Antje Schrupp im Netz

Weibliche Freiheit: Was sie heute bedeutet

in: Feminfo 2/2019französische Fassung

«Ich brauche Feminismus, weil…» – so hiess vor einiger Zeit eine Hashtag-Kampagne im Internet. Viele Frauen und andere Menschen posteten Fotos von sich mit Plakaten, auf denen sie die Gründe für ihr feministisches Engagement notiert hatten. Auf vielen stand so etwas wie: «… weil die Gleichberechtigung immer noch nicht erreicht ist» oder «… weil Frauen dieselben Chancen verdienen wie Männer».

Doch wenn man sich die Geschichte der Frauenbewegung anschaut, so ging es den meisten Feminist*innen um mehr als um Gleichstellung mit den Männern. Natürlich wollten sie gleiche Rechte und gleiche Chancen. Aber sie wollen auch eine andere Welt. Gerechtigkeit, Freiheit, gutes Leben. Glück. Eine neue Perspektive. Das Ende nicht nur der männlichen Vorherrschaft, sondern von jeglicher Herrschaft überhaupt. Nicht ein grösseres Stück vom Kuchen eben, sondern einen anderen Kuchen.

Wie kam es dazu, dass die radikalen – an die Wurzel gehenden – Anliegen des Feminismus praktisch in ihr Gegenteil verkehrt wurden? Dass aus dem «Wir wollen etwas grundlegend Anderes» im Zuge der Popularisierung feministischer Diskurse gedreht ein «Wir wollen auch mitmachen» wurde?

Ich denke, es hängt damit zusammen, dass sich feministische Anliegen nicht nur auf der Ebene inhaltlicher Sachforderungen bewegen, sondern auch auf der Ebene des Symbolischen. Die Radikalität der Frauenbewegung hat sich selten in Revoluzzertum und Aufständen geäussert, so wie etwa die der Arbeiter*innenbewegung. Feminismus ist nicht in seinen Aktionsformen radikal, sondern darin, sich mit der eigenen Perspektive ausserhalb des Gegebenen, des Gängigen, des Üblichen zu positionieren.

Dieses «Undenkbare» kann man aber nicht erkennen, wenn man symbolisch innerhalb des Gegebenen verharrt. Wer sich zum Beispiel nicht vorstellen kann, dass es menschliche Subjektpositionen gibt, die nicht der des freien gleichen weissen Mannes gleichen, wird feministische Kritik am Universalismus der Aufklärung und der Französischen Revolution unweigerlich als Wunsch von Frauen nach Teilhabe verstehen.

Die Gleichstellung der Geschlechter war ja keineswegs eine originelle feministische Idee, sondern bloss die logische Abwicklung der Maxime, dass «Gleichheit» die Grundlage demokratischer Gesellschaften sein sollte. Dass das Prinzip Gleichheit nicht funktionieren kann, wenn man gleichzeitig die Hälfte der Menschheit prinzipiell zu Ungleichen erklärt, war von Anfang an evident. Die Frauenemanzipation war eine zwangsläufige Entwicklung, auch wenn sich der Kampf über 200 Jahre hinzog.

Die Gleichheit von Frauen und TIQ-Personen ist leicht zu verwirklichen. Was aber ist mit ihrer Freiheit, der anderen Maxime westlicher Demokratien? «Weibliche» Freiheit ist sehr viel schwieriger zu entwickeln als Gleichheit. Die bürgerlichen, aufklärerischen, universalistischen Freiheitsprinzipien, so wie sie männliche Denker entwickelt haben, können nämlich für Frauen keine Gültigkeit haben, da sie die Freiheit der Frauen ausdrücklich ausschliessen. Die historisch männliche Definition von Freiheit als Autonomie, als Unabhängigkeit, beruht darauf, dass Beziehungen die Freiheit tendenziell einschränken («Meine Freiheit endet da, wo die Freiheit der anderen anfängt»). Dieses Freiheitskonzept funktioniert deshalb nur, wenn es gleichzeitige «Andere» gibt, Unfreie, die sich um das ausgeschlossene Bedürftige kümmern. Also um diejenigen, die nach diesem Verständnis per se nicht frei sein können, weil sie nicht autonom, unabhängig, ebenbürtig sind: Kinder, Kranke, Alte, Arme.

