Feminismus und Sexarbeit.
Vortrag bei einer Veranstaltung der Beratungsstelle iBUS am CGI Uni Innsbruck, 5.3.2024
Kaum ein Thema ist unter Feministinnen so umstritten wie Sex gegen Bezahlung: Die einen fordern Akzeptanz des Metiers ein, andere wollen Sexkauf verbieten.
Ich selbst bin in dieser Auseinandersetzung nicht neutral, weil ich es falsch fände, Sexkauf gesetzlich zu verbieten. D.h, in Bezug auf das so genannte „nordische Modell“ bin ich klar positioniert, nämlich dagegen.
Aber ich finde ich doch, dass auf beiden Seiten interessante und wichtige Argumente vorgebracht werden.
Ich bin deshalb sehr dafür, miteinander im Gespräch zu bleiben, statt sich zu bekämpfen. Es geht nicht nur darum, ob man Daumen hoch Daumen runter zu einem Gesetzesvorhaben macht, sondern um eine differenzierte Debatte über das Phänomen Sexkauf und eine feministische Analyse dieser Komplexität.
Zumal die Vehemenz, mit der dieser Streit geführt wird, nicht dazu passt, dass es im Wesentlichen eine große Einigkeit in vielen Punkten gibt. Beide Seiten wollen für die Frauen oder in der Sexarbeit tätigen Menschen und eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen eintreten. Es besteht nur Uneinigkeit darüber, welches dazu der richtige Weg ist.
Das ist nicht wenig, wenn man sich vor Augen führt, wie stark gesellschaftliche Stigmatisierung und Ausgrenzung von Sexarbeiter:innen nach wie vor ist. Vor zwei Wochen sind drei Sexarbeiterinnen in einem Bordell in Wien ermordet worden. Wenn Menschen abgewertet werden, ist die Hemmschwelle, sie zu verletzen, niedriger und das bedeutet für die Betroffenen einer reale Gefahr. Gegen eine solche Stigmatisierung vorzugehen, Leben und Gesundheit von Sexarbeiterinnen zu schützen, die gesellschaftliche Verachtung, die ihnen entgegenschlägt, abzubauen, ist ein gemeinsames Anliegen von Feministinnen.
Gleichzeitig sind wir uns alle einig darin, dass die sexualisierte Ausbeutung von Menschen bestraft werden muss. Zwangsprostitution, Menschenhandel, ausbeuterische Arbeitsverhältnisse, all das muss bekämpft werden, auch da sind sich alle feministischen Fraktionen einig.
Es gäbe also zahlreiche Forderungen, die gemeinsam vorgebracht werden können: die Entstigmatisierung der Betroffenen, gut ausgestattete Beratungsstellen und Hilfsangebote, Zeuginnenschutz, Aufenthaltsrecht für Frauen, die in Menschenhandelsprozessen aussagen, und vor allem bessere soziale und materielle Absicherung für Frauen, auch von Migrantinnen und Alleinstehenden.
Wir könnten uns auf diese gemeinsamen Forderungen verständigen und sie politisch vorzutragen.
Und in einem zweiten Schritt uns auch darüber zu streiten, also kontrovers zu diskutieren, wo sich die Positionen unterscheiden und vor allem auch warum.
Scheiden tun sie sich zunächst schon bei der Wortwahl: Von »Sexarbeit« sprechen die einen, von »Prostitution« die anderen. Oft wird das als plakatives Label verwendet: Je nach Wording, weiß man schon, auf welcher Seite die andere steht. Aber viel Interessanter ist das inhaltliche Detail:
Diejenigen, die von »Sexarbeit« sprechen, haben folgendes Szenario im Sinn: Da ist ein Mensch, der sexuelle Bedürfnisse hat und deren Befriedigung einer professionellen Sexarbeiterin anvertraut. Diese wiederum hat den Beruf aus freien Stücken gewählt, zum Beispiel, weil er vergleichsweise gutes Geld bringt.
Von »Sexarbeit« zu sprechen heißt, den Tausch von Sex gegen Geld neutral darzustellen, akzeptierend, ohne negative Bewertung. Eine »Sexarbeiterin« ist eine professionelle Dienstleisterin, die einen bestimmten Service anbietet, um damit Geld zu verdienen. Sie verbindet mit dieser Arbeit weder Scham noch Unbehagen noch geringes Selbstwertgefühl. Wer den Begriff Sexarbeit wählt, will sagen, dass vor allem die gesellschaftliche Stigmatisierung, nicht die Tätigkeit als solche das Problem ist.
