder den egoistischen Interessen folgen. Sondern sie muss sich ihres eigenen Verstandes bedienen, um zu erkennen, was in einer gegebenen Situation richtig ist.

Das Problem an Kant ist, dass das in der Praxis leider nicht funkioniert. Eine Welt, in der vernunftorientierte Wesen das tun, was notwendig ist, ist eine Illusion, und das wird heute mehr denn je sichtbar.

Und das liegt eben nicht nur an der Vernunft, mit der es oft nicht weit her ist, etwa in populistischen Zirkeln, in denen das absurdeste Zeug geglaubt wird, so als hätte es nie eine Vernunft gegeben. Sondern das eigentliche Problem ist woanders – aus der Vernunfteinsicht folgt eben nicht unweigerlich auch ein Handeln.

Und deshalb sind auch die freien aufgeklärten Menschen wieder zu dem „Müssen“, das von oben angeordnet wird, zurückgekehrt. Sie hatten sich mit Hilfe von Kant zwar vom Bezug auf Gott befreit, aber an dessen Stelle ist der Rechtsstaat getreten. Man muss sich nicht mehr an göttliche Gebote halten, sondern eben an die Gesetze des Staates. (keine Lösung für Anarchist:innen)

Dann kam dann noch die Macht des Marktes her, der ebenso göttliche Attribute bekommen hat: Die Pflichterfüllung und sogar die bloße Gesetzestreue scheinen immer mehr zu einer Frage des Preises zu werden. (Foto: Falschparken kostet 29,90 Euro)

Das war mir vor einigen Jahren aufgefallen, als ich in England in Urlaub, wo überall Verbotsschilder hingen mit der Höhe der zu erwartenden Strafe bei Übertretung zu kennzeichnen. Das Betreten der Bahngleise “kostet” demnach 1500 Pfund, falsch Parken 100 Pfund, im Zug aus dem Fenster lehnen 200 Pfund und so weiter. Der bloße Hinweis darauf, dass etwas verboten ist, scheint keine Autorität mehr zu besitzen. Die einzige Frage, die zählt, ist: Was kostet mich das?

Trotzdem wird sogar der Klimawandel manchmal so diskutiert, dass man die Folgen der Umweltzerstörung in Milliardenschäden umrechnet. Das mag zwar manche Firmenbosse zum Nachdenken bringen, es bedeutet aber nichts anderes als das Eingeständnis, dass Achtsamkeit gegenüber der Natur nur deshalb von Belang ist, weil sie sich möglicherweise “rechnet”.

Vielleicht hat zum Scheitern des Konzepts der Pflichtethik auch die Vorrangstellung der Soziologie als Modell der Welterklärung beigetragen: Gesellschaftliche Phänomene werden weithin nicht als Ergebnisse politischer Aushandlungen zwischen freien Subjekten verstanden, sondern als zwangsläufige Folge äußerer Rahmenbedingungen, wobei man davon ausgeht, dass die Akteur:innen ihre Handlungen zweckrational auf Gesetze oder monetäre Anreize ausrichten mit dem Ziel, ihre persönlichen Interessen möglichst effektiv und optimal zu verfolgen.

Nach dem Motto: Bauen wir mehr Kita-Plätze, dann bekommen gut ausgebildete Frauen mehr Kinder. In einer solchen Weltsicht ist das Konzept der Pflicht überflüssig geworden. Nicht das Handeln des oder der einzelnen zählt, sondern lediglich die “Rahmenbedingungen”, die das Handeln der Massen steuern.

Es stellt sich also die Frage, wie sich das Müssen auf eine andere Weise mit dem Konzept der Freiheit verbinden lässt als in der Kantschen Pflichtethik.

Während in Deutschland mit dem Wort „Müssen“ unterschiedliche Dinge gemeint sind, unterscheiden andere Sprachen verschiedene Arten des Müssens

Im Italienischen wird das Müssen „devo“ unterschieden von „Occorre“ – „Es ist notwendig“. „Wenn es nicht ins Haus reinregnen soll, müssen wir das Dach abdichten“, beziehungsweise „ist es notwendig, das Dach abzudichten“, d.h. es wird schon klar, dass es hier nicht um uns selber geht und was wir müssen, sondern um das Dach.

Ich denke, das trifft schon einen wesentlichen Punkt von dem Einwand des oben erwähnten Bloggers. Er beobachtet eine geschlechtsspezifische Differenz: Frauen meinen, sie „müssten“ sich um Dinge kümmern, obwohl sie niemand dazu zwingt.

