»Eine Kirche, die wir lieben können«
Die Formulierung »Eine Kirche, die wir lieben können« stammt von Bärbel Wartenberg-Potter. Sie benutzte sie bei ihrem Vortrag bei der Mitgliederversammlung der »Offenen Kirche« in Stuttgart voriges Jahr, und ich finde den Begriff sehr passend für die Suche nach dem, was ich in der Kirche, von der Kirche will. Viel besser als zum Beispiel »geschlechtergerechte« Kirche.
Also: Was ist eine Kirche, die ich lieben kann? Die Verlockung ist groß, sich dabei so eine ideale Wunschkirche vorzustellen: Eine Kirche, bei der feministische Theologie zur Grundausbildung der Pfarrerinnen und Pfarrer gehört, in der die Diakonie ihre Angestellten gut bezahlt, die sich politisch einmischt, natürlich auf der richtigen Seite, in der die Gottesdienste lebendig sind und in Predigten keine Floskeln vorkommen, das Wort »Herr« schon gar nicht. Also so eine Art Kirche Marke »Antje« – wäre das eine Kirche, die ich lieben kann?
Ich glaube nicht. Eine solche Kirche, in der alle derselben Meinung sind wie ich, wäre wohl ziemlich langweilig.
Eine andere Frage: Wo liegt diese »Kirche, die ich lieben kann« eigentlich zeitlich? Ist sie eine Angelegenheit der Zukunft – oder haben wir so eine Kirche schon?
Ich kann für mich persönlich sagen: Ja, ich habe so eine Kirche. Ich arbeite sogar für diese Kirche, und leite die Redaktion einer kirchlichen Mitgliederzeitung und das ist eine sehr schöne Arbeit. Es ist für mich selbstverständlich, dass die Zeitung konsequent inklusive Sprache benutzt, Frauenthemen prominent platziert natürlich eine mindestens 50 Prozent Quotierung bei Meinungsartikeln für Frauen einhält. Nicht, weil das irgendwo beschlossen worden wäre, sondern weil ich das so mache, und ich bin dem Evangelischen Regionalverband Frankfurt bzw. dessen Vorsitzender dafür dankbar, dass sie mich lässt. Wobei ich das aber nicht als wohltätigen Akt interpretiere, denn die Kirche hat auch selbst was davon, weil es auf diese Weise nämlich eine gute Zeitung wird.
Oder: Wir haben in Frankfurt ein Ev. Frauenbegegnungszentrum, das in den 80er Jahren von der kirchlichen Frauenbewegung in harter Anstrengung erkämpft wurde, und dort gibt es schöne Veranstaltungen, die ich besuchen kann, ohne mich wie auf einem fremden Planeten zu fühlen. Da fühle ich mich wohl und zuhause, während ich mich in »normalen« Gottesdiensten oft fremd fühle. Gäbe es diese Frauengottesdienste nicht, ich würde wahrscheinlich sehr selten bis nie einen Gottesdienst oder überhaupt eine kirchliche Veranstaltung besuchen.
Und: Ich habe enge politisch-freundschaftliche Beziehungen zu Frauen, in denen wir politische und theologische Ideen ausbrüten und verbreiten, und dabei geht es immer auch um eine spirituell-transzendente Dimension (ohne die lässt sich politisch nämlich nichts Vernünftiges sagen), das ist zwar nicht eine offizielle Kircheninstitution, aber doch für mich eine Art Kirche, nämlich ein realer, innerweltlicher Ort, an dem Gottes Wort zirkuliert und der Heilig Geist weht, manchmal jedenfalls.
Dies alles zeigt, dass wir bereits eine postpatriarchale Kirche haben, dass sie real existiert in dieser Welt, dass sie Fruchtbares hervorbringt. Die Bibel in gerechter Sprache ist natürlich auch noch so eine Frucht dieser Kirche, die ich liebe. Die Kirche, die ich lieben kann, ist keine Kirche der Zukunft. Sie ist real, und ich bin in ihr schon beheimatet.
Was ist nun die besondere Qualität dieser Kirche, die ich liebe? Bestimmt nicht, dass alle meiner Meinung sind. In unserer Redaktion haben wir teilweise heftige Auseinandersetzungen. Auch im Frauenbegegnungszentrum gibt es oft heftige Auseinandersetzungen, ich denke nur an den einen Streit mit einer Frau, die uns andere mit der Offenbarung schockte, dass sie sich im Laden von Frauen, die Kopftuch tragen, nicht bedienen lässt.