Das Wort „Sexarbeit“ zieht eine Parallele zu anderen Berufen: Auch da ist nicht jeder Aspekt der Arbeit völlig frei gewählt, denn womit man Geld verdienen kann, hängt von vielen Faktoren ab, den eigenen Talenten und Fähigkeiten, den sozialen Umständen, gesetzlichen Rahmenbedingungen, materiellen Verhältnissen, der Marktlage. Wer von »Sexarbeit« spricht, will also sagen: Was hier geschieht, ist normal und nicht moralisch schlechter als anderes, was Menschen tun, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
In diese Richtung ging die Liberalisierung des Prostitutionsparagrafen in Deutschland im Jahr 2001.
Wer hingegen von »Prostitution« spricht, hat ein patriarchales System vor Augen, das Frauen dazu nötigt, mit beliebigen Männern Sex zu haben, wobei die Hauptprofiteure Bordellbetreiber, Zuhälter und Freier sind. Von »Prostitution« zu sprechen beinhaltet eine eindeutig negative Wertung.
Früher traf diese Wertung die Frau selbst: Das Wort »Prostitution« kommt aus dem Lateinischen und bedeutet, etwas »nach vorne zu stellen«, also sich preiszugeben und auszustellen. Prostituierte tun etwas, das sogenannte anständige Frauen nicht tun, sie geben sich fremden Männern hin, und das aus niederen Beweggründen, nämlich Geld.
Heute ist das, zumindest offiziell, anders. Es wird ist moralisch nicht mehr angeprangert, wenn Frauen sich öffentlich darstellen oder Geld verdienen wollen. Aber der Begriff Prostitution ist immer noch negativ konnotiert, wenn auch mit anderem Fokus. Die Kritik, vor allem die feministische, gilt nicht den Frauen, sondern einem System, das, gestützt von einer hierarchischen und frauenfeindlichen Geschlechterordnung, Sex mit Frauen (und jungen Männern) als Ware vermarktet, und zwar auf eine Weise, die nicht nur der Würde der betroffenen Frauen zuwider läuft, sondern der Würde von Frauen generell.
Das Interessante an dieser Kontroverse ist, dass sie quer liegt zu den üblichen politischen Lagern: Nicht nur gehen die Länder Europas in dieser Frage unterschiedliche, ja gegensätzliche Wege. Auf beiden Seiten finden sich überzeugte Feministinnen ebenso wie konservative Apologeten fixer Geschlechtsrollen.
Beide Seiten können sich dabei auf die Betroffenen selbst berufen: Sexarbeiterinnen sprechen über die Chancen und den Sinn ihrer Arbeit, ehemalige Prostituierte über die entwürdigenden und frauenverachtenden Zustände, denen sie entronnen sind.
Was machen wir daraus? Statt „Pick your Side“ möchte ich einen anderen Vorschlag machen. Die These zur Diskussion stellen, dass Sexarbeit und Prostitution nicht dasselbe sind, aber beides existiert.
Es gibt sowohl Sexarbeit in dem oben beschriebenen Sinn, als auch Prostitution. Ob man also von Sexarbeit spricht oder von Prostitution, ist womöglich gar keine prinzipielle Frage, an der man erkennt, auf welcher „Seite“ der Lager ich stehe, sondern sie wird erst in einem konkreten Fall interessant: Wenn man entscheiden muss, womit man es in dieser bestimmten Situation gerade zu tun hat – mit Sexarbeit oder mit Prostitution.
Oder, auch das ist glaube ich möglich, mit noch etwas ganz anderem. Denn, meine zweite These: Der Tausch von Sex ist nicht ohne Einbettung in eine bestimmte Kultur zu verstehen.
Häufig wird gesagt, Prostitution sei das »älteste Gewerbe der Welt«. Was bedeuten soll, dass es sie immer und überall gegeben habe, sozusagen ein universales Menschheitsphänomen.