Ist das „müssen“ im Sinne von Zwang mehr männlich und das „müssen“ im Sinn von Notwendigkeit mehr weiblich? Stimmt, da Institutionen, Gesetze, Politik usw. vor allem Beziehungen unter Männern regeln, auch der Staat, die Frauen sind eher so kollateral.

Sie „arbeiten“ zum Beispiel nicht, weil sie nicht in Arbeitsverträgen stecken, die sie dazu zwingen.

Das liegt natürlich auch an historischen Zuschreibungen und Care-Ethik: Eine Mutter “muss” sich ja nicht deshalb um ihr Kind kümmern, weil irgendein Dritter sie dazu zwingt oder sie ansonsten Sanktionen zu befürchten hat, sondern weil die innere Logik der Situation dies erforderlich macht. Und eine Hausfrau „muss“ nicht die Fenster putzen, sondern macht es sozusagen freiwillig.

Mit der Betonung auf „sozusagen“.

Herrschaftsverhältnisse bedeuten, dass der Übergang von „occorre“ – ich muss etwas tun, weil es aus der Logik der Situation heraus notwendig ist – häufig zu einem Zwang wird – ich muss etwas tun, weil mich jemand anderes, mit Macht über mich, mich dazu zwingt.

Und Herrschaftskultur bedeutet, dass beides miteinander vermischt wird. Dieser Prozess wird sehr schön anschaulich im Märchen von Frau Holle, bzw. Goldmarie und Pechmarie. Das Märchen erschien in den Kinder- und Hausmärchen von Dorothea Wild Anfang des 19. Jahrhunderts und wurde später von den Grimm-Brüdern adaptiert.

Eine Frau hat zwei Töchter, sie mag aber die eine viel mehr als die andere. Die Lieblingstochter kann den ganzen Tag faulenzen, während die andere Tochter alle schwere Arbeit machen muss. Als ihr einmal die Spule mit Garn in den Brunnen gefallen war, musste sie hinterherspringen. Dann geht das Märchen so weiter.

„Als sie die Augen wieder aufmachte, saß sie auf einer wunderschönen Blumenwiese. Über ihr war ein blauer Himmel, und die Vögel sangen. Das Mädchen dachte: „Was ist passiert? Ich träume wohl.“ In der Nähe stand ein Ofen, der rauchte nicht nur, der konnte sprechen. Er rief: „Ach bitte hol mein Brot heraus, es ist schon fertig gebacken!“ Das fleißige Mädchen hatte gleich Lust zu arbeiten. Sie nahm den Schieber, der neben dem Ofen stand, und holte alles Brot heraus. Sie fragte: „Ist es so gut?“ Der Ofen sagte: „Danke!“ Das Mädchen ging ein bisschen spazieren und kam zu einem Apfelbaum, der sagte zu ihr: „Schüttel mich, meine Äpfel sind schon reif!“ Das Mädchen schüttelte den Apfelbaum, bis alle Äpfel unten waren, und auch der Baum sagte: „Danke!“

Bekanntlich kommt das Mädchen dann zu Frau Holle, wohnt bei ihr und arbeitet für sie und wenn sie die Betten ausschüttelt, schneit es auf der Erde. Aber dann hat sie Heimweh, und als sie zurückkehrt, wird sie mit Gold überschüttet und wird die Goldmarie. Daraufhin schickt die Mutter auch die andere Tochter in den Brunnen, die aber das Brot nicht aus dem Ofen holt und die Äpfel nicht vom Baum schüttelt und Frau Holle nicht bei der Hausarbeit hilft, und sie wird zum Abschied mit Pech überschüttet und die Pechmarie.

Im märchenhaften Reich von Frau Holle (in der sich die alte nordeuropäische Sagen-Gottheit der Perchta erhält), herrscht die Logik des „occorre“ – man muss etwas tun, weil die Situation es erfordert – Das Brot aus dem Ofen holen, die Äpfel vom Baum schütteln. Es ist ein Reich der Fülle, es gibt alles im Überfluss, vorausgesetzt, man kümmert sich darum. Es ist kein Schlaraffenland, wo dir die gebratenen Tauben einfach in den Mund fliegen, sondern sozusagen eine Care-Gesellschaft, eine Sorge-Kultur, in der es genug für alle gibt, aber eben nur, wenn alle mithelfen.

