Antje Schrupp im Netz

Freiheit, Gleichheit, Wirksamkeit: Wo steht die Frauenbewegung heute?

Vortrag am 9.7.2024 in Holzminden

Die Frauenbewegung war die erfolgreichste soziale Bewegung, die wir jemals hatten. Wohl kaum etwas anderes hat sich in den vergangenen fünfzig Jahren so sehr zum Positiven verändert, wie das Verhältnis von Frauen und Männern.

Vielleicht denken manche von Ihnen jetzt, was ein Quatsch und zählen im Kopf auf, was alles immer noch schlimm ist – und sogar wieder schlimmer wird.

Der rechtskonservative Populismus, der sich aus Antifeminismus speist.

Die vielen Femizide, hierzulande und anderswo.

Die autoritären Systeme weltweit.

Roe vs. Wade in den USA gekippt.

Islamismus auf dem Vormarsch.

Die AfD auf dem Weg zur stärksten Partei.

Das alles ist richtig. Aber trotzdem bleibe ich dabei: Die Frauenbewegung war die erfolgreichste soziale Bewegung, die wir jemals hatten.

Ich habe diesen Satz seit etwa 25 Jahren im Kopf. Damals hörte ich die große, kurz darauf verstorbene Feministin Erika Wisselink, die einen Vortrag hielt, der mich sehr beeindruckt hat. Sie sprach nämlich immer von der Zeit „vor der Frauenbewegung“ und „nach der Frauenbewegung“, so als handele es sich hierbei um ein sehr einschneidendes Ereignis, sozusagen um eine Zeitenwende.

Eine Zeitenwende, die ich, 1964 geboren, schon nicht mehr mitbekommen hatte.

Ich bin bereits „post-Feministin“ in dem Sinne, dass in meiner Jugend die Frauenbewegung schon passiert war.

Wie viel mehr gilt das für die heute jüngeren Frauen, die in den 1980ern, 1990ern geboren wurden oder sogar erst in diesem Jahrtausend!

Aber als Historikerin und als eine, die viel von älteren Frauen, der Generation vor mir, gelernt hat, kann ich sagen, dass es stimmt: Die Frauenbewegung der 1970er Jahre hat ungeheuer viel verändert.

Da wären zunächst einmal die offensichtlichen Fakten: Frauen haben heute gleiche Rechte, in vielen Ländern der Welt, nicht nur in Europa. Ja, oft ist das nur formal so und im realen Leben gibt es trotzdem Benachteiligungen, aber auch das Formale ist nicht unwichtig.

Dieser Prozess der rechtlichen Gleichstellung von Frauen hat natürlich schon lange vor den 1970er Jahren angefangen. Eigentlich schon zu dem Zeitpunkt, als die Idee der gleichen Rechte in Europa erfunden wurde, also im 18. Jahrhundert. Mit der französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – wurde die Idee, dass alle Menschen gleich seien und daher auch vor dem Gesetz gleich behandelt werden müssen, offiziell proklamiert.

Von Männern allerdings. Und zwar bekanntlich von Männern, die die Frauen nicht im Sinn hatten. Die Erfinder der westlichen Moderne dachten, sie könnten gleiche Rechte allein auf die Männer beschränken.

Aber von Anfang an haben politische Denkerinnen und Aktivistinnen darauf hingewiesen, dass das unlogisch ist, ich erinnere nur an Mary Wollstonecraft oder Olympe de Gouges. Sie beide haben schon im 18. Jahrhundert die Rechte der Frauen eingeklagt. Und auch wenn es dann noch ein gutes Jahrhundert gedauert hat, bis sich zwischen 1906 und 1970 das Frauenwahlrecht praktisch in der ganzen Welt durchgesetzt hat, war diese schon 1789 absehbar.