Aber das ist falsch. Erstens hat der Tausch von Sex gegen Geld durchaus historische Ursprünge und zweitens ist er in höchstem Maße von kulturellen Codes abhängig, in deren Rahmen er nicht nur interpretiert, sondern auch erst hervorgebracht wird.
Dieser zweite Punkt ist sehr wichtig. Wahrscheinlich gibt es tatsächlich in vielen Kulturen irgend eine Form von Sex mit Gegenleistungen. Aber deren jeweilige politische, religiöse, soziale Bewertung, die Einbettung in kulturelle Strukturen, weicht sehr voneinander ab.
So haben Feministinnen bereits im 19. Jahrhundert argumentiert, dass auch die Ehe eine Form der Prostitution sei, wenn sie Ehefrauen zu Sex verpflichtet im Gegenzug für soziale Anerkennung und materielles Auskommen. Heute wird über die Freiwilligkeit von Sex diskutiert: Reicht Nein heißt Nein, oder heißt nur Ja Ja, beziehungsweise ist es legitim, Sex zu haben ohne dass persönliches Begehren involviert ist – das ist ja letztlich die Kernfrage – weil man sich etwas anderes davon erhofft usw. Das sind alles Themen, die mit der kulturellen Interpretation von Prostitution/Sexarbeit zusammenhängen.
Aber auch die postkolonialen Studien haben in diese Richtung Erkenntnisse gebracht: Die Kolonialisierung der Welt durch Europa erfolgte im 18. Und 19. Jahrhundert gerade in einer Zeit, als hier strikte binäre Geschlechterhierarchien vorherrschten, zusammen mit einer frauenfeindlichen Abwertung von allem, was nach „Prositution“ aussah. Diese Interpretation wurde auf sexuelle Verhältnisse in anderen Kulturen übertragen, sobald außerhalb der heteronormativen „christlichen“ Ehe lagen. Anders gesagt: die Europäer haben sexuelle Beziehungen als Prostitution interpretiert, obwohl sie womöglich etwas anderes waren. Nicht unbedingt „Sexarbeit“, denn dieser Arbeits-und-Ware-Aspekt ist eine speziell kapitalistische Kontextualisierung. Aber es könnte noch viele andere Aspekte und Begriffe für diesen Tausch geben.
Was die abendländische Tradition betrifft, so verankert die Geschlechterforscherin und Kulturtheoretikerin Christina von Braun die Entstehung der Prostitution im sakralen Raum des antiken Tempels, und zwar gemeinsam mit der Entstehung der Geldwirtschaft: Während das Geld an die Stelle des Tieropfers trat, war die Tempelprostitution Ersatz für das Menschenopfer, so ihre These. Münzen und Prostitution hätten ungefähr gleichzeitig den sakralen Raum verlassen und sich profanisiert, und blieben doch aufs Engste miteinander verbunden.
Die »Käuflichkeit« der Sexualität hatte nach Ansicht von Christina von Braun die Funktion, die Bindung des Gelds an die Materie zu gewährleisten und somit die »Deckung« des ansonsten ja nur symbolischen Geldwerts sicherzustellen. Das ist eine These, über die sich gewiss diskutieren lässt, doch ich finde ineressant, dass hier der Spieß umgedreht wird und das Phänomen »käuflicher Sex« nicht von der Seite der Sexualität und der menschlichen Bedürfnisse her diskutiert wird, sondern im Hinblick auf die Bedürfnisse und Befindlichkeiten der Geldwirtschaft.
Das sind jetzt nur einige Beispiele, mit denen ich zeigen will: Wir können Prostitution und/oder Sexarbeit nicht losgelöst von kulturellen Vorstellungen von Geschlechterrollen und insbesondere vom Frausein diskutieren, aber auch nicht losgelöst von Geldwirtschaft und heute auch nicht mehr losgelöst von kapitalistischer Logik und Warenwirtschaft.
Natürlich gab es „irgend so etwas wie“ Prostitution auch in der Antike, auch im Mittelalter, auch in der Renaissance, aber eben mit einem anderen Charakter. Die Geschlechterrollen und -vorstellungen waren ganz andere, die Vorstellung von Sexualität war eine ganz andere, sie hatten mehr mit Leibeigenschaft, Sklaverei und ähnlichem zu tun, als mit unserer Vorstellung von individueller Freiheit und Bürgertum.