In der normalen Welt hingegen herrscht die Logik des „Dovere“ – man muss etwas tun, weil die Mutter es befielt, oder man muss es eben nicht tun, wenn sie es nicht befiehlt. Und es herrscht Mangel, der dadurch erzeugt wird, dass eben nicht alle mithelfen, sondern die einen schuften müssen und die anderen das Privileg haben, zu faulenzen.

Ursprünglich ein herrschaftskritisches Märchen: Im (utopischen) Reich jenseits des Brunnens werden nicht die Privilegierten reich, sondern die Verantwortungsvollen. Goldmarie sieht die Notwendigkeiten der Welt und handelt entsprechend, die Folge ist Reichtum. Pechmarie sieht die Notwendigkeiten der Welt nicht, tut entsprechend das Notwendige nicht, und landet entsprechend in Pech und Unglück.

Aber was im Lauf der Tradition passiert ist, dass die ganze Struktur der Erzählung sich wandelt. In der Ursprungsfassung ist es so, dass das Handeln der Mädchen als Ursache für das beschrieben wird, was sie bekommen – die das Notwendige tut, bekommt Gold, die das Notwendige nicht tut, bekommt Pech.

In der Grimm’schen Bearbeitung jedoch wird das ganze Setting geändert. Das Tun der Notwendigkeit bei Goldmarie wird als „Gehorsam“ und „Fleiß“ geframed, das Nichttun der Pechmarie als „Faulheit“. Aus einer bestimmten Art zu leben – eine tut, was notwendig ist – wird ein moralischer Charaktereigenzug – sie ist fleißig beziehungweise faul. Und gleichzeitig wird Fleißig mit Schön gleichgesetzt, und Faul mit hässlich (auch für heutige Lookismus-Diskussionen interessant).

Aus dem Occorre-Müssen wird ein Dovere-Müssen. Gold und Pech sind nicht mehr die (wertungsfreien) Konsequenzen des eigenen Handelns, sondern (moralisch, wertend) Belohnung und Strafe.

(Auch wichtig in Zusammenhang mit Klimadebatten, die viel zu moralisierend geführt werden, und nicht im Sinne von Konsequenzen)

Die Dinge liegen nah beieinander, ähnlich wie bei „gefährliche Nachbarschaften“: https://www.bzw-weiterdenken.de/2018/07/gefaehrliche-naehe/

Aus einer Fabel, die den Zusammenhang von Handeln und Konsequent schildert, wird so eine Herrschaftsgeschichte mit moralischem Zeigefinger. Dadurch entsteht ein Problem: Warum hat die Mutter eigentlich die faule Tochter lieber als die fleißige? Um das zu erklären, machen die Brüder Grimm aus der fleißigen Tochter die Stieftochter, die Bevorzugung ausgerechnet der faulen Tochter erklärt sich damit, dass sie die leibliche Tochter der Mutter ist.

Wie können wir nun diese symbolische Veränderung wieder rückabwickeln? Aus der herrschaftsförmig-moralischen Interpretation der Brüder Grimm wieder ins Reich der Frau Holle kommen, also in die Ursprungsversion der Geschichte von Dorothea Wild?

Und da ist eben ein erster Schritt, zu unterscheiden, ob jeweils von den Notwendigkeiten der Welt die Rede ist, oder von Zwängen, die aus Herrschaftsverhältnissen entstehen.

Das italienische „occorre“ hat also den Vorteil, dass es klar macht, dass beim Müssen nicht um mich geht, sondern um die Welt geht. Das Verb bezieht sich nicht auf die handelnde Person – ich muss – sondern auf die Situation, die „etwas erforderlich macht“ (wir haben im Deutschen dafür leider kein Verb).

Ich habe das beim Übersetzen italienischer Texte ins Deutsche gemerkt, weil ich das eben oft mit „Müssen“ übersetzt habe, und die Italienerinnen, also die die ein bisschen Deutsch kannten, dem vehement widersprochen haben, also im Sinne von „Nein, es geht nicht um Müssen, sondern um etwas anderes“!

Aber wann ist etwas notwendig? Darüber kann es ja unterschiedliche Auffassungen geben. Wenn wir Müssen nicht als Befehl verstehen, müssen wir selbst entscheiden, was wann notwendig ist. Und das ist dann Gegenstand politischer Verhandlungen.

Corona hat gezeigt, dass viele Menschen fast gar nicht mehr dazu in der Lage sind, Notwendigkeiten der Welt überhaupt zu sehen, sondern sie sofort als „Zwang von oben“ interpretiert werden.