Schon damals ging es den Feministinnen nicht nur ums Wählen, nicht ums Prinzip, sondern sie forderten ihre politischen Rechte ein, weil sie konkrete Ungerechtigkeiten in den Lebensverhältnissen von Frauen verändern wollten: Ehe und Familienformen, Bildung, Erwerbsarbeit und so weiter. Und auch wenn eine bürgerliche Frauenbewegung manchmal den Fokus zu stark auf die formale Gleichberechtigung richtete, so gab es doch schon immer auch unter Sozialistinnen, Antirassistischen Aktivistinnen und anderen Gruppierungen feministische Ansätze, die darauf bestanden, dass Feminismus radikaler sein muss, und an die Wurzeln dieser sozialen Ungerechtigkeiten. Es gab schon immer intersektionale Perspektiven im Feminismus, auch wenn das früher nicht so genannt wurde.

Später, in den 1970er Jahren, gaben sich dann immer mehr Frauen nicht mehr mit einer formalen Gesetzgebung zufrieden, sondern forderten tatsächliche Gleichheit. Frauenförderpläne und Quotenregelungen wurden eingeführt, damit Frauen nicht nur vor dem Gesetz, sondern auch faktisch gleichberechtigt werden. Inzwischen sind Gleichstellungsbeauftragte weithin eine feste Institution, Gender Mainstreaming, also das von oben nach unten durchgesetzte Verfahren, wonach alle staatlichen Gesetze und Maßnahmen auf ihre Auswirkungen auf Männer und Frauen untersucht werden sollen, ist eine verbindliche EU-Richtlinie geworden. Das Bekenntnis zur Gleichheit von Frau und Mann vor dem Gesetz ist offizielle Richtlinie der Politik in Westeuropa und den USA, aber auch in vielen anderen Ländern der Welt.

Diese Erfolgsgeschichte lässt es manchmal so scheinen, als sei die Gleichstellung die wesentliche Forderung und der Kern der Frauenbewegung. Tatsächlich wird von vielen Feminismus mit Emanzipation gleichgesetzt. Aber das ist falsch.

Nicht Emanzipation und Gleichstellung sind die wesentlichen Errungenschaften der Frauenbewegung und das, was die zeithistorische Wende von „vor dem Feminismus“ und „nach dem Feminismus“ ausmacht, von der ich anfangs gesprochen habe.

Denn wie gesagt: Die Emanzipation der Frauen kam nicht überraschend, sie ist die logische Konsequenz, wenn man die Idee von der „Gleichheit aller Menschen“ erst einmal postuliert hat.

Feminismus hingegen bedeutet die Befreiung des weiblichen Begehrens. Emanzipation und Gleichstellung orientieren sich an dem, was die Männer schon haben. Feminismus beinhaltet die Möglichkeit, dass Frauen etwas anderes wollen können.

Die Emanzipation war vorhersehbar, Feminismus ist es nicht.

Es gibt durchaus Emanzipation ohne Feminismus. Er äußert sich in so Sätzen wie „Ich bin ja auch für die Gleichstellung der Frauen, ABER…“

Feminismus ist in die Zukunft hinein offen für das, was Frauen wünschen und wollen, und das kann niemand vorhersehen, auch die Frauen selbst nicht. Wir wissen ja nicht, was sie oder unsere Töchter und Enkelinnen in Zukunft einmal begehren werden.

Diese weibliche Freiheit, die Welt nach dem eigenen Begehren zu verändern und zu gestalten, ist viel revolutionärer als Emanzipation. Sie geht viel tiefer, es verweist nicht nur auf eine Integration von Frauen in die gegebenen Institutionen, sondern auf eine mögliche Umwälzung dieser kulturellen Grundlagen unserer Gesellschaft.

Und das ist meiner Ansicht nach der Grund, warum Feminismus heute, hundert Jahre nach der Gleichberechtigung der Frauen, immer noch so stark umstritten ist, so ein Reizthema.

Denn ich finde, so kann man die gegenwärtigen Feminismusdebatten verstehen: Sie handeln davon, wo die Grenze zu ziehen wäre zwischen einem „guten“ Feminismus, der die reibungslose Integration von Frauen in die gesellschaftlich-ökonomischen Strukturen voranbringt, und einem „bösen“ Feminismus, der den Bogen überspannt, zu radikal ist, die Leute vor den Kopf stößt, den Boden des Diskutablen verlässt. Ein Feminismus, der sich, mit anderen Worten, nicht mit der Integration der Frauen in das Bestehende zufriedengibt, sondern dieses Bestehende grundlegend hinterfragt.