Nicht die inhaltliche Übereinstimmung, die richtige ideologische Ausrichtung macht, so glaube ich, die Kirche liebenswert, sondern die Ernsthaftigkeit der Auseinandersetzung. Ich liebe die Kirche immer dann, um es jetzt mal ganz fromm zusagen, wenn sie ein Ort ist, an dem wirklich nach dem Willen Gottes gesucht wird. Wenn Leute zusammen kommen, die sich wirklich dafür interessieren, wie es »gut« sein kann auf dieser Welt, die dabei nicht instrumentell vorgehen, die nicht taktieren, die nicht wissenschaftlich dozieren, die sich nicht hinter Floskeln verstecken, sondern die ein Anliegen haben und das gemeinsam mit anderen, in der Gemeinde also, verfolgen. Und die dabei bereit sind, sowohl ihre persönlichen Interessen als auch das, was sie an abstrakten Theorien im Kopf haben, hinten anstellen, sondern sich einlassen auf, die konkrete Situation, auf die anderen beteiligten Menschen, auf das was sich nur hier und jetzt in diesem Moment ereignet, na ja, so was wie die Gegenwärtigkeit des Heiligen Geistes, das Andere, Gott.
Und was hat das mit feministischer Theologie zu tun? Die italienische Philosophin Luisa Muraro hat einmal gesagt, die größte Sünde der Männer sei es gewesen, sich den Frauen gegenüber an die Stelle Gottes gesetzt zu haben, und die größte Sünde der Frauen, dass sie das zugelassen haben. Das heißt, wir müssen vor allem erst einmal diesen Platz »des Anderen«, also Gottes, wieder frei räumen, und natürlich stellen sich dabei für Frauen und Männer andere Herausforderungen. Solange der Platz des Anderen besetzt ist mit irgend etwas Innerweltlichem, ist es keine postpatriarchale Kirche, keine Kirche, die ich lieben kann.
Eine andere Frage: Muss diese Kirche, die ich lieben kann, überhaupt eine Institution sein? Eigentlich ist dies nämlich ein Projekt, das für alle Bereiche des Lebens notwendig ist, auch für die weltlichen Institutionen, für die Politik, die Universitäten, die Justiz. Auch sie sind letztlich eine Folge davon, dass Männer sich an die Stelle Gottes gesetzt haben – nicht Gott richtet, sondern ihre Justiz, nicht Gott schenkt uns Einsicht, sondern wir erforschen alles usw. Das wäre jetzt noch einmal ein ganz anderes Thema und führte zu weit. Was ich sagen will: Das Thema »Gott« beschränkt sich nicht auf die Kirche, es ist keine private Glaubensveranstaltung, sondern hat politische Relevanz für mein Sein in der Welt generell. Alle Institutionen müssen sich daran messen lassen, und der Unterschied besteht nur darin, dass die Kirche, jedenfalls vom Prinzip her, diesen Primat des Willen Gottes anerkennt während die anderen Institutionen – jedenfalls seit der Aufklärung – genau dies ja gerade ausgeschlossen haben.
Aber es gibt eben innerhalb der Kirche definitiv auch eine Vielzahl von Menschen, die gar nicht wirklich auf der Suche nach Gottes Willen sind, sondern die einfach Macht haben wollen, die Kirche unter Karriere- und Marketing-Aspekten betrachten. Und andererseits gibt es auch außerhalb der Kirche Menschen, die es anders machen, die mit der nötigen Portion »Demut« an die Alltagsgeschäfte herangehen, auch wenn sie das nicht in religiösen Begriffen ausdrücken. Aber es gibt dafür kein Etikett. Letztlich kann ich also nur aufgrund der persönlichen Begegnung sagen, wer zu dieser postpartriarchalen Kirche, die ich liebe, gehört und wer nicht. Es kommt auf eine innere Haltung an.
Diese postpatriarchale Kirche ist gleichzeitig innerhalb wie außerhalb der verfassten Kirche. Deshalb habe ich auch keine so großen Ängste im Bezug auf das Sterben mancher herkömmlicher Kirchenstrukturen. Es geht dem Volk Gottes nichts Wesentliches verloren, wenn diese Institution Mitglieder verliert. Eine Kirche, die zum Beispiel meint, sich gegen andere Religionen und Konfessionen »profilieren« zu müssen, halte ich für äußerst problematisch. Gott ist ja nicht evangelisch oder katholisch oder auch nur christlich. Gott ist einfach Gott, und es gibt unterschiedliche Kulturen und Traditionen und Erfahrungen, die von Begegnungen mit ihr erzählen. Kirchen, die sich auf Kosten anderer Religionen profilieren wollen, die ihre Aufgabe darin sehen, zu missionieren und die dabei nicht die Verkündigung von Gottes Willen meinen, sondern die Vergrößerung ihrer eigenen Marktanteile – solche Kirchen brauchen wir nicht, beziehungsweise Gott braucht sie nicht.
Wir befinden uns in einem Prozess der Umorganisation von einer christlichen in eine multireligiöse Gesellschaft. Und das ist natürlich ein schwieriger Prozess. Aber letztlich ist das eine rein innerweltliche Herausforderung und hat mit dem lieben Gott überhaupt nichts zu tun. Es handelt sich hier einfach um eine sozialpolitische Aufgabe. Im Bezug auf meine Orientierung an einem Göttlichen ist die Anwesenheit anderer Religionen kein Problem, keine Herausforderung, sondern eine Bereicherung und Inspiration, denn es bringt mich in Kontakt mit Menschen, die ausgehend von anderen historischen Entwicklungen und vor dem Hintergrund anderer theologischen Debatten sich auf genau derselben Suche befinden.