Denn es ist ja klar, dass in einer komplexen Welt die Dinge nicht immer so einfach liegen wie beim fertig gebackenen Brot und beim reifen Apfel. Aber in den Verschwörungsmythen oder in der pauschalen Ablehnung einer „Bevormundungspolitik“ oder dem Bashing gegen Experten und Wissenschaftlerinnen kommt eben auch ein großes Desinteresse am Notwendigen hervor. Viele Menschen scheinen sich gar nicht mehr dafür zuständig zu fühlen, in Erfahrung zu bringen, was notwendig ist, es reicht ihnen, sich gegen „die da oben“ zur Wehr zu setzen.

Dennoch bleibt das Problem, dass das, was notwendig ist, nicht immer klar zu entscheiden ist. Auch jenseits von Fake News und faschistischen Positionen, besteht ein Spektrum dessen, was legitimerweise diskutiert werden kann.

Beispiel Wohnprojekt mit zwei Küchen

Allerdings sehen wir am Beispiel von Corona und der Klimakatastrophe, aber auch bei vielen alltäglichen Dingen, dass Leute glauben, etwas nicht zu „müssen“, obwohl es objektiv notwendig wäre.

Es gibt Leute, die fühlen sich prinzipiell „nicht zuständig“ (wie der Blogger). Diskussion im Feminismus über „mental Load“. Geben für Obdachlose – das soll der Staat machen. Usw.

Um diesen Unterschied zu verstehen, ist eine weitere Sprache hilfreich:

Portugiesisch: Devo / Preciso

Devo Ich muss meine Steuererklärung machen

Preciso Ich muss aufs Klo

Hier ist dem äußeren Zwang „Steuererklärung machen“ ein Bedürfnis des Selbst gegenübergestellt: „Ich muss aufs Klo“.

Auch hier wieder, dass die Verwechslung der beiden Sachen nicht verstanden wird oder für ganz falsch gehalten wird. Ich kann im Portugiesischen nicht sagen, „Ich muss aufs Klo“ im Sinne von „Jemand zwingt mich dazu“. Wenn man da sagt „Ich muss aufs Klo“ und benutzt das falsche Verb, wird man von Muttersprachler:innen ausgelacht, so ähnlich wie bei dem Blogger: „Du musst aufs Klo, haha, wer zwingt dich denn dazu?“

Das heißt, beim Handeln im Angesichts von Notwendigkeiten würde sich die Frage stellen: Wie kommen wir dazu, dass wir aus der Notwendigkeit ein persönliches Bedürfnis machen? Also nicht „Einsicht in die Notwendigkeit“, sondern daraus erwachsend auch das persönliche es tun zu müssen. Und zwar NICHT aus Angst vor Bestrafung.

Also so wie Goldmarie – sie sieht das Brot im Ofen und nimmt es ganz selbstverständlich raus, so wie ich selbstverständlich aufs Klo gehe, wenn ich muss. Nicht wie Pechmarie, die zwar auch das Brot im Ofen sieht, aber es nicht rausnimmt.

Vielleicht ist euch auch ein Satz kurz aufgestoßen, der im Märchen von der Goldmarie vorkam, als sie am Ofen vorbeigeht und er ihr sagt: Das Brot ist fertig, würdest du es rausnehmen, da steht: „Das fleißige Mädchen hatte gleich Lust zu arbeiten.“ Das klingt aus unserer Tugendmoral-Sicht ganz schrecklich, aber das ist unsere verdrehte Sichtweise.

In Wirklichkeit steckt da eine tiefe Wahrheit drin: Wenn man eine Notwendigkeit wirklich erkennt, hat man sofort „Lust, zu arbeiten“. So ähnlich, wie man Lust hat, aufs Klo zu gehen, wenn man ganz dringend muss. Nicht, weil es auf dem Klo so schön ist. Sondern weil Not zu wenden einfach ein Hammer-Gefühl ist.

Ich habe das erlebt Beispiel Rückkehr von Brasilien und Wasser tropfte /

Oder auch Hilfe für die Opfer der Überschwemmungen. –

Die Brüder Grimm haben das auch genauso nicht verstanden, wie die meisten Leute es heute nicht verstehen. Dass das wirkliche Sehen einer Notwendigkeit und das daraus resultierende Handeln in eins fallen und dass daraus Glück und gutes Leben entstehen.