„Wir wollten die Welt verändern, und sie haben uns die Gleichstellung angeboten“ – so fasst die italienische Philosophin Luisa Muraro diese Spannung zusammen.

Dieses Potenzial des Feminismus, nicht nur die Integration von Frauen in ein bestehendes System zu betreiben, sondern die Veränderung dieses Systems, das ist das, was so viele Emotionen hervorruft.

Zum Beispiel beim so genannten „Gendern“ in der Sprache, was eine schlechte Formulierung ist, weil Sprache ja immer gegendert ist. Alles war noch halbwegs gut, solange Frauen nur neben den Männern mitgenannt werden wollten. Aber in dem Moment, wo neue Zeichen wie der „Asterisk“, das Gendersternchen, eingeführt werden, um eine Lücke im zweigeschlechtlichen System zu markieren, dann geht das zu weit.

Solange Frauen forderten, ebenso wie Männer dies und jenes tun zu dürfen, war es okay. Aber wenn Personen sich weigern, einem Geschlecht eindeutig zugeordnet zu werden, sondern die Grenzen der traditionellen Zuschreibungen überschreiten, also sich als trans verstehen, dann nicht mehr.

Die italienische Philosophin Luisa Muraro hat diesen Konflikt einmal anschaulich beschrieben. Irgendwann in den 1970er Jahren hatten die Feministinnen an ihrer Universität dafür gekämpft, dass Frauen in einen bestimmten, bis dahin rein männlichen philosophischen Club aufgenommen werden dürften. Als das dann endlich der Fall war, bei dem ersten Treffen, zu dem Frauen, darunter auch Luisa Muraro, gingen, begrüßte der Vorsitzende sie mit so Worten wie: Schön, dass Sie jetzt auch hier mitmachen, und ging dann ganz normal zur Tagesordnung über, so als wäre gar nichts weiter passiert. Während aus Sicht der Frauen etwas ganz Entscheidendes passiert war. „Sehen Sie denn nicht, dass jetzt hier alles anders ist?“ Fragte die junge Luisa Muraro den Vorsitzenden. Aber er sah es nicht.

Und ich denke, das ist genau die Situation, in der wir uns jetzt befinden. Die „Männer“ – in Anführungszeichen, denn die Geschlechter sind nicht mehr so klar abgegrenzt – meinen, dass die Geschichte mit der erfolgreichen Gleichstellung der Frauen zu Ende sei oder sein müsste. Die „Frauen“ beziehungsweise feministisch bewusste Menschen wissen hingegen, dass die Geschichte mit der Gleichstellung der Frauen erst angefangen hat.

Es gibt so einen Spruch, der sogar unter Feministinnen beliebt ist, der heißt: „I‘ll be a post-feminist in post-Patriarchy“, ich werde eine Post-Feministin sein, wenn das Patriarchat vorbei ist. Mir gefällt dieser Spruch überhaupt nicht. Denn es legt nahe, dass wir das Patriarchat brauchen würden als Legitimation dafür, feministische Politik zu machen. Nein, gerade wenn das Patriarchat vorbei ist, müssen wir Feministinnen sein, denn dann haben wir ja, weil wir gleichberechtigt sind, viel bessere Möglichkeiten, unsere Vorstellungen zu verwirklichen.

Im Post-Patriarchat, bin ich erst recht Feministin.