Auch die Jüdin, die Muslimin, die Buddhistin, die Esoterikerin, die eine lebendige Beziehung mit Gott im Alltag suchen, gehören zu meiner postpatriarchalen Kirche. Auch Männer gehören dazu. Auch Atheisten und Atheistinnen gehören dazu. Und der Austausch mit ihnen ist mein Maßstab, mein Kriterium – und zwar auch für mein innerkirchliches, inner-institutionelles Handeln. Hier, in dieser postpatriarchalen Kirche, die vielleicht gar keine Kirche ist, aber doch in gewisser Weise eine Institution, ein Beziehungsnetz, verorte ich mich. Es verläuft quer zu den Institutionengrenzen, ist aber damit aber nicht weniger real. Es existiert nicht nur in meinem Kopf. Es bringt reale Orte hervor, in denen eine religiöse Praxis gelebt wird, die Begegnungen zwischen Menschen und Gott ermöglicht. Aus dieser Zugehörigkeit zu einer postpatriachalen Kirche, die ich liebe, gewinne ich die Stärke, die es mir ermöglicht, wiederum auch innerhalb der weltlichen Institution Kirche, ebenso wie überhaupt in der weltlichen Realität, so wie ich sie vorfinde, mit all ihren Hindernissen und Problemen, sinnvoll handeln zu können.
Ausgehend von diesen Vorüberlegungen nun ein paar Gedanken dazu, welches meiner Meinung nach momentan die Herausforderungen sind. Und welche Rolle dabei die Geschlechterdifferenz spielt, was also das Frausein in diesem Zusammenhang für eine Bedeutung hat.
Erstmal liegt es natürlich auf der Hand, dass eine Kirche, die Frauen systematisch an einer selbstbewussten Beteiligung hindert, oder die Geschlechterklischees verbreitet, keine »gute« Kirche sein kann. Allerdings gilt auch, dass nicht jede Kirche, die die Gleichheit der Geschlechter betont und die Gleichstellung der Frauen wichtig findet, so eine »gute« Kirche ist. An der sozialen Entwicklung in Deutschland können wir ja sehen, dass Geschlechtergerechtigkeit nicht automatisch zu einer guten Gesellschaft führt, Geschlechtergerechtigkeit kann auch als Begründung für soziale Spaltung (Elterngeld), Fremdenfeindlichkeit (das Klischee vom Frauen unterdrückenden Islam) oder sogar für Kriege herhalten.
Die Impulse des Feminismus gingen schon immer weit über eine Forderung nach Geschlechtergerechtigkeit hinaus, aber auch in der Kirche, gerade in der evangelischen, scheinen viele zu meinen, die Angelegenheit sei damit quasi erledigt. Es geht aber nicht darum, Frauen in die bestehende Kirche zu integrieren, sondern es geht darum, vor dem Hintergrund der weiblichen Subjektivität und der weiblichen Differenz neu über Gott zu sprechen.
Es ist heutzutage fast unmöglich geworden, von Gott zu sprechen. Unmöglich, weil das Wort durch diejenigen diskreditiert ist, die von Gott so sprechen, als sei er ein Objekt, eine Marke, ein Label, irgend etwas, das zu bewerben, zu beweisen, an das zu glauben oder für das sogar zu kämpfen sei.
Und zwar machen das nicht nur fundamentalistische Gotteskämpfer. Unser Gott ist der beste, unser Glaube ist der liberalste, wir brauchen mehr Profil – auch in der evangelischen Kirche wird so argumentiert. In Hessen und Nassau haben wir zum Beispiel einen Slogan, der heißt »Evangelisch aus gutem Grund«. Behauptet wird, man müsste zunächst mehr »eigene Identität« ausbilden, um mit anderen Religionen ins Gespräch zu kommen. Deshalb soll es zum Beispiel weiterhin konfessionellen Religionsunterricht geben.
Auf der anderen Seite ruft das Wort Gott reflexartige Abwehrbewegungen hervor bei denen, die alles, was mit Religion zu tun hat, für überholt, widerlegt, auf jeden Fall aber für äußert suspekt halten. Keine Frage, dass beide Seiten sich mit großer Verve bekämpfen, was nur bedeutet, dass sie sich gegenseitig am Leben halten.
Frauen beteiligen sich deutlich seltener als Männer an diesen Auseinandersetzungen. Ich glaube, das ist der Grund, warum viele Frauen nicht gerne von Gott oder Glauben oder Frömmigkeit sprechen, sondern lieber von Spiritualität. Mit diesem Wort machen sie deutlich, dass es ihnen weniger um einen bestimmten Glaubensinhalt geht, den sie verteidigen möchten, sondern vielmehr um eine religiöse Praxis. Aber wie genau sieht diese Praxis aus? Ist sie nur privat und persönlich? Oder hat sie auch politische Implikationen?