Deshalb plädiere ich dafür, für unsere heutige Zeit, und um die geht es uns ja, das Phänomen von Prostitution und/oder Sexarbeit nicht als allgemeines Menschheitsphänomen und auch nicht als kontinuierliches Erbe seit der Antike anzusehen, sondern als Phänomen, das direkt mit der bürgerlichen Moderne, der Industrialisierung und dem Kapitalismus zusammenhängt.
Wir müssen uns für unsere heutigen Fragestellungen das Phänomen von Sex als Ware anschauen in einer Welt, die von Ungleichheit und Machtgefälle geprägt ist.
Auch aus einem anderen Grund würde ich den historischen Start der heutigen Prositutionsdebatte im Europa des 18./19. Jahrhunderts datieren: Denn zu diesem Zeitpunkt neutralen Akteure die Bühne, die für die heutigen Debatte zentral sind: Staaten, Rechtssysteme, Polizei.
Im 18. und 19. Jahrhundert wurden mit dem Aufkommen der Industrialisierung und städtischen Entwicklung staatliche Maßnahmen zur Regulierung von Prostitution in vielen Ländern deutlich verstärkt. Dies führte zur Einführung von Lizenzen und Registrierungen für Prostituierte. In Großbritannien wurden beispielsweise im 19. Jahrhundert die Contagious Diseases Acts erlassen, um die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten zu bekämpfen.
Das 19. Jahrhundert ist in Europa wie gesagt auch das, in dem die binäre Geschlechterordnung radikalisiert wird. Mit dem Konzept der Gleichheit unter Männern – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – nahm die Unterscheidung zwischen Männern und Frauen eine überragende Bedeutung an. Dies wirkte sich auch darauf aus, wie Prostitution betrachtet wurde. Sie löste sich im 19. Jahrhundert nahezu vollständig von anderen Koordinaten und band sich vollständig an den weiblichen Körper.
Zum Beispiel waren nun nicht mehr die Menschen, die »verruchte Orte« aufsuchen – also »käufliche« Frauen und »konsumierende« Männer gleichermaßen – in das Geschehen »Prostitution« involviert, sondern die Aufmerksamkeit richtete sich fast ausschließlich auf die Moral »solcher« Frauen. Frauen verkörpern sozusagen das Feld der Prostitution, und alle Frauen, die nicht damit identifiziert werden wollen, müssen das aktiv unter Beweis stellen.
Gleichzeitig gerieten die Freier aus dem Blickfeld und werden zu »normalen« Männern, wenn auch mit zweifelhaften Gewohnheiten. Boy will be Boys. Dies ist zum Beispiel ein Punkt, an dem ich die Argumente der Befürworterinnen des nordischen Modells teilweise interessant finde – dass sie den Fokus auf die Freier legen und auf eine Kultur, die Nachfrage nach sexuellen Dienstleistungen schafft, also die Nachfrage nach Sex mit einer Person, die darauf gar keine Lust hat, deren persönliches Begehren außen vor bleibt.
Mit der Übertragung des „Makels“ auf die Frauen trug die einzelne Sexarbeiterin den Makel ihrer Tätigkeit nicht mehr nur dann, wenn sie sie ausübt, sondern sie hat ihn als Teil ihres Wesens quasi verinnerlicht – ein Paradigmenwechsel, der ein breites Feld öffnete für Psychologie, Sozialarbeit an »gefallenen Mädchen« und die Herausbildung von Geschlechterklischees.
Man könnte sagen, dass sich Prostitution in dieser Zeit von einem gesellschaftlichen Phänomen zu einer Geschlechtereigenschaft verwandelt hat. Daher sind Prostitutionsgesetze historisch solche, die Frauen reglementieren, nicht ein gesellschaftliches Problem verhandeln.
Der »Contagious Diseases Act« ist dafür ein gutes Beispiel und nicht zufällig ein wesentliches Aktionsfeld damaliger Feministinnen. Es gab in UK genauer gesagt drei separate Contagious Diseases Acts, die zwischen 1864 und 1869 verabschiedet wurden und sich auf die Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten, insbesondere der Syphilis und Gonorrhö, konzentrierten. Unmittelbarer Anlass war die Sorge um die Verbreitung von sexuell übertragbaren Krankheiten unter Soldaten der British Army.
Der umstrittenste Aspekt dieser Gesetze war, dass sie es den Behörden erlaubten, Frauen in bestimmten Militär- und Hafenstädten ohne konkreten Verdacht auf Geschlechtskrankheiten zu untersuchen. Frauen, die als Prostituierte verdächtigt wurden, konnten zur medizinischen Untersuchung gezwungen werden. Diese Maßnahmen wurden von Frauenrechtlerinnen als Verletzung der Privatsphäre und der Menschenrechte betrachtet. Feministinnen jener Zeit organisierten Protest gegen diese Gesetze, die prominenteste Aktivistin, die sich für die Abschaffung der Contagious Diseases Acts einsetzte, war Josephine Butler. Die Frauerechtlerinnen argumentierten, dass die Gesetze Frauen in unverhältnismäßiger Weise stigmatisierten und schikanierten ihre Menschenrechte verletzten.
Die Bewegung gegen die Contagious Diseases Acts war ein wichtiger Schritt in der Entwicklung der feministischen Bewegung in Großbritannien, da sie die Frage der sexuellen Freiheit, der Autonomie über den eigenen Körper und der Gleichberechtigung in den Fokus rückte. Letztendlich wurden die Gesetze aufgrund des Drucks und der Proteste von Frauenrechtsaktivistinnen aufgehoben. Der dritte und letzte Contagious Diseases Act wurde im Jahr 1886 abgeschafft.
In einigen Ländern führten soziale Reformen auf Druck der Frauenbewegung im frühen 20. Jahrhundert zu einem Wandel in der Haltung gegenüber Prostitution, allerdings schon damals mit gespaltenen Strategien. Wie heute war man sich einig darin, dass es nicht okay ist, die Frauen zu bekämpfen. Aber man war sich eben nicht einig über den Weg. Einige Staaten verschärften ihre Gesetze, um die Prostitution zu kriminalisieren, während andere Ansätze verfolgten, um die Gesundheit der Sexarbeiterinnen zu schützen.
Das ging nach dem Zweiten Weltkrieg weiter, in einigen Ländern wurde die Prostitution teilweise oder vollständig legalisiert, wobei staatliche Maßnahmen darauf abzielten, die Arbeitsbedingungen zu verbessern und die Rechte der Sexarbeiterinnen zu schützen. Bis heute gibt es, wie wir wissen, eine breite Palette von Ansätzen zur Regulierung oder auch Deregulierung von Prostitution. Einige Länder, darunter Deutschland und die Niederlande, haben die Prostitution weitgehend legalisiert und reguliert. Andere Länder, wie Schweden, haben das nordische Modell eingeführt, das den Kauf von sexuellen Dienstleistungen kriminalisiert. Wieder andere Länder haben unterschiedliche Formen der Kriminalisierung oder Legalisierung umgesetzt.
Besonders interessant finde ich das Legge Marlin in Italien, weil es einen dritten Weg zwischen Verbot und Legalisierung geht, nämlich die Nicht-Regulierung. Das Gesetz wurde nach der Politikerin und Frauenrechtlerin Lina Merlin benannt und trat 1958 in Kraft. Es beendete das System der regulierten Prostitution in Italien. Bis 1958 waren in Italien nur bestimmte Formen der Prostitution legal, die von den Behörden überwacht wurden. Man könnte sagen, es war eine Form der staatliche organisierten Prostitution, übrigens ein im vorindustriellen Europa verbreitetes Phänomen.
Mit dem Legge Marlin wurde die Prostitution als solche in Italien nicht illegal, auch nicht für Freier, aber alle Formen der Unterstützung, Werbung und Organisation der Prostitution wurden verboten. Dieses Gesetz hatte weitreichende Auswirkungen auf die Sexindustrie in Italien. Einige sahen darin einen Schritt in Richtung der Abschaffung von Menschenhandel und Ausbeutung von Frauen, während es von anderen kritisiert wurde, weil es die Situation der Prostituierten verschlechtert habe.
Vielleicht können wir später noch einmal darauf zurück kommen, aber ich frage mich, ob das Legge Merlin nicht trotzdem Ausgangspunkt für eine feministische Initiative sein könnte. Tatsächlich hängt natürlich viel daran, wie strikt Unterstützung, Werbung und Organisation von Prostitution auszulegen ist. Ist damit nur direkte Zuhälterei gemeint? Oder auch schon Zimmervermietung für Frauen, die womöglich sexuelle Dienstleistungen anbieten?
Ich will hier kein Plädoyer für das Legge Marlin abgeben, aber auch daran überzeugt mich ein Aspekt, und zwar die Idee, dass Sexualität nicht gesetzlich geregelt sein sollte. Dass sexuelle Aktivitäten den Staat schlicht nichts angehen. Also der Ansatz, dass der Tausch von sexuellen Dienstleistungen gegen Geld weder verboten werden sollte (auch nicht für die Freier), noch aber staatlich reguliert oder wie ein ganz normaler Job behandelt werden sollte, so wie in Deutschland, wo es vorgekommen ist, dass arbeitslose Frauen ein Job im Bordell angeboten wurde.
Der Ansatz der „nicht-Regulierung“ von Sexarbeit hat noch einen anderen Punkt, den ich wichtig finde bei dem Thema: es ist nämlich ein argumentativer Kurzschluss, dass alles, was wir nicht gut finden, gesetzlich geregelt werden muss. Es ist völlig okay, nicht alles gesetzlich zu regeln. Vor allem dann, wenn das eigentlich gar nicht geht, weil es um das Verhältnis der Menschen zu ihrem eigenen Körper geht.
Dieses Thema diskutieren wir heute auf mehreren Feldern, nicht zur in Bezug auf Prostitution/Sexarbeit, auch in Bezug auf Abtreibung oder Suizid.
Dass Menschen über ihren eigenen Körper verfügen können, liegt in der Natur der Sache. Mensch und Körper sind nicht zu trennen. Ob Menschen über ihren eigenen Körper verfügen (dürfen), ist daher keine Frage, über die gesellschaftlich zu entscheiden wäre, sondern zunächst eine Tatsache, die bei politischen Entscheidungen berücksichtigt werden muss.
Keine Ordnungsmacht der Welt kann Menschen daran hindern, Sex gegen Geld zu tauschen, genauso wenig wie dran, Abtreibungen vorzunehmen oder das eigene Leben zu beenden. Kein Polizist kann sich zwischen einen Menschen und ihren Körper stellen. Es geht bei all diesen Themen grundsätzlich nur um die Rahmenbedingungen, unter denen dies geschieht.
Wer die Eigenverfügung über den menschlichen Körper gesetzlich kontrollieren will, muss zu krassen Maßnahmen greifen, die auf eine Weise in das Persönlichkeitsrecht eingreifen, die heute nicht mehr als akzeptabel gilt: Man kann natürlich Ehefrauen dazu zwingen, einen „Keuschheitsgürtel“ zu tragen, damit kein unbefugter Penis in ihre Vagina eingeführt wird. Man kann auch Schwangere oder Menschen, die man für suizidgefährdet hält, rund um die Uhr überwachen. Man kann, kurz gesagt, aufs Gröbste die Intimsphäre von Menschen beeinträchtigen.
Aber man kann nicht in den menschlichen Körper hineinregieren, wie sich zum Beispiel der Verkehr oder die Eigentumsrechte gesetzlich regeln lassen. Da kann man Schranken bauen, Ampeln aufstellen, Sicherheitspersonal postieren. Das alles wird zwar nicht in jedem Fall verhindern, dass zu schnell gefahren oder eingebrochen wird. Aber der Versuch, es zu erschweren, beeinträchtigt nicht unmittelbar die Menschenwürde. Denn hier befinden wir uns im Bereich des öffentlichen Lebens, also an Orten, wo Menschen zueinander in Beziehung treten oder miteinander interagieren. Um Orte, an denen etwas „Dazwischen“ ist, zwischen den Beteiligten. Deshalb ist es prinzipiell möglich, dass auch Polizisten dort mitmischen.
Was ich hingegen tue, wenn ich allein bin, also ich, als körperlicher Mensch, ist der Öffentlichkeit zunächst entzogen. Um die Selbstverfügung der Menschen über sich, also ihre Körper, zu kontrollieren, müssen sie gewaltsam in die Öffentlichkeit gezogen werden.
Das ist der Grund, warum gesetzliche Verbote in diesem Bereich in aller Regel zur Folge haben, dass sie die Bedingungen verschlechtern, unter denen Menschen über ihre Körper, also sich selbst, verfügen. Unter Prostitutionsverboten leiden Menschen, die sexuelle Dienstleistungen anbieten, unter Abtreibungsverboten leiden ungewollt Schwangere, die abtreiben möchten, unter Sterbehilfeverboten leiden Menschen, die ihr Leben beenden möchten. Trotzdem werden sie es in aller Regel tun, wenn sie es für notwendig halten. Das ist eine Tatsache.
Die Engführung biopolitischer Debatten auf Gesetze (Prostitution, Sterbehilfe, Abtreibung VERBIETEN!) ist fatal, weil sie geradezu verhindert, dass die eigentlich wichtigen Fragen diskutiert werden. Nämlich: Wie und wann und warum entscheiden sich Menschen für Abtreibung, Sexarbeit, Leihmutterschaft, Suizid? Welche sozialen Umstände befördern das? Welche Probleme entstehen dadurch (möglicherweise, vielleicht aber auch nicht)? Welche gesellschaftlichen Veränderungen wären wünschenswert, um diese ja oft existenziellen und belastenden Situationen für die Betroffenen zu erleichtern?
Es wird vermutlich immer Menschen geben, die mit anderen Sex haben, obwohl sie selbst keine Lust dazu haben, sondern weil sie sich davon irgendwelche anderen Vorteile erhoffen. Sex ohne Begehren ist wie gesagt ein großes Thema, und Sexarbeit nur einer von vielen Aspekten dabei.
Und es wird immer eine schwierige Entscheidung sein, die individuell getroffen wird und bei der eine komplexe Mischung aus äußeren Umständen, sozialen Normen und individuellen Befindlichkeiten zusammenwirken.
Es wäre so wichtig, eine feministische Kultur zu haben, in denen wir uns über die Schwierigkeiten, solche Entscheidungen zu treffen, offen austauschen und uns gegenseitig dabei unterstützen. Anstatt immer wieder auf die Alternative: „Verbieten oder Erlauben“ zurückzufallen.
Wenn wir an der Unterscheidung Sexarbeit/Prostitution arbeiten, können wir unseren Blick für die Verhältnisse schärfen und differenzieren.
In vielen Fällen ist die Unterscheidung ja leicht. Eine Studentin, die sich als Escort ihren Lebensunterhalt verdient und diesen Job im Vergleich zu dem, was der Arbeitsmarkt sonst zu bieten hat, ganz okay findet, ist keine Prostituierte, sie ist Sexarbeiterin. Dem widerspricht auch nicht die Tatsache, dass es dabei nicht immer rosig zugeht und das ganze Werbeumfeld ihres Escort-Services zutiefst sexistisch daherkommt. Keine Frau lebt in einer sexismusfreien Kultur, wir alle arrangieren uns mehr oder weniger. Und zur weiblichen Freiheit gehört auch die Möglichkeit, aus sexistischen Verhältnissen persönlichen Gewinn zu ziehen.
Aber nicht jede Frau, die für Geld Sex mit Kunden hat, ist eine Sexarbeiterin. Eine Drogensüchtige zum Beispiel, die sich davor ekelt, die Penisse fremder Männer anzufassen, es aber trotzdem tut, weil sie von einem Zuhälter regelmäßig mit Stoff versorgt wird, wenn sie »anschaffen« geht, ist keine Sexarbeiterin. In ihrem Fall wäre das Wort ein Euphemismus, eine Verharmlosung. Hier ist es sinnvoll, von Prostitution oder Ausbeutung zu sprechen, um ein System sexistischer Dominanz zu bezeichnen, die es anderen ermöglicht, die Notlage dieser Frau für ihren eigenen Profit und ihre sexuellen Begierden auszubeuten.
Der Verweis auf die ohnehin verbotene Zwangsprostitution reicht nicht aus, weil dieses System subtiler ist und nicht auf direktem, justiziablem Zwang basiert. Der Verweis darauf, dass Frauen auch in anderen Branchen ausgebeutet werden, greift ebenfalls zu kurz: Es ist ein Unterschied, ob eine Frau putzen muss, obwohl sie nicht will, oder ob sie die Penisse irgendwelcher Männer in sich hineinlassen muss, obwohl sie nicht will.