Es muss meiner Ansicht nach auf einen kulturellen Wandel der symbolischen Ordnung zulaufen, bei der wir uns an der Goldmarie im Reich der Frau Holle orientieren: Sie braucht überhaupt keine Begründung für ihr vernünftiges Handeln, weder einen Gott mit Geboten noch einen Rechtsstaat mit Gesetzen noch eine Stiefmutter mit Befehlen. Sie tut es, weil es sie „Lust“ hat, und zwar im Sinne eines eigenen, authentischen inneren Bedürfnisses.

Aber wie kommen wir da hin? Hier nur eine paar Anregungen zum Weiterdenken und auf Lektüren von Denkerinnen die meiner Ansicht nach in dieser Hinsicht gelesen werden könnten:

Die Anarchistin Simone Weil hat sich in den 1930er Jahren mit genau diesem Problem beschäftigt. Sie hat überlegt, wie ein Mensch gut handeln kann angesichts der Tatsache, dass er oder sie so schwach ist, dass die Pflichterfüllung scheitert, sobald der äußere Druck nachlässt. Auch sie hat das übrigens mit „Faulheit“ gleichgesetzt – wahrscheinlich noch geprägt von der patriarchalen Philosophie, aber in Wirklichkeit ein anderes Bild erfunden:

Das Bild, das sie vorschlägt, ist das der Schwerkraft: Während das Modell der Pflicht gewissermaßen so funktioniert, dass der Mensch gegen die Schwerkraft ankämpft, indem er seine unmittelbaren Triebe oder Gelüste bekämpft, war sie der Meinung, es müsse genau andersherum sein.

Irgendwie müsste es gelingen, die moralische “Schwerkraft” für sich arbeiten zu lassen, sodass die Notwendigkeit einer Situation uns sozusagen mit sich zieht in Richtung auf das Gute. Vielleicht ein bisschen so wie beim Nudging, also dem Setzen von kleinen Anreizen im Alltag, die uns unbewusst in Richtung des Guten ziehen. Tatsächlich esse ich mehr Obst, seit die Obstschale im Hotel am Eincheck-Tresen steht, und nicht mehr die Schokoladenriegel.

Es geht also darum, unsere automatischen, unbewussten Anteile zu stimulieren. Simone Weil hatte entsprechende Übungen in ihrem Alltag, der Aufmerksamkeit usw. Quasi als moralisches Training. / „Demut“

Es ist ein Gegenmodell zur Figur des autonomen Denkers, der qua freiem Willen und Vernunft eine moralische Willensentscheidung trifft, weil er „seinen inneren Schweinehund“ überwindet, das typische Heldengemälde, wobei bei Kant der Held sich selbst besiegt bzw. seine egoistischen unmoralischen Anteile.

Weil beschreibt dagegen eine innere Haltung, die sich eher als Gehorsam denn als Pflichterfüllung beschreiben lässt, die mehr mit einem sich Ergeben vergleichbar ist als mit einem dagegen Ankämpfen.

Ihr praktischer Rat dabei: Man soll das Gute nur tun, solange es leicht fällt, denn ansonsten ist die Gefahr groß, das man selber schlecht wird. Man muss es so lange üben, bis es einem leicht fällt. Zwang hilft gerade nicht, aber Übung hilft. Das Richtige zu tun, vernünftig zu Handeln, gelingt mir nicht, indem ich es aus dem Stand heraus in meinem Kopf beschließe. Sondern nur, wenn ich es geübt habe.

Ganz ähnlich beschreibt es Hannah Arendt in Eichmann in Jerusalem, wo sie das Böse als Normalität beschreibt, in die man gerät, wenn man sich in böse Gesellschaft begibt.

Die englische Philosophin und Schriftstellerin Iris Murdoch hat dies in den 1970er Jahren weitergedacht. In ihrem Buch “The Souvereignty of Good” (die Souveränität des Guten) zeigt sie, dass die Vorstellung, ein Mensch würde in einer gegebenen Situation frei entscheiden, eine Schimäre ist. Denn wenn diese konkrete Situation eintritt, werden wir genau so handeln, wie es durch unser bisheriges Leben und das, was wir bis dahin gedacht haben, vorgezeichnet ist. Die menschliche Freiheit, so Murdoch, besteht nicht darin, bei einem punktuellen Ereignis dieses oder jenes Handeln zu wählen aufgrund von moralischen (oder eben auch egoistischen) Überlegungen, die man in eben diesem Moment anstellt. Sondern darin, dass wir in einem endlosen Prozess danach streben, die Welt und die in ihr auftretenden Situationen und Fragestellungen zunehmend “klarer” zu sehen und die ihnen innewohnenden Notwendigkeiten zu erkennen.