Als politische Bewegung ist Spiritualität heute kaum noch präsent, eigentlich fast gar nicht. Das weltliche Wirken der Kirchen beschränkt sich darauf, sozialdiakonische Einrichtungen zu betreiben und hin und wieder zu politischen Themen Stellung zu nehmen, allerdings mit einem argumentativen Hintergrund, der ebenso gut aus einer humanistischen Tradition kommen könnte. Die Einzigartigkeit und die Würde jedes Menschen ist dabei das Hauptargument, und das ist natürlich auch gut und richtig, aber – es ist nicht speziell religiös.
Allerdings haben sich neue spirituelle Räume innerhalb der Kirche entfaltet, meistens auf Initiative von Frauen. Sie haben neue Liturgien, neue Formen, neue Arten der Raumgestaltung erfunden. Aber welches ist die Implikation davon? Haben sie wirklich die Kirche, die religiösen Institutionen verändert?
Mein Eindruck ist, dass die Bemühungen der feministischen Spiritualität vor allem darauf ausgerichtet sind, den religiös interessierten Frauen einen Ort innerhalb der Kirche zu schaffen. Die starren traditionellen kirchlichen Formen so weit zu verändern, dass Frauen sich darin wohl fühlen. Das ist nicht wenig.
Aber darin kann es sich nicht erschöpfen. Die Impulse, die von spirituellen Frauen in die politische Arena und in die Öffentlichkeit ausstrahlen, sind kaum zu vernehmen. Diese Kluft zwischen einer postpatriarchalen kirchlichen Realität und dem, was »draußen« davon ankommt, wurde ganz deutlich bei den Debatten um die Bibel in gerechter Sprache. Was wir in unseren »Nischen« längst für selbstverständlich gehalten hatten wie die Rede von den Jüngerinnen und Jüngern, erschien denen »draußen« wie ein Skandal. Sie hatten offenbar nichts von all dem mitgekriegt, was wir jahrzehntelang in der Kirche gemacht haben.
In der Öffentlichkeit dominieren nach wie vor Männer die Debatten über Religion und Kirche, wenn man sich zum Beispiel die interreligiösen Dialogforen und so weiter anschaut. Margot Kässmann hat das Muster zwar durchbrochen, aber ihr Intermezzo war nur kurz. Ich halte es für einen großen Fehler, dass die Kirche sie gehen ließ. So ein Chance kriegt sie nicht so schnell wieder (die Kirche, nicht Kässmann).
Denn Frauen wie sie stehen ja nun nicht gerade Schlange. Das evangelische Kirchenparlament in Frankfurt, das letztes Jahr neu konstituiert hat, besteht wieder zu 76 Prozent aus Männern. Und ich denke auch nicht, dass sich das in naher Zukunft ändert. Es gibt ein wachsendes Unbehagen von Frauen gegen kirchliche Ämter. Überall wird darüber geklagt, dass Frauen nicht bereit sind, für Ämter und Gremien zu kandidieren, ich habe gehört, in der Nordkirche soll es sogar ein spezielles Programm dafür geben.
Ich denke, das liegt auch daran, dass diese Kirchenstrukturen von ihrer Kultur her nur wenig, jedenfalls nicht ausreichend verändert haben. Bärbel Wartenberg-Potter sagte in jenem Vortrag, dass sie über weite Strecken die Bischöfin nur gespielt habe. Vielleicht haben wir uns ja zu sehr darauf verlassen, dass die Anwesenheit von Frauen dort automatisch eine Veränderung bewirken würde.
Dies wäre ein Punkt, an dem ich grundsätzliche Anfragen an die christliche Frauenbewegung habe. In gewisser Weise leiden wir noch immer unter der Aufspaltung der feministisch-theologischen Bewegung aus den 80er Jahren in eine »innerkirchlich loyale« Fraktion und in eine, die sich von der Kirche entfernt hat, Stichwort etwa Mary Daly oder Christ Mulack. Etwas grob vereinfach könnte man sagen, dass die »Auszüglerinnen« die Institution Kirche seither in Bausch und Bogen als patriarchal verdammen, während diejenigen, die »drin geblieben« sind, tendenziell eine – aus meiner Sicht – zu große Loyalität mit der Institution Kirche haben. Oder sich mit zu wenig an Erreichtem zufrieden geben.
Mit der ersten Gruppe der »Auszüglerinnen« habe ich auch durchaus Kontakt, und ich finde vieles falsch und vereinfachend und zu kurz gedacht, was sie sagen und streite mit ihnen darüber (sie sind ja Teil meiner postpatriarchalen Kirche). Aber da wir hier ja eher ein Kreis derer sind, die sich letzten Endes fürs »drinbleiben« entschieden haben, brauche ich das vielleicht nicht weiter ausführen. Selbstkritisch an uns gerichtet, würde ich sagen, dass wir vielleicht gerade in dem Kampf um »Institutionalisierung« der feministischen Theologie die Option, dass das »Rausgehen« letzten Endes immer auch eine Möglichkeit ist, zu schnell außer Acht lassen. Und diese Möglichkeit des »Rausgehens« besteht sowohl persönlich als auch theoretisch, als Bewegung insgesamt.