Herauszufinden, ob es sich in einem konkreten Fall um Sexarbeit oder um Prostitution handelt, ist aber nicht immer leicht. Denn auch wenn beides im Prinzip ganz verschiedene Dinge sind, können sie in der Realität sehr ähnlich aussehen. Zum Beispiel in dem Fall einer jungen Bulgarin, die in einem Bordell arbeitet. Vielleicht ist sie die älteste Tochter einer Familie, die in der Hoffnung auf ein besseres Leben nach Deutschland oder Österreich gekommen ist, aber nun unter extrem prekären Verhältnissen lebt. Der Vater leidet an Depressionen, die Mutter musste wegen eines Rückenleidens das Putzen aufgeben, und die Tochter hat sich zu diesem Job entschieden, weil ihr keine andere Möglichkeit eingefallen ist, um an Geld zu kommen: Das wäre Sexarbeit. Vielleicht ist aber auch der Vater dieser Familie ein skrupelloser Patriarch, der seine Tochter so lange unter Druck gesetzt hat, bis sie eingewilligt hat, sich für die Familie »aufzuopfern«: Das wäre dann Prostitution.
Bei der Unterscheidung zwischen Sexarbeit und Prostitution geht es nämlich nicht allein um konkrete Handlungen, sondern sie stellt die Beziehungsstrukturen und Beweggründe der beteiligten Frauen ins Zentrum: Sind diese Frauen handelnde Subjekte, die, wenn auch möglicherweise angesichts schwieriger Rahmenbedingungen, eine informierte Entscheidung treffen? Oder sind sie in sexistische Beziehungen und Verhältnisse verstrickt, aus denen sie keinen Ausweg finden?
Diese Frage ist natürlich nicht nur in Bezug auf Frauen zu stellen, sondern auch bei männlichen Sexarbeitern und Prostituierten.
Und sie kann ruhig auch bei anderen Themen als Sexarbeit/Prostitution gestellt werden.
Freiwilligkeit allein ist jedenfalls noch kein Beweis für die Okayheit einer Handlung, es sei denn, man würde sich völlig einer neoliberalen Logik des „anything goes, Hauptsache es lässt sich damit Geld verdienen“ verschreiben. Freiwilligkeit ist nicht das Ende der Diskussion über Prostitution, sondern höchstens ihr Anfang. Denn alles, was nicht freiwillig geschieht, ist sowieso indiskutabel.
Wir leben einer Zeit, in der Chancen und Zwänge, Möglichkeiten und Beschränkungen für Frauen eng beieinander liegen. Die Notwendigkeit, zwischen Sexarbeit und Prostitution zu unterscheiden, ergibt sich erst in dem Moment, wenn eine Gesellschaft sich für die Wünsche und Beweggründe handelnder Frauen interessiert.
Es ist daher kein Wunder, dass gerade im Feminismus um diese Begriffe gerungen wird, denn Feministinnen interessieren sich eben in besonderem Maße für die Wünsche und Beweggründe handelnder Frauen.
Den Begriff der »Sexarbeit« brauchen wir, um darüber sprechen zu können, was Frauen wollen, die die meist männliche Nachfrage nach käuflichem Sex zu ihrem Gelderwerb machen. Und den Begriff der Prostitution brauchen wir, um darüber sprechen zu können, dass auch in emanzipierten Gesellschaften Frauen sexuell ausgebeutet und unter Druck gesetzt werden – und das eben nicht unbedingt mit handfestem Zwang, sondern gestützt auf die lange patriarchale Geschichte, die wir auf dem Buckel haben und die noch immer Denkweisen, Gewohnheiten, Bilder prägt.
Deshalb bin ich der Ansicht: Eine Feministin kann sowohl Sexarbeiterinnen unterstützen und für einen freien, akzeptierenden Markt sexueller Dienstleistungen eintreten, als auch Prostitution ablehnen und Projekte anstoßen, die betroffenen Frauen helfen, sich aus solchen Situationen zu befreien. Das ist überhaupt kein Widerspruch.
Wenn die Prämisse der weiblichen Freiheit im Zentrum steht, könnte der Konflikt um »Sexarbeit« versus »Prostitution« fruchtbar und interessant sein und nicht lähmend.