Was heute als «Care-Krise» diskutiert wird, war von Anfang an Thema feministischer Kritiken am männlichen «Universalismus der Gleichen». Von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen, ging es Feministinnen nicht darum, wie Frauen ebenfalls in den Kreis der «Gleichen» aufsteigen könnten, sondern darum, wie dieser Konstruktionsfehler demokratischer Prinzipien repariert werden könnte. Selbst die so genannten «Gleichheitsfeministinnen» forderten die Gleichheit immer in der Hoffnung, dass sich dadurch etwas ändern würde; dass Frauen, wenn sie erst einmal genauso viel Macht hätten, die gesellschaftlichen Verhältnisse verbessern.

Der Ausschluss von Frauen aus den Gleichheitsrechten der Männer und ihr gleichzeitiger Einschluss in das System als Hüterinnen der «privaten» Sphäre hatte zur Folge, dass sich feministische Denker*innen von Anfang an der Fehlerhaftigkeit dieser Idee im Klaren waren. Im Kern des modernen Feminismus stand daher immer die Suche nach einem anderen Freiheitskonzept, das nicht auf idealen Theorien einer abstrakten Freiheit aufbaut (die, wenn es konkret wird, unweigerlich an der realen Ungleichheit scheitern muss), sondern von der tatsächlichen, realen Ungleichheit der Menschen ausgeht und sie in freiheitliche gesellschaftliche Verhältnisse verwandelt. Dazu gehört unverzichtbar, dass die Bedürftigkeit und Angewiesenheit aller Menschen ernst genommen und ins Zentrum des Nachdenkens gestellt wird, anstatt sie an unterdrückte «Andere» (Frauen, TIQ-Personen sowie Sklaven und Dienstbotinnen) zu delegieren.

Im Feminismus geht es, mit anderen Worten, um eine Freiheit, die von der Differenz lebt statt von der Gleichheit. Am deutlichsten haben dies die Aktivistinnen aus dem Mailänder Frauenbuchladen in ihrem 1989 erschienenen Buch «Wie weibliche Freiheit entsteht» formuliert: Nicht die Gleichstellung mit den Männern, sondern Beziehungen unter Frauen sei die Grundlage weiblicher Freiheit, schrieben sie. Die Italienerinnen lehnten nicht nur – wie die meisten Feminist*innen – ab, in der Gleichheit mit den Männern das Ziel zu sehen, sondern sie sahen darin auch keinen Weg. Damit Frauen frei sein können, schrieben sie, nützt es nichts, sich innerhalb der bestehenden Ordnung Macht zu verschaffen. Sondern es bedarf der Arbeit an der symbolischen Ordnung. Es sei

notwendig, wie es die Philosophin Luisa Muraro formuliert hat, «sich aus dem Fenster des Gegebenen hinauslehnen». Um frei sein zu können, müssen Frauen und TIQ-Personen denken, was bisher als undenkbar und unsagbar – unsäglich – gilt. Deshalb brauchen sie eigene Massstäbe für ihr Sprechen und Tun, die nicht die Massstäbe der gegebenen Ordnung sind. Diese Massstäbe können nicht in den existierenden Autoritäten gefunden werden, sondern nur in den Beziehungen zu anderen Frauen und TIQ, in weiblicher Autorität also.

Diese Beobachtung hat sich vielfach bewahrheitet. Seit ungefähr zehn Jahren erlebt der Feminismus erneut einen Aufschwung. Mit Kampagnen wie #Aufschrei und #Metoo haben tausende Frauen bekräftigt, dass sie Alltagssexismus nicht länger tolerieren wollen, dass sie eine Kultur des gegenseitigen Respekts einfordern. Auch wenn in den Debatten immer wieder versucht wurde, diese Kampagnen ins Immanente der gegebenen Verhältnisse zurückzuziehen – zum Beispiel, indem sie als Gesetzesvorschläge missverstanden wurden – haben die Aktivist*innen dennoch einander Autorität verschafft, indem sie darauf bestanden, dass das, was sie sagen, gehört und ernstgenommen werden muss. Das Neue an diesen Kampagnen war ja nicht, dass Frauen über Alltagssexismus und sexualisierte Gewalt gesprochen haben, das tun sie schon immer. Das Neue war, dass sie gehört wurden, und dass es Konsequenzen gab.

Weibliche Autorität ist heute stärker denn je. Viel mehr Frauen als früher sind in der Öffentlichkeit sichtbar und haben Einfluss. Frauen und TIQ tragen ihre Themen und Kontroversen zunehmend in die Arena der öffentlichen Debatten. Weibliche Autorität ist aber weiterhin umkämpft. Zwar werden feministische Forderungen nur noch selten im Prinzip bestritten, denn wer als links und liberal gelten will, kann heute nicht mehr antifeministisch sein – diese Position ist von den Rechtspopulist*innen besetzt. Aber es gibt doch ein sichtliches Bemühen, das, was Frauen sagen und tun, einzuhegen und in die bestehende symbolische Ordnung zu integrieren.

So wird zum Beispiel oft zwischen einem «guten» Feminismus, der rationale, berechtigte, sachliche Forderungen aufstellt, und einem «masslosen, überzogenen» Feminismus unterschieden. Es ist kein Zufall, dass eine der erfolgreichsten frauenpolitischen Kampagnen der Equal Pay Day ist: Die Forderung nach gleicher Bezahlung können auch viele Männer leicht nachvollziehen, sie passt ins Bestehende – auch wenn sie, richtig verstanden, durchaus systemkritisches Potenzial haben könnte.

Ganz anders verlaufen hingegen Debatten über «gegenderte» Sprache und die Forderungen, das Femininum zu verwenden, also Themen, die direkt den Bereich des Symbolischen betreffen. Die Verwendung nicht-männlicher Endungen und Pronomen macht unmittelbar sichtbar, dass das Männliche nicht länger als dasjenige Geschlecht anerkannt wird, das das Normale und Universelle repräsentiert. Dasselbe gilt für die Diskurse zur angeblichen «Natürlichkeit» der Geschlechterdifferenz. Wenn die Dualität und Komplementarität von Männlichkeit und Weiblichkeit in Frage gestellt wird, befindet man sich ebenfalls unmittelbar im Bereich des Symbolischen, also dort, wo es an die Wurzeln der Geschlechterordnung geht. Und deshalb spielen sich hier die härtesten Kämpfe ab.

Man kann darin fast eine Gesetzmässigkeit sehen: Immer wenn feministische Forderungen als übertrieben und «verrückt» dargestellt werden, wenn sich über feministische Positionen lustig gemacht oder sie als absurd aus dem Diskurs ausgeschlossen werden, geht es «ums Eingemachte»: nicht nur um Gleichheit, sondern um Freiheit. Nicht um Emanzipation, sondern um eine andere Welt, eine andere Gesellschaft.

Weibliche Autorität anzuerkennen und zu stärken, bedeutet dabei ganz und gar nicht, alles gut und richtig zu finden, was eine andere sagt. Sondern es bedeutet, das, was eine andere sagt, wichtig zu finden und sich damit auseinander zu setzen. Die deutsche Philosophin Andrea Günter hat es einmal so formuliert: «Ob eine Frau für mich Autorität hat, merke ich daran, dass ich mich mit dem, was sie sagt, auseinandersetze, auch wenn ich nicht damit einverstanden bin.» Weibliche Freiheit bedeutet, dass es unter den vielen verschiedenen Frauen einen Diskurs gibt, der sich nicht an dem orientiert, was eine männliche Kultur als «normal» oder «diskutabel» empfindet, sondern sich seine eigenen Massstäbe schafft.

Genau dies war der Sinn der feministischen Praktiken der 1970er Jahre, also der Gründung separater Frauengruppen und des «Consciousness Raising». Der Ausschluss der Männer aus den Diskussionen war notwendig, um überhaupt eine Idee davon bekommen zu können, was es bedeuten würde, «ausserhalb» des Gegebenen zu denken und zu sprechen. Heute sind wir an dem Punkt, wo dieser Diskurs wieder zurückgetragen wird in die gemeinsame Welt, in der Frauen, Männer und Angehörige weiterer geschlechtlicher Identitäten leben. Also an dem Punkt, wo erst einmal gemeinsame Massstäbe, eine gemeinsame Sprache gefunden werden müssen. Denn nur so kann das verhandelbar werden, was Frauen und TIQ in einer inzwischen sehr langen und reichhaltigen feministischen Reflexion herausgearbeitet haben, das aber vielen unfeministischen Menschen noch als undenkbar und «unsäglich» erscheint.