Das meine ich jetzt nicht als Appell für das Rausgehen als solches, sondern für das Offenhalten dieser Option in den Debatten. Sowohl, was meine eigene Karriere in der Kirche betrifft – wann ist der Punkt erreicht, dass ich von ihren weltlichen Ressourcen so abhängig bin, dass ich schon aus Eigeninteresse den Erhalt der Institution wünschen muss? Als auch, was die Argumentationslinien betrifft: Noch immer finde ich mich manchmal in Diskussionen wieder, bei denen es so aussieht, als würde »die Kirche« mir »als Frau« irgendwie einen Gefallen damit tun, dass sie Frauen weniger diskriminiert als etwa die Katholiken. Dass Kirchenvertreter sich etwa damit brüsten, dass »bei uns« Frauen ordiniert werden dürfen und dass sie uns erlaubt haben, eine Bibel in gerechter Sprache herauszubringen. In Wahrheit ist es natürlich anders herum: Dass wenigstens das möglich ist, ist der einzige Grund, warum ich überhaupt noch in dieser Kirche bin. Viele andere, kluge und, wie ich sagen würde, auch gottesfürchtige Frauen haben die Kirche längst verlassen. Und dass es immer schwieriger wird, Frauen zu finden, die sich in kirchlichen Ämtern engagieren möchten, sollte nicht den Frauen zu denken geben – sondern der Kirche.
Die Differenz zwischen der traditionellen Männerkirche und der postpatriarchalen Kirche der Frauen ist offenbar sehr viel tief greifender als nur die Frage der institutionellen Einbindung von Frauen. Sie lässt sich deshalb auch nicht durch eine formale Integration – rechtliche Gleichstellung – erreichen. Wir müssen vielmehr ans Eingemachte.
Meine These ist: Wenn Frauen von Gott reden, dann ist das etwas grundlegend anderes als das, was in religiösen Institutionen verwaltet wird. Und diesen Konflikt müssten wir eigentlich bearbeiten und thematisieren, wenn wir in der Kirche als Institution nicht nur »Nischen« haben, die wir lieben können. Diese Nischen können nämlich auch ein Trick sein. Sie verhindern, dass es zum Bruch kommt, ohne dass sich die Kirche insgesamt wirklich auf die Anliegen der Frauen eingehen muss.
Ich sage es ganz klar: Ich arbeite zwar in der Kirche, in einer solchen Nische letzten Endes, aber ich brauche die Kirche nicht. Dass ich selbst »fromm« bin, hat nichts oder nur sehr wenig mit der Institution Kirche zu tun. Zwar habe ich die evangelische Jugendarbeit durchlaufen, aber fromm bin ich dadurch nicht geworden, vielleicht etwas politisch und sozial interessiert, aber das wäre bei der Gewerkschaftsjugend auch möglich gewesen.
Dass mir das Wort »Gott« etwas sagt, habe ich nicht von professionellen Religionsvertretern oder von christlichen Ritualen gelernt, sondern das habe ich säkularen Philosophinnen zu verdanken.
Simone Weil zum Beispiel, deren 100. Geburtstag in voriges Jahr war. Sie war ja ursprünglich kein religiöser Mensch, ihre Eltern waren Intellektuelle jüdischer Herkunft, sie selbst war anarchistische Sozialistin. Doch sie stellte fest, dass eine rein innerweltliche, humanistische Position nicht ausreicht, um in der Welt tätig zu sein. Sie lebte in einer Extremsituation, konfrontiert mit dem Nationalsozialismus, und kam an einen Punkt, wo sie in aller Klarheit sah, dass Hitler an die Macht kommen würde und dass das politische Engagement der Linken nicht ausreichen würde, um das zu verhindern. Diese Hoffnungslosigkeit hat sie zu der Auffassung gebracht, dass es Gott geben muss.
Ich lernte das Denken von Simone Weil nicht in der Schule und auch nicht in der Kirche, sondern durch die Vermittlung italienischer Philosophinnen rund um den Mailänder Frauenbuchladen und die Philosophinnengemeinschaft Diotima an der Universität von Verona. Auch sie sind nicht religiös, aber sie haben das Denken der Mystikerinnen als eine weibliche politische Praxis entdeckt. In ihrem aktuellen Buch »Der Gott der Frauen« macht Luisa Muraro das Wissen und die Erfahrungen jener Frauen für heute fruchtbar, die in früheren Jahrhunderten – speziell im späten Mittelalter, im 13. und 14. Jahrhundert – das Wort »Gott« verwendeten, um etwas zu sagen, das Muraro als Philosophin und Feministin interessiert.
Sie schreibt: »Meinem derzeitigen Verständnis nach – das heißt dem einer Frau, die ihrerseits nicht an Gott glaubt und jene Texte nicht als Zeugnis eines Glaubens liest, sondern eher als Dokumente eines Wissens, das sie sehr nahe betrifft – war Gott für jene Frauen hier und da, er war sehr weit entfernt und sehr nah, er war der andere und die Beziehung zum Anderen.« (96)
Erstmals sei ihr das bei der Lektüre von Margareta Poretes »Spiegel der einfachen Seelen« aufgefallen. Margarete Porete war eine Begine und Theologin, die vor genau 700 Jahren, im Jahr 1310, für ihre Ideen auf dem Scheiterhaufen gestorben ist. Ich hoffe, ihr habt das Jubiläum alle in euren Einrichtungen und Arbeitsgebieten gefeiert?