Auf diese Weise löst Murdoch den (historisch eher männlichen) Dualismus zwischen “äußerem Zwang” und “innerer Freiheit” auf, der allzu leicht in die Verantwortungslosigkeit führt, aber auch die (historisch eher weibliche) Versuchung, Erwartungen anderer – reale wie eingebildete – unmittelbar befriedigen zu wollen, um Konflikte möglichst zu vermeiden. Vielmehr beschreibt sie den Prozess des “Müssens” als eine wechselseitige Beziehung zwischen dem menschlichen Denken und dem “Guten”, dem also, was die Situation erfordert, würde sie denn in voller Klarheit erfasst werden.

Nicht die Vernunft ermöglicht es den Menschen, das Gute zu erkennen und zu tun, sondern die “Schwerkraft” der jeweiligen Situation, die uns, wenn wir ihr nur die notwendige Aufmerksamkeit entgegenbringen, wenn wir also genau hinsehen und uns darum bemühen, die Realität zu verstehen, unweigerlich “zwingt”, dieses oder jenes zu tun.

In Murdochs Worten: “Wenn man die vorausgegangene Arbeit der Aufmerksamkeit ignoriert und nur die Leere im Moment der Entscheidung sieht, dann ist man geneigt, Freiheit mit dem offensichtlichen Handeln in diesem Moment gleichzusetzen, weil es nichts anderes gibt, womit man sie gleichsetzen kann. Aber wenn wir berücksichtigen, wie die Arbeit der Aufmerksamkeit vor sich geht, wie kontinuierlich sie sich vollzieht, und wie unmerklich sie Wertstrukturen um uns herum baut, sollten wir nicht überrascht sein, dass in den kritischen Momenten der Entscheidung der größte Teil der Entscheidungsfindung bereits geschehen ist.”

Letztlich geht es also eher um eine Praxis als um eine Erkenntnis. Um eine kulturelle Veränderung statt um eine Programm. Das Notwendige zu erkennen und daraus dann ein inneres Wissen darum zu machen, dass man nun auch handeln muss, lässt sich nicht auf Knopfdruck herstellen. Es ist eine Frage der Kultur, der Übung.

Und einen letzten Aspekt möchte ich noch nenne, nämlich der der Beziehung. Dies ist eine Idee der italienischen Philosophin von Diana Sartori, die in ihrem Aufsatz „Du sollst. Ein mütterliches Gebot“ eine Alternative zur Kantschen Ethik entwirft. Das Notwendige zu sehen und zu fühlen ergibt sich nicht auf einer abstrakten Ebene, sondern nur auf einer konkreten – indem ich mich vor anderen Menschen für mein Tun verantworten muss.

Sartori wählt hier die Figur der Mutter, ihr „kategorischer Imperativ“ lautet: „Handle stets so, dass deine Mutter davon erfahren könnte“ – also ihre Idee ist nicht, dass man immer das tut, was die eigene Mutter will, sondern so, dass man es vor der eigenen Mutter vertreten könnte, dass es also den Konflikt mit ihr wert wäre.

So oder so: Müssen ist nicht gleich müssen.

Vom Müssen als Zwang können wir uns nicht befreien, indem wir einfach nur Herrschaftsverhältnisse abschaffen und ihnen unsere Individualität und persönliche Freiheit entgegenstellen.

Auch nicht, indem wir behaupten, ohne Herrschaft wären alle Menschen gut und vernünftig, weil sie eine innere Moral à la Kant quasi aus uns selbst heraus hätten.

Eine Kultur der gegenseitigen Fürsorge, des Sehens der Notwendigkeit UND des entsprechenden Handelns muss hervorgebracht und aufgebaut werden, sie fällt uns genauso wenig in den Schoß, wie sich die Äpfel im Reich der Frau Holle von selber ernten.

Eine Gesellschaft der gegenseitigen Fürsorge ohne äußeren Zwang und ohne innere Moral entsteht nur, indem wir sie bewusst schaffen. Wege dazu liegen in der Wertschätzung von bedeutungsvollen Beziehungen, im Üben von guten Praxen, in der Arbeit an einer symbolischen Ordnung, die von der Fülle ausgeht, in Aufmerksamkeit für die Welt und ihre Erfordernisse, und in der Einübung dieser Aufmerksamkeit durch eine politische Praxis der Politik der Beziehungen.

So ungefähr jedenfalls.

Ich danke euch für eure Aufmerksamkeit und bin gespannt auf die Diskussionen.