auch lesen: Abschied vom Traummann
Die beste Familie gibt es nicht
Über Kinderwünsche, Kinderzahlen, Hysterien und Visionen
Wie viele Kinder werden in Deutschland geboren und von wem? Und wie werden sie versorgt? Seit das Statistische Bundesamt vor einigen Jahren die Zukunft einer veralternden Gesellschaft mit Zahlen belegt hat, ist die »Kinderfrage« plötzlich ins Zentrum deutscher Politik gerückt. Ein recht abrupter Perspektivenwechsel, denn bevölkerungspolitische Überlegungen waren in Deutschland lange Zeit tabu gewesen. Nach der rassistischen Geburtensteuerung der Nationalsozialisten war das Thema heikel, und so hatte man sich der naiven Nachkriegs-Illusion hingegeben, die Bundeskanzler Konrad Adenauer in seinem berühmten Diktum »Kinder bekommen die Leute sowieso« auf den Punkt gebracht hat: Die »Kinderfrage« war nichts, worum sich die Politik ernsthaft zu kümmern hätte.
Nun ist das plötzlich anders geworden, und die jahrzehntelange Gleichgültigkeit scheint in eine kollektive Hysterie umzuschlagen: Medien und »Bevölkerungsexperten« verkünden dramatisch sinkende Geburtenraten, wobei ihre Kenntnis statistischer Zusammenhänge oft eher vage ist und Zahlen gerne auf ziemlich abenteuerliche Weise ins Feld geführt werden. Soziologen stehen mit allerlei Erklärungen für den diagnostizierten »Gebärstreik« von Frauen bereit, Parteien und andere Interessensgruppen versuchen, von dem Modethema zu profitieren.
Dabei gibt es eigentlich gar keine neuen Sachverhalte: Die rechnerische Durchschnittszahl von Kindern pro Frau liegt schon seit Anfang der 1990er Jahre unverändert zwischen 1,3 und 1,4. Und auch in den Jahrzehnten davor war es nicht wesentlich anders: Seit 1975, also seit über drei Jahrzehnten, hat sich die Fertilitätsrate um die 1,5 eingependelt. Die Zeiten, in denen Frauen deutlich mehr Kinder hatten, liegen in ferner Vergangenheit: Vor fast hundert Jahren, zwischen 1910 und 1920, sank die durchschnittliche Kinderzahl in Deutschland rapide von 5 auf nur noch 2 Kinder pro Frau. Es gab dann noch einmal ein kleines Zwischenhoch von 2,5 in den frühen 1960er Jahren, mit dem »Pillenknick« Anfang der 1970er fiel die Rate schließlich auf 1,5, wo sie bis heute geblieben ist.
Trotzdem lohnt es sich, das Thema etwas genauer zu untersuchen: Denn was ebenfalls schon seit langem auseinanderklafft, bisher aber die Politik nur wenig interessiert hat, ist die tatsächliche Kinderzahl pro Frau und ihr durchschnittlicher Kinderwunsch. So hat eine Erhebung des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung aus dem Jahr 2005 ergeben, dass nur 11 Prozent aller Frauen in Deutschland keine Kinder möchten, während 30 Prozent von ihnen tatsächlich kinderlos bleiben. Dazu kommt noch eine nicht unerhebliche Zahl von Müttern, die weniger Kinder haben, als sie sich eigentlich wünschen. Das heißt, auch ohne Bevölkerungspolitik treiben zu wollen, stellt sich die Frage, wie diese Lücke zwischen den Wünschen der Frauen und der Realität geschlossen werden könnte.
Der Hauptgrund, warum Frauen kinderlos bleiben, obwohl sie sich eigentlich Kinder wünschen, oder warum sie nur ein oder zwei Kinder haben, obwohl sie lieber drei oder vier hätten, ist altbekannt: Berufliche Karriere und Fürsorge für Kinder behindern sich gegenseitig. Ein Dilemma, dem Frauen mit allerlei Notlösungen begegnen: Sie arbeiten Teilzeit, sie arbeiten mehr (nämlich im Beruf und im Haushalt), sie nehmen geringere Einkommen in Kauf (etwa wenn sie dafür am Wohnort arbeiten können), sie spannen Omas oder Babysitterinnen ein, oder sie verzichten eben auf Kinder. Seit kurzem versucht die Bundesregierung, ihnen diesen Spagat mit Hilfe von Elterngeld und Krippenplätzen ein wenig zu erleichtern. Doch das grundsätzlichen Dilemma bleibt, zumal die Arbeitsbedingungen in den Unternehmen zurzeit wieder genau in die entgegen gesetzte Richtung gehen: Arbeitszeiten werden länger, von Angestellten wird zunehmend Flexibilität und Mobilität gefordert. Das alles ist Gift für ein entspanntes Leben mit Kindern.
Dass im Hinblick auf die »Vereinbarkeitsproblematik« bisher so wenig Substanzielles passiert ist, liegt vermutlich auch daran, dass lange Zeit eine vermeintlich einfache Lösung anvisiert wurde: Frauen und Männer sollten sich die Arbeit in der Kindererziehung und im Haushalt teilen. Diese Lösung ist nicht nur »gerecht«, sie hätte aus Sicht der Politik auch den Charme, dass keine tiefgreifenden wirtschafts- und sozialpolitischen Veränderungen notwendig wären. Die Bilanz dieses Weges fällt jedoch nach drei Jahrzehnten aktiver Gleichstellungspolitik und zahllosen Väter-Motivations-Kampagnen äußerst dürftig aus. Zwar gibt es inzwischen tatsächlich eine kleine Gruppe von Männern, etwa 3 bis 4 Prozent aller Väter, die vollverantwortlich für ihre Kinder sorgen. Aber sie haben dann mit denselben Hindernissen im Berufsleben zu kämpfen wie Frauen. Und was die übrigen Männer angeht, so zeigen neuere Zeitbudget-Studien, dass sie eher wieder weniger als mehr Zeit mit Hausarbeit zubringen.
Gleichzeitig sind aber die Ansprüche von Frauen an eine partnerschaftliche Verantwortung deutlich gestiegen. Sehr viele Frauen wünschen sich heute Väter als Partner, die sich auch konkret am familiären (Arbeits-)Alltag beteiligen. Immer mehr junge Männer fühlen sich diesen widerstreitenden Ansprüchen von Lebenspartnerin und Arbeitsmarkt offenbar nicht gewachsen: In den vergangenen Jahren ist der Kinderwunsch von Männern drastisch zurück gegangen. Den oben erwähnten 11 Prozent von jungen Frauen, die sich keine Kinder wünschen, stehen 26 Prozent junger Männer gegenüber, die ihre Zukunft ohne Kinder planen. Eine Zahl, die sich seit 1992 fast verdoppelt hat (während sie bei den Frauen relativ stabil ist). Auch bei der Entscheidung gegen die Geburt eines weiteren Kindes gibt oft das negative Votum der Väter den Ausschlag.
Vielleicht wäre es deshalb an der Zeit, im Hinblick auf die Kinderfrage auch einige politisch unkorrekte Fragen zu stellen: Sollten wir es nicht begrüßen, wenn Frauen auch ohne Männer Kinder haben und groß ziehen – und zwar sowohl, wenn sie ganz ohne (männlichen) Partner leben als auch wenn sie einen Partner haben, der seine gesamte Lebenszeit im Büro zubringt? Darf ein Mann nur Vater sein, wenn er zu einem echten »Job-Sharing« mit der Mutter bereit und fähig ist? Offenbar wird dieses Modell der Realität nicht gerecht. Eine ausdifferenzierte Palette von Formen der »Vaterschaft light« könnte den Wünschen von Frauen und Männern entgegen kommen. (vgl. dazu auch Andrea Günter: Vätern einen Platz geben: http://www.bzw-weiterdenken.de/artikel-7-110.htm).
Dies muss ja andere Väter überhaupt nicht davon abhalten, sich zu engagieren. Überhaupt krankt die Debatte vor allem daran, dass ständig nach dem »Idealfall« gefahndet wird. Was ist eine gute Mutter? Eine, die ihr Kind mit 6 Monaten in die Krippe gibt? Oder eine, die es drei Jahre lang zuhause betreut? Was ist ein guter Vater? Einer, der genug Geld verdient, oder einer, der genauso gut oder besser als die Mutter Windel wechseln und Brei kochen kann?
Solche Entweder-Oder-Debatten blockieren pragmatische Lösungen. In sämtlichen Versionen kann es gute ebenso wie schlechte Väter und Mütter geben. Eine Politik, die der Lebensrealität Rechnung trägt, muss akzeptieren und sogar begrüßen, dass Frauen und Männern heute eine ganze Reihe unterschiedlicher Lebensoptionen zur Verfügung stehen. Warum eigentlich müssen diese Optionen dauernd in Konkurrenz zueinander gebracht werden?
Manche Frauen wollen eben Mütter sein und sind gleichzeitig beruflich ambitioniert: Sie brauchen Kinderkrippen, bezahlbare haushaltsnahe Dienstleistungen und entgegenkommende Chefs. Andere Frauen möchten mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen, aber trotzdem einen Fuß im Beruf behalten: Sie brauchen großzügige Teilzeitregelungen im Betrieb und sozialstaatliche Sicherungssysteme, die sich nicht nur an der Höhe des Einkommens orientieren. Wieder andere Frauen haben überhaupt nichts dagegen, ihren Job an der Kasse irgendeines Discounters für einige Jahre aufzugeben und in dieser Zeit drei oder vier Kinder großzuziehen: Sie brauchen ein Erwerbsunabhängiges Einkommen, individuelle sozialstaatliche Absicherung und später Wiedereinstiegshilfen im Beruf. Es ist völlig überflüssig, darüber zu diskutieren, wer von ihnen die engagiertere Arbeitskraft, die bessere Mutter, die emanzipiertere Staatbürgerin ist. Nicht entweder-oder sollte das Motto von Familienpolitik sein, sondern sowohl-als auch.
Dies trifft sich im Übrigen auch mit der Statistik: Dass nämlich mathematisch gesehen jede Frau zwei Kinder haben müsste, damit sich die Bevölkerung komplett »reproduziert«, heißt ja keineswegs, dass jede einzelne Frau diese zwei Kinder auch höchstpersönlich bekommen muss. Der Statistik ist es vollkommen egal, ob ein Neugeborenes das erste, zweite, dritte, vierte oder fünfte Kind ist. Genauso sinnlos ist es, Frauen in »Mütter« und »Kinderlose« aufzuteilen. Denn der statistische Unterschied zwischen einer Mutter von drei Kindern und einer von einem Kind ist doppelt so hoch wie der zwischen einer Frau mit einem Kind und einer Kinderlosen.
Eine Politik, die den Wünschen vieler Frauen nach mehr Kindern entgegen kommen will, darf also nicht länger darüber streiten, welche Vision von Familie die beste ist, sondern muss ganz unterschiedlichen Wege zum Kind ermöglichen. Komplett in Ruhe lassen sollte sie dabei jene Frauen, die keine Kinder wollen. Sie haben sicher nichts dagegen, sich über angemessene Steuern an der Finanzierung einer guten, kinderfreundlichen Sozialstruktur zu beteiligen. Darüber hinaus ist ihr Lebensmodell genauso vorbehaltlos zu akzeptieren, wie die vielen unterschiedlichen Modelle von Mutterschaft.
Zum Weiterlesen: Methusalems Mütter. Chancen des demografischen Wandels