Der »Spiegel der einfachen Seelen« war zu seiner Zeit ein theologischer »Bestseller«. Luisa Muraro schreibt darüber: »Ich begann Worte eines Gesprächs zu hören, nicht nur eines neuen, sondern eines unerhörten Gesprächs zwischen zweien, die wir kurz eine Frau und Gott nennen. Eine Frau, das war gewiss, ob Gott, weiß ich nicht, aber gewiss war die Frau nicht allein. Es gab einen anderen oder eine andere, deren/dessen Stimme nicht bis zu mir gelangte, die ich aber vernahm, weil sie eine Unterbrechung in den Worten der Frau hervorrief, oder besser gesagt, einen Hohlraum, der die Lektüre verwandelte.« (12)
Was Muraro daran fasziniert, ist die andere Art und Weise, wie Mensch und Gott, Innen und Außen, Subjekt und Objekt, Körper und Seele hier miteinander in Beziehung sind. Nicht als Gegensätze, wie es die westliche Philosophie gelehrt hat. Die männliche Theologie hat sich ja viel mit dem erkenntnistheoretischen Problem beschäftigt, dass Gott nicht greifbar, nicht erkennbar für die Menschen ist.
»Zwischen der Frau und Gott galt diese Ordnung nicht«, schreibt Muraro, »Zwischen beiden fand eine ununterbrochene Bewegung statt, von einem zum anderen, mal verschwand die Frau (und war woanders), dann waren da zwei, bald war sie allein … Doch gab es keine Konfusion und noch weniger Gleichgültigkeit gegenüber der Realität und der Wahrheit, wie man glauben könnte und wie viele glauben, sobald von Mystik die Rede ist. Es gab so etwas wie die Eröffnung eines großen Spiels, eine Art Verhandlung über das, was wirklich und wahr ist, woran freimütig auch die Wünsche teilnehmen, ohne Zensur und Grenzen, ohne dass alles im Wahn unterging. Im fließend gewordenen Realen, lehrt uns Margareta, ertrinkt man nicht.« (14f).
Nicht um Glauben und Religion geht es also in der Beziehung zwischen der Frau und Gott, sondern um eine Orientierung in der gegebenen Realität, die sich nicht mit der Verfolgung der eigenen Interessen begnügt oder damit, was nach der Logik dieser Welt und ihrer Systeme machbar und realistisch erscheint. Die Beziehung zu Gott, zum Anderen, ist nicht als systematische Abhandlung zu fassen, sondern sie ist experimentell, ein Spiel, bei dem alles unsicher ist.
Dieser »Gott der Frauen«, diese von Frauen erfundene, ersehnte und erhoffte Spiritualität (die natürlich nicht exklusiv nur für Frauen ist, sondern ein Vorschlag für alle), stellt sich dem Problem, dass die Probleme dieser Welt unlösbar sind. Dieses Gefühl der Unlösbarkeit von Problemen stellt sich heute wieder mit großer Wucht, Stichwort Klimawandel, Ölpest, Afghanistan, Palästina-Israel, Finanzkrise und so weiter.
Der bürgerliche Fortschrittsoptimismus, den die westliche Welt seit der Aufklärung entfaltet hat, zieht nicht mehr. Das ganze 19. Jahrhundert über und eigentlich noch bis vor wenigen Jahrzehnten dachten viele, sie hätten Lösungen: Würde man nur die richtigen Institutionen, die richtige Wissenschaft, die richtige Revolution machen, dann könnte die Welt gut werden, oder zumindest die schlimmsten Katastrophen verhindern.
Heute sind wir weniger optimistisch, obwohl es dieses Denken immer noch gibt. Viele aber resignieren oder ziehen sich auf das eigene Private zurück, sie richten sich darin ein, für sich selbst halbwegs durchzukommen und interessieren sich ansonsten für die Politik oder die Allgemeinheit nicht weiter. Sie fühlen sich nicht zuständig für das Ganze der Welt. Diese Haltung ist sogar unter denen verbreitet, die politische Ämter innehaben: Sie vertreten eine bestimmte Partei, eine bestimmte Richtung, ihr eigenes Programm, und irgendwie hofft man offenbar, damit durchzukommen, so dass am Ende doch alles gut wird, wenn es einem nicht gleich ganz egal ist.
»There is no alternative« ist der Satz, in dem das zusammengefasst wird. Und »Gott« ist eine Antwort darauf, die aus diesem Spiel ausbricht. Aber eben nicht so, dass Gott uns darauf bringt, dass es doch noch eine Alternative gibt, an die wir nur bisher nicht gedacht haben. Nein, es gibt keine Alternative, so wie Simone Weil Recht behielt mit ihrer Einsicht, dass Hitlers Machtergreifung unausweichlich war. Was bedeutet da ihre Schlussfolgerung, dass es Gott geben muss? Ganz sicher nicht, dass es ihn tatsächlich gibt, also nicht im Sinne eines Gottesbeweises. Sondern die Notwendigkeit Gottes ergibt sich aus meinem Begehren, aus meiner Bedürftigkeit, aus meiner »Bettelei«, wie es Margarete Porete formuliert. Gott existiert, weil ich ohne Gott nicht leben kann. Und das ist nicht psychologisch gemeint, sondern philosophisch, politisch, real.
Theologie, Religion, Kirche hätte also nicht die Aufgabe, noch mehr oder anderen Inhalt und Positionen zur Diskussion beizutragen, die dann als »religiöse« oder »christliche« Werte säkularen Politik und ihrer Ethik und Moral hinzuzufügen wären. Sondern die Orientierung hin auf Gott beschreibt eine gänzlich andere Haltung der Welt gegenüber, die Haltung, Mehr zu begehren, sich von Gott überraschen zu lassen, ohne Sicherheit, ohne dass es planbar oder erklärbar wäre.
Es ist eine Haltung, die nicht glaubt, in sich selbst oder in der Welt, so wie wir sie vorfinden, den alleinigen Maßstab und die Richtschnur des Handelns finden zu können oder besser, die sich nicht mit dem zufrieden geben will, was diese Welt an Maßstäben und Richtschnüren bereithält. Menschen mit dieser Haltung verstehen unter »Politik« nicht, bestimmte Ideologien oder Positionen oder Interessen zu »vertreten« und »durchzusetzen«. Aber ebenso wenig geht es ihnen um eine bloße Moderation zwischen verschiedenen Parteien oder Ansichten. Sondern sie ersehnen mehr, etwas Tieferes, Höheres, Anderes. Es geht dabei nicht darum, ob es dieses Tiefere, Höhere, Andere (das man Gott nennen kann oder auch nicht) gibt, sondern darum, ob es ersehnt wird.
Aber nicht so, dass Gott einfach das ist, was wir uns vorstellen. Wenn wir diese Lücke erst einmal entdeckt haben, so zumindest die Erfahrung und Lehre der Mystikerinnen (und auch meine eigene Erfahrung), wenn wir uns dazu in eine Beziehung setzen, dann gibt es tatsächlich eine Antwort. Eine, die nicht von mir selbst kommt, die keine Projektion ist. Etwa, wenn ich in einer Situation erkenne, was hier und jetzt notwendig ist. Es ist ein Gespräch mit Gott, das Eingeständnis, dass ich das Andere brauche, mein Wunsch danach, und es ist diese Haltung, um die es geht. Ob für diese Erfahrung, für diese Haltung, das Wort »Gott« benutzt wird, ist unwichtig.
Eine Möglichkeit, es philosophisch und nicht religiös auszudrücken, habe ich letzte Woche erst in einem Text von Annarosa Buttarelli gefunden, die wiederum Clarice Lispector zitiert, eine brasilianische Schriftstellerin, die in ihrem Roman »Die Passion nach G.H.« schreibt, dass die Welt »von uns unabhängt«. Also weder: Wir sind es, die die Welt gestalten, es hängt ganz allein von uns ab. Aber auch nicht: Die Welt ist unabhängig von uns. Sondern: Die Welt unabhängt von uns. Es gibt eine Beziehung, und wir sind es, die dieses Unabhängen, die Transzendenz, Gott also letztlich, wahrnehmen, durchdenken und aussprechen müssen, damit es einen Platz in der Realität bekommt.
Religiöse Praxis bedeutet letztlich, die »Bettelei« danach, dass es mehr gibt, die offen ist für das Andere und für Gottes Willen, als politische Praxis zu erkennen. Nicht Gott ist es, der zu uns spricht, sondern wir, indem wir Gott (oder wie immer man dieses Andere nennen wollen) begehren, rufen sie in die Existenz. Es ist daher überflüssig, Gottesbeweise zu führen – oder Gotteswiderlegungen – womit sich die männliche Theologie so ausführlich beschäftigt hat.
Es geht letztlich um ein Paradox: Dass Menschen eine Beziehung zu Gott, zur Transzendenz, zum Anderen, zum Wahren, zum wahrhaft Guten haben können, obwohl es eigentlich keine Verbindung gibt bzw. obwohl die Herstellung dieser Verbindung für Menschen nicht instrumentell verfügbar ist. Gottesfürchtig sind Menschen, die im Bezug auf ihr In-der-Welt-Sein Fragen haben, wirkliche Fragen, keine rhetorischen. Eine der wichtigsten Erfahrungen der Mystik lautet, dass es Antworten auf diese Fragen geben kann, die unabhängig sind von der eigenen intellektuellen Eloquenz. Man muss nicht konfirmierter Christ sein oder ein Mindestmaß an religiösem Grundwissen oder gar studierter Bibelwissenschaftler, um Gottes Willen zu erkennen. Wenn man all das ist, heißt das nur, dass man es in bestimmten Vokabeln wiederum ausdrückt.
Nicht das Nachdenken über Gott bringt uns ihr näher, sondern das Offensein für sie, das Betteln um sie. Ebenso wie wir geistesgegenwärtig in einer Situation nicht handeln können, indem wir abstrakte ethische Regeln anwenden, sondern erkennen, was in dieser Situation notwendig ist. Andrea Günter formuliert es so: »Mystik handelt von der Möglichkeit, etwas zu erkennen, ohne dass wir den Grund, die Ursache, die Substanz davon kennen müssen. Wir erkennen etwas, indem wir bei diesem sind.«
Simone Weil hat darauf hingewiesen, dass das nur in der Muttersprache geht. Man kann von und mit Gott nicht in philosophisch-wissenschaftlichem Jargon sprechen, denn Gott ist kein Abstraktum, nichts Verallgemeinerbares, sondern eine Erfahrung, die in einer bestimmten konkreten Situation gemacht wird oder auch nicht. Für Simone Weil ist die Muttersprache der Ort, wo das Konkrete und die Transzendenz zusammenkommen. Denn die Muttersprache ist genau kein geschlossenes System mit feststehenden Definitionen und Regeln, sondern grundsätzlich offen für das Andere, das Neue. Sie ist der Ort, an dem Erfahrungsaustausch, Verhandlungen, Vermittlung der Differenz stattfinden kann. Die einfache, schöne Sprache, über die sich nicht einfach verfügen lässt, die sich dem System entzieht, ist gewissermaßen wie ein Spiel, das durchlässig ist für die Kontingenz Gottes. Diese »Theologie in der Muttersprache« bringt Erkenntnisse hervor, aber keine, die sich »sichern« lassen oder die »allgemeingültig« wären.
Das Dilemma der kirchlichen Frauenbewegung – unser Dilemma – ist also, dass wir letztlich zwei unterschiedliche Programme haben, die nicht unmittelbar Hand in Hand gehen: Einerseits die Integration der Frauen in die kirchlichen Organisationen und Hierarchien – das erfordert selbstbewusstes Auftreten, Lust an der Konkurrenz, sozusagen »weltliche« Ambitionen – und andererseits eigentlich das genaue Gegenteil, nämlich die »Vernichtigung des Ich« im Hinblick auf Gott wieder in eine Kirche hinein zu bringen (und damit in die Gesellschaft überhaupt).
Es ist nämlich nicht ein nur speziell religiöses Thema, es betrifft auch den Bereich des Politischen, der ja ebenfalls rund um die Stichworte »Profilbildung«, »Programmschärfung«, »Standpunkte formulieren« und so weiter herum organisiert ist. Es geht um eine Sicht der Welt, die es erlaubt, eine ganz andere Art der Politik zu erfinden.
Ich denke, die religiöse Frauenbewegung könnte hier eine Vorreiterin sein, einfach weil wir in der Kirche das Wort »Gott« überhaupt noch zur Verfügung haben. Und weil wir eine reiche Tradition von Denkerinnen haben, die darüber geschrieben haben, und auf die wir uns beziehen und von denen wir lernen können. Vielleicht ist das der größte Nutzen, der größte Pluspunkt der Institution Kirche: Dass sie das Wort »Gott« noch immer nicht aufgegeben hat, auch wenn es oft nur eine hohle Phrase ist. Aber damit gibt es immerhin einen Anknüpfungspunkt für jene Haltung, von der ich gesprochen habe.
Die Gefahr, der Nachteil liegt natürlich gleichzeitig darin, dass dieses Wort verformt und mit falschen und schädlichen Inhalten gefüllt wurde, sodass es andererseits den Weg auch wieder erschweren kann. Viele Menschen stehen inzwischen der Kirche und dem Christentum, oder auch der Religion insgesamt so kritisch gegenüber, dass das Wort »Gott« für das Gespräch mit ihnen unbrauchbar geworden ist. Meine persönliche »Taktik« besteht darin, innerhalb der Kirche von Gott zu sprechen, in kirchenkritischen Kreisen hingegen das Wort zu vermeiden.
Es gibt natürlich viele Wege, die Aufmerksamkeit für Gott, für den »Gott der Frauen« zu wecken, der das Andere ist und die Liebe zum Anderen. Die Politik der Frauen, die Theologie der Muttersprache, ist gleichzeitig komplizierter und einfacher als die üblichen Kämpfe um die Macht, um Einfluss, um Revolution. Sie besteht darin, eine andere politische Praxis zu haben. Eine Praxis, die die konkreten Kämpfe und Projekte nicht gering schätzt, aber sich nicht der Illusion hingibt, auf irgendetwas definitive Antworten und absolute Wahrheiten haben zu können. Frauen (und auch Männer, denn es handelt sich hier nicht um eine Wahrheit, die nur für Frauen gilt, sondern um eine Wahrheit, die von Frauen entdeckt und formuliert wurde) – also Menschen, die das Gespräch mit Gott suchen, sind, schreibt Muraro »mit der Gