Antje Schrupp im Netz

Männer mit Flügeln

In den aufgeklärten siebziger Jahren verwies man die Engel ins Reich der Legenden. In den Achtzigern boomte die Esoterik und mit ihr die Vermutung, es könnte sie vielleicht doch geben, diese Lichtwesen aus dem Jenseits. In den Neunzigern dann kam die Invasion der Kitsch-Engel, und Trendforscher erklärten die Flügelwesen zum Kultobjekt des Jahrzehnts. Höchste Zeit, die Engel wieder so zu sehen, wie sie eigentlich sind – zum Fürchten.

Männer mit FlügelnMöchten Sie vielleicht mal ein Buch lesen über den arbeitslosen Engel? Oder über den erfrorenen? Haben Sie sich schon mal gefragt, ob Engel Auto fahren können oder was sie kochen? Zu all diesen wichtigen Themen wurden in letzter Zeit Bücher geschrieben, denn offenbar ist keine Frage zu doof, um gestellt zu werden, solange es nur um Engel geht. Leider heißt das auch: Es hat keinen Sinn mehr, dieses Wort zu benutzen. Engel können einfach alles sein: süße Kinder, glückliche Zufälle, Kerzen, Geliebte. Deshalb ist es auch kein Wunder, dass Umfragen zufolge mehr als die Hälfte der Deutschen an Engel glaubt. Das ist ja auch viel unverfänglicher als nur so zum Beispiel an Gott zu glauben.

Immerhin gibt es eine Tendenz: Was auch immer als Engel bezeichnet wird, es ist niedlich (Kind, Rauschgoldfigur), nützlich (hilfsbereiter Mensch) und nett anzusehen. In der Beliebtheitsskala ganz vorn liegen entsprechend die Schutzengel (1). Wer kennt nicht solche Geschichten von Leuten, die wundersamer Weise aus einer aussichtslosen Situation errettet wurden? Das ist ein merkwürdiger Widerspruch zum Auftreten der Engel in der Bibel. Da sagen sie nämlich, wenn sie Menschen begegnen, meistens erst einmal: Fürchte dich nicht! Wieso eigentlich? Haben Sie sich schon mal vor der Goldputte auf Ihrem Spiegelrahmen gefürchtet oder vor den Raffaels-Engelein auf dem Schulheft Ihrer Tochter?

Nicht nur im seichten Esoterik-Kitsch-Bereich ist das so, sondern auch in der ernsten Kunst. So hat die Künstlerin Rosemarie Trockel 1994 vor dem Eldorado-Kino die Statue eines Engels mit abgebrochenem Kopf aufgestellt (2). Es soll ein Mahnmal sein für die homosexuellen Opfer des Nationalsozialismus. Aber auch hier gilt: Der Engel ist nicht gewaltig und hässlich, sondern schön und zerbrechlich. Viel schöner und auch irritierender ist da die stolze Flügelfigur an der ehemaligen Engelapotheke gegenüber (3).

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Trotz aller Beliebigkeit gibt es also einen roten Faden bei der Engelverehrung der letzten Jahrzehnte: Sie sind gut, vor denen braucht man keine Angst haben. Egal ob Vernunftmensch, Esoterikerin oder Kitschliebhaber sie alle machen sich die Engel verfügbar, kontrollierbar, zu Nutzen. Die einen interpretieren sie weg, die anderen trainieren den richtigen Umgang mit ihnen, und wieder andere, wohl die konsequentesten, gießen sie kurzerhand in Wachs und fackeln sie ab.

Zugegeben, ich bin derzeit auf Engel nicht besonders gut zu sprechen, nicht nur weil jahreszeitbedingt wieder eine besondere Invasion himmlischer Heerscharen droht, sondern auch weil mein Patenkind jetzt in dem Alter ist, wo sie jedesmal Engellein, Engellein, flieg! schreit, sobald zwei Erwachsene in Reichweite sind. Aber ich bin nicht voreingenommen. Manche Engel mag ich, zum Beispiel den, den ich neulich im Büro meines Kollegen, Herrn Müller, traf. Er hing da an der Wand und warf irgendwie einen Zauber über den ansonsten eher drögen Raum mit seinen Aktenordnern und Hängeregistern (4) dieser Engel stammt übrigens von dem Bildhauer Willi Schmidt, der Frankfurt auch die dicke Dame auf der Freßgass« beschert hat. Leider sind solche Begegnungen heutzutage die Ausnahme. Wo überall Engel lauern, können sie eben nicht mehr so gut unvermutet auftauchen.

In den siebziger Jahren gab es ein beliebtes Gedicht, das hieß Es müssen nicht Männer mit Flügeln sein. Gut gemeint, aber vielleicht nicht wahr. Denn was auch immer man gegen Männer mit Flügeln haben mag: Vernunft, Esoterik und Kitsch, die Engelfeinde der letzten Jahrzehnte, haben ihr Problem mit ihnen. Drachentöter wie der Erzengel Michalel (5) sind nicht politisch korrekt. Höchstens für Kinofilme eignen sie sich: Dogma zum Beispiel erzählt auf sehr intelligente Weise die Geschichte zweier Engel, die ungehorsam waren und deshalb aus dem Himmel verstoßen und nach Wisconsin verbannt wurden. Natürlich sind das keine Männer aber sie sehen so aus (7)! Unter ihren Mänteln verbergen sich die riesigen Flügel, und sie sind einfach zum Fürchten: unberechenbar, unmoralisch, gewaltig jedenfalls für menschliche Maßstäbe.

Doch so mag sie niemand sehen, obwohl es eigentlich nahe liegend wäre: Engel (vom griechischen Wort angelos, Bote) bringen uns Nachricht von Gott. Das heißt, sie erinnern uns an die Tatsache, dass es etwas gibt, das außerhalb unserer Verfügbarkeit steht, das wir nicht verstehen können, das uns aber doch betrifft, weil es sich auf die Welt und unser Leben auswirkt. Nüchtern betrachtet ist dieser Sachverhalt tatsächlich zum Fürchten.

So kann man auch noch mal über das berühmte Haus zum Engel an der Ostzeile des Römerbergs nachdenken (6). Es heißt so, weil seine Erbauerin Anna Niklas, 1562 in die Fassade viele Schutzengeln meißeln ließ. Trotzdem legte der Bombenhagel 1944 das Haus genauso wie alle anderen in Schutt und Asche. Als man den Römerberg in den achtziger Jahren originalgetreu wieder aufbaute, blieb auch die Inschrift auf dem Spruchband erhalten: Diese Behausung sdehet in Gotes Handt / zum Engel ist sie genandt? Der Engel, der es hält, scheint etwas hämisch zu grinsen. Hat er als Schutzengel versagt? Ich glaube nicht. Engel sind eben so.

aus: Evangelisches Frankfurt, Dezember 2000

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