Denn: Nur weil Frauen gleichgestellt sind, ist die Welt ja noch lange nicht gut. Das sieht man zum Beispiel am Thema Care-Arbeit. Wir leben einer Welt, in der Sorgetätigkeiten in den Wirtschaftstheorien systematisch ignoriert werden, mit der Folge, dass sie schlecht bezahlt und prekär sind, Sie wissen das alle. Frauen haben das als erste kritisiert, weil sie in patriarchaler Logik dafür verantwortlich gemacht werden und also besonders betroffen sind. Aber wenn wir das jetzt gleich zwischen den Geschlechtern aufteilen, also genauso viele Männer die unbezahlten Sorgearbeiten übernehmen und genauso viele Frauen in Aufsichtsräten sitzen, aber die ungerechten Wirtschaftsverhältnisse bleiben, wie sie sind – was wäre da gewonnen? Nichts!

Eine Welt, die so ungerecht bleibt, wie sie ist, nur dass das Verhältnis von Frauen und Männern überall fifty-fifty beträgt, ist doch kein Fortschritt, auch kein feministischer. Ungerechte Geschlechterverhältnisse, wie die ungleiche Verteilung bei Einkommen und Vermögen oder die Überrepräsentanz von Männern in gesellschaftlichen Führungspositionen, sind nicht selbst das Problem, sondern lediglich Symptome von Ungerechtigkeiten, die viel tiefer liegen. Sie verlangen radikale, an die Wurzel gehende Analysen und Projekte.

Metoo war so eine Aktion, denn dabei wurde nicht nur offensichtliche Gewalt gegen Frauen angeprangert, sondern gerade auch die kleinen, alltäglichen Sexismen, die wie nebenbei passieren und in den Augen vieler normal und harmlos erscheinen. Aber auch die Debatten über Transgeschlechtlichkeit, über eine Neubewertung von Sexarbeit, die Kritik an einem „weißen“ Feminismus und so weiter gefallen mir. Nicht, weil ich inhaltlich mit jedem einzelnen Punkt einverstanden wäre. Sondern weil diese Debatten zeigen, dass über das gegebene Geschlechtersystem hinausgedacht wird. Dass es nicht um die Anerkennung innerhalb des Bestehenden geht, sondern um eine Veränderung der Grundlagen unserer Geschlechterordnung.

Seit einiger Zeit sind verschiedene Akteur*innen bemüht, einen solchen „bösen“ Feminismus disziplinierend in die Schranken zu weisen. Durch dessen „Überspitztheit“ würden viele Menschen, zum Beispiel auch sie selbst, abgeschreckt. Obwohl sie selbstverständlich auch für Emanzipation und Gleichstellung sind, weisen sie darauf hin, dass man es eben nicht übertreiben darf. Als Referenz wird gerne auch auf den eigenen Bekanntenkreis verwiesen, der aus lauter Frauen und Männern besteht, die durchaus emanzipiert sind, aber eben mit so einem radikalen überspannten Getue nichts anfangen können.

Ihr Fazit: Schuld daran, dass Feminismus unbeliebt ist oder nicht in den gesellschaftlichen Mainstream vordringt, sind die „bösen“ Feministinnen, die die Bemühungen der „guten“ Feministinnen konterkarieren.

Und, neuester Plot-Twist: In dieser Logik ist dann gerne auch mal der Feminismus daran schuld, wenn rechtsextreme und neofaschistische Parteien immer mehr Zulauf haben.

Dieses Narrativ von den Übertreibungen eines radikalen Feminismus, der die gerechtfertigten Forderungen nach Emanzipation und Gleichstellung konterkariert, verträgt sich im Übrigen auch bestens mit einem karriereorientierten Postfeminismus, der ebenfalls die Schuld für das Scheitern frauenpolitischer Fortschritte bei den Frauen selbst sucht. Für ihn stehen Autorinnen wie die frühere Co-Geschäftsführerin von Facebook, Sheryl Sandberg, die Frauen auffordern, die Möglichkeiten der Emanzipation konsequenter zu nutzen. Laut diesem „Lean-In“-Feminismus sollen Frauen sich eben mehr „Reinhängen“, dann könnten sie auch Karriere machen, anstatt die Schuld für den statistisch weiterhin eindeutig belegbaren weiblichen Misserfolg ständig den Strukturen in die Schuhe zu schieben. Die Botschaft lautet: Die Möglichkeiten für Frauen sind längst geschaffen, jetzt müssen sie sie nur noch nutzen.

Und dann sind da schließlich auch noch die organisierten Antifeministen, die Frauenhasser, die Männerrechtler, die Rechtsextremen, die Putin-Propagandisten, die christlichen Fundamentalistinnen und radikalen Abtreibungsgegnerinnen, für die Antifeminismus das einigende Band ist, und die nicht nur feministische Freiheit, sondern inzwischen sogar auch gleichstellungspolitischen Errungenschaften gezielt zu untergraben versuchen.

Ist das nun ein Rückschritt? So kann man es sehen. Vielleicht ist es aber auch gerade ein Zeichen dafür, dass Feminismus erfolgreich war.

Denn nicht nur Antifeminist*innen werden stärker oder diejenigen, die sich darum bemühen, den Feminismus in die „Schranken der Gleichberechtigung“ zu verweisen, sondern gleichzeitig hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren auch eine Art feministischer „Durchdringung“ gesellschaftlicher Debatten eingestellt.

Der Einfluss von Feminist*innen beschränkt sich längst nicht mehr auf das Thema „Feminismus“ selbst. Fast noch wichtiger ist das themenbezogene Engagement geworden. Inzwischen gibt es sehr viele Menschen in einflussreichen Positionen, sei es in den Medien, in Institutionen, in Partien, in Verwaltungen, an Universitäten, auch in Konzernen und überhaupt in der Wirtschaft, im Kulturbereich sowieso, die sich ganz selbstverständlich als feministisch verstehen und sich entsprechend in ihren jeweiligen Themen- und Verantwortungsbereichen engagieren.

Als eines der wichtigsten Aktionsfelder, in denen Feministinnen sich in letzter Zeit engagieren, hat sich das Thema „Care“ herauskristallisiert. Dieses Jahr, im Oktober, feiert das Netzwerk „Care Revolution“ in Leipzig sein zehnjähriges Besehen. Darin haben sich Gruppen, Initiativen und Einzelpersonen zusammengeschlossen, um Ökonomie aus einer Perspektive der Sorgearbeit neu zu fassen.

Aber auch Bewegungen wie Fridays for Future, Omas gegen Rechts, Seenotrettung für Geflüchtete und so weiter sind sichtbar stark von Frauen geprägt.

Diese Initiativen speisen sich ganz offensichtlich aus feministischen Hintergründen und auch Theorien; es geht ihnen aber nicht mehr in erster Linie um eine Verbesserung der Situation nur „der Frauen“, sondern darum, die feministischen Erkenntnisse und Perspektiven der vergangenen Jahrzehnte „postpatriarchal“ weiterzuentwickeln und in Projekte einzuführen, die die Welt als solche und das Zusammenleben der Menschen generell im Blick haben.

Die Verwobenheit von geschlechtsspezifischen Hierarchien mit anderen Diskriminierungsachsen, insbesondere rassistischen und ökonomischen, ist zur Grundlage praktisch aller feministischen Aktivitäten geworden. Stichwort Intersektionalität. Oft wird das als Kritik an einem „weißen, bürgerlichen“ Feminismus geframed, und diese Kritik ist natürlich wichtig und notwendig. Aber es lässt sich auch darin eine Verbreitung feministischer Positionen in andere Themenbereiche hinein sehen. Denn es geht bei Intersektionalität ja nicht nur darum, in feministischen Projekte die Perspektiven rassistisch diskriminierter, migrantischer oder armer Frauen ernst zu nehmen, sondern andersrum auch darum, dass Antirassismus, Antikapitalismus und so weiter selbst ausdrücklich eine feministische Perspektive einnehmen müssen.

Wenn wir also heute Bilanz zum Stand der Frauenbewegung ziehen wollten und die Frage nach ihrer Wirksamkeit stellen, haben wir eine paradoxe Situation: Einerseits sind Feminist*innen überall zu finden. Egal, welches Themenfeld man bearbeitet, gibt es dazu eine Fülle von feministischen Analysen, und egal wohin man geht, ob in die Politik oder in die Medien, findet man auch feministische Perspektiven. Andererseits nimmt der Antifeminismus stark zu und gewinnt innerhalb von rechtsextremen, aber auch in radikal konservativen und neoliberalen Parteien und Perspektiven an Bedeutung.

Die Politikwissenschaftlerin Susanne Kaiser stellt in ihrem aktuellen Buch „Backlash“ die These auf, dass wir die Entwicklung der Frauenbewegung nicht mehr in Form von Wellen beschreibe sollten, also dass auf eine Phase feministischer Errungenschaften eine Gegenbewegung erfolgt, die dann wieder zu einem frauenpolitischen Aufbruch folgt und so weiter. Sondern ihrer Ansicht nach passiert heute beides gleichzeitig: Auf der einen Seite verzeichnet der Feminismus immer weitere Erfolge, wird radikaler und verbreitet sich in der Gesellschaft – und gleichzeitig werden auch die Antifeministen stärker, nimmt Gewalt gegen Frauen zu.

Die Feminismus-Frage steht, mit anderen Worten, im Zentrum dessen, was wir als Polarisierung der Gesellschaften erleben.

Die Frage, wie man zur Freiheit von Frauen und queeren Personen steht ist heute fast schon so etwas wie ein Lackmustest zwischen autoritären, patriarchalen politischen Gruppen und Regimen und den anderen. Es wird zu einem Identitätsmarker, der nicht nur für Frauenfeindlichkeit steht, sondern für Demokratiefeindlichkeit.

Und aus diesem Grund muss es heute mehr als früher darum gehen, dass alle liberalen und demokratischen Kräfte die Bedeutung des Feminismus verstehen.

Und das tun sie leider noch nicht genügend.

Ein gutes Beispiel ist der § 218, das strafrechtliche Verbot von Abtreibung. Die Expertenkommission der Bundesregierung schlägt dessen Abschaffung vor. Auch alle großen Frauenverbände, der Deutsche Frauenrat, die Evangelischen Frauen in Deutschand, Ärztinnen, Politikerinnen, Juristinnen fordern das. Über 80 Prozent der Bevölkerung ist dafür, es nicht mehr zu kriminalisieren, wenn ungewollt Schwangere abtreiben.

Aber warum wird es nicht gemacht?

Weil ein Großteil dieser 80 Prozent das Thema nicht so wichtig und dringlich findet. Sie befürchten weitere Polarisierung, sie wollen den Konflikten aus dem Weg gehen. Aber das wird nicht möglich sein, weil Rechtspopulisten nicht an einem bestimmten Punkt aufhören. Kompromisse gehen sie nur dann ein, wenn sie nicht genug Macht haben, um mehr zu erreichen. Sobald sie das können, gehen sie weiter, wie man in den USA bei der Abschaffung von Roe vs. Wade gesehen hat.

Und das Thema Abtreibung ist nur eines von vielen Beispielen.

Ich glaube deshalb, dass wir gerade in eine neue Phase des Feminismus eintreten:

Die erste war die Emanzipation und die Gleichstellung – dass Frauen formal dieselben Möglichkeiten und Rechte haben wie Männer.

Die zweite Phase war die Entdeckung der weiblichen Freiheit, eines Selbstbewusstseins der Frauen, das nicht mehr das Männliche als Maßstab akzeptiert hat, sondern eigene Wünsche und Wege gefunden hat.

Jetzt aber geht es ums Ganze, um die Welt. Wie wollen wir leben. Welche Vorstellungen von Freiheit und Gerechtigkeit haben wir. Wie wollen wir die menschlichen Bedürfnisse erfüllen. Was machen wir mit unserer Erde und ihren Lebensgrundlagen. Feminismus, die Bedeutung von Geschlecht, von Körperlichkeit, von Gebürtigkeit, reproduktive Freiheit, all diese Themen sind dabei ganz zentral, aber eben nicht losgelöst von anderen Politikfeldern.

In anderen Worten: Feministisches Bewusstsein kann nicht mehr die Angelegenheit von Frauen, von queeren Personen und von einer kleinen Gruppe feministischer Männer bleiben, wie es in den 1970er Jahren der Fall war. Sondern wir müssen aus den Erkenntnissen der Frauenbewegung einen gesellschaftlichen, politischen Konflikt generieren, der auf offener Bühne ausgetragen wird.

Nicht, indem wir uns hinter einer gemeinsamen feministischen Fahne versammeln. Frauen haben nicht qua Geschlecht eine gemeinsame politische Meinung. Sie haben keine allen gemeinsamen Interessen und nicht alle dieselben Prioritäten und Forderungen. Wir müssen nicht mit einer Stimme sprechen, sondern die vielen Stimmen feministischer Subjekte hörbar und sichtbar und einflussreich machen.

Wir müssen, im Gegenteil, die Konflikte unter Feministinnen, unter Frauen, sichtbar machen und auf die politische Bühne bringen.

Beispiel erzählen vom Grundeinkommens-Erlebnis.

Wenn wir als Frauen frei und sichtbar sein wollen, in all unserer Unterschiedlichkeit, dann müssen wir nicht eine amorphe Masse namens „Frau“ konstruieren und gegen Angriffe bewahren. Wir verlieren nichts dadurch, dass wir den Begriff offen und flexibel und kontextabhängig halten. Und wir verlieren im Übrigen auch nichts dadurch, dass die Bedeutung von „Frausein“ nicht mehr von objektiven Kriterien wie Genitalien oder Chromosomen oder einer bestimmten Sozialisation abhängig gemacht wird, sondern eine reine Selbstbeschreibung ist:

Ich bin eine Frau, weil ich es sage. Und aus keinem anderen Grund.

Das ist nicht das Ende des weiblichen politischen Subjekts, sondern im Gegenteil, sein Anfang. Denn es heißt, dass die Bedeutung meines Frauseins mir nicht mehr von außen auferlegt wird, sondern ich frei darin bin, diese Bedeutung zu finden, und meinem Frausein einen Sinn zu geben.

Vor diesem Hintergrund möchte ich noch einmal auf den Satz vom Anfang zurückkommen: Nach der Frauenbewegung ist nichts mehr so wie vor der Frauenbewegung.

Diesen Satz kann man als Zeitenwende verstehen – als ein historisches Ereignis, das die Welt verändert hat.

Diesen Satz kann man aber auch persönlich verstehen: Als den Moment, in dem ich, eine bestimmte, konkrete Frau, verstehe und erkenne, dass mein Frausein nicht meine Unfreiheit bedeutet, dass ich als Frau nicht schwächer und weniger wert bin als Männer, dass ich mein Frausein nicht verleugnen muss, um aktiv in der Welt handeln zu können.

Die historische Erkenntnis, die die Frauenbewegung öffentlich gemacht hat, wiederholt sich individuell in jeder Frau – oder eben auch nicht. Es gibt auch heute noch Leute, die in gewisser Weise „vor der Frauenbewegung“ leben, weil sie glauben, das Frausein erschöpfe sich in Zuschreibungen, Unterwerfungen, Diskriminierungen und Benachteiligungen. All das – die Zuschreibungen und Diskriminierungen – gibt es natürlich. Aber sie machen nicht das Frausein aus. Was mein Frausein ausmacht, welche Bedeutung es hat, das bestimme ich selbst.

Und damit komme ich zum letzten Punkt dessen, was ich heute sagen möchte: Die Frage, wie wir dazu beitragen können, dass weibliche Freiheit sich ausbreitet.

Was mir derzeit am meisten Sorgen macht, das sind nicht die Rechtsextremen und Autoritären, die Frauenrechte aktiv bekämpfen. Das sind unsere politischen Gegner, es gab sie immer, dagegen müssen wir uns wehren, so wie das freiheitsliebende Frauen seit Jahrhunderten tun.

Was mir mehr Sorgen macht ist, ist, dass weibliche Freiheit heute auch von manchen Frauen wieder zurückgewiesen wird. Das ist ebenfalls nichts neues. Früher, „vor der Frauenbewegung“, glaubten ja die meisten Frauen nicht an ihre Freiheit. Auch Frauen glaubten vor der Zeitenwende des Feminismus, dass es die natürliche oder göttliche Bestimmung von Frauen sei, sich den Männern unterzuordnen und nicht aufzubegehren, dass Frauen qua Geschlecht schwächer und weniger wert wären als Männer.

Aber damals war ja die Idee der weiblichen Freiheit, also dass Frausein nicht Unterdrückung bedeuten muss, sondern auch Freiheit bedeuten kann, weil wir selbst es sind, die dem Frausein eine Bedeutung geben, noch nicht in der Welt.

Heute hingegen, wo Frauen all diese Optionen haben, die Rechte, die Gleichstellung, das Selbstbewusstsein der Freiheit – ist es schon erklärungsbedürftig, warum eine ganze Reihe von ihnen diese Wende zurückweisen.

Zum Beispiel mit dem Instagram-Trend der so genannten „Tradwifes“, der „traditionellen Ehefrauen“, die als Influencerinnen predigen, wie schön es ist, ganz in der Rolle des Privatlebens und der Unterstützerin ihres Mannes und ihrer Kinder aufzugehen. Die ihren Followerinnen erzählen, dass es doch weder erstrebenswert noch notwendig ist, wenn Frauen öffentlich präsent sind und politisch mitreden und so weiter.

Es gibt diese „Tradwife“-Trends in unterschiedlichen Communities, in deutschen Bastelblogs, in islamischen „Modesty“-Communities, in der christlich-fundamentalistischen Country-Variante, in antiwestlichen russischen Medien und so weiter. Es scheint ein globaler, und kulturübergreifender Trend zu sein. Und es tatsächlich oft junge Frauen, die nicht nur zu Anhängerinnen, sondern tatsächlich auch zu Unterstützerinnen und sogar Vorkämpferinnen einer autoritären Wende werden.

Sicher, es mag eine Rolle spielen, dass man mit so einem Auftritt Geld verdienen kann, aber die hohen Zahlen der Followerinnen dieser Accounts zeigen, dass sie durchaus einen Nerv treffen. Die Welt ist hart, die wirtschaftlichen und politischen Bedingungen werden immer schwieriger, Kriege und Klimakatastrophe stellen uns als Menschheit vor schier unlösbare Aufgaben. Von einer Existenz als „Tradwife“ zu träumen, kann eine Form des Eskapismus sein.

Es hilft aber nichts, mit moralischem Zeigefinger dagegen anzukämpfen oder Lehrstunden über den Feminismus abzuhalten. Ich zitiere zum Ende noch einmal die italienische Philosophin Luisa Muraro, eine große Lehrmeisterin der Freiheit, meine Lehrmeisterin jedenfalls. Sie hat schon vor 22 Jahren in einem Vortrag zu genau diesem Thema gesagt:

„Wer wie ich den Anspruch hat, Freiheit zu lehren, muss wissen, dass man dabei einen grundlegenden Schritt nicht überspringen darf, und zwar die bewusste Entscheidung für die Freiheit. Freiheit ist nichts Selbstverständliches, sie ist nichts, was die Gesellschaft, so liberal sie auch sein mag, von sich aus den Menschen anbieten kann. Zum Freisein gelangen wir durch eine bewusste Entscheidung und einen Kampf, der niemals als beendet gelten kann. Das Patriarchat ist zu Ende, aber das System der Herrschaft ist nicht zu Ende. Auch ein weiblicher gesellschaftlicher Kontext, der feministische inbegriffen, produziert Konformismus. Wie soll es also gehen, „Freiheit lehren“? – Per Ansteckung. Liebe zur Freiheit ist ansteckend. Die Ansteckung erfolgt aber nicht, indem man Feminismus lehrt, sondern indem wir unsere Freiheit und die der anderen lieben.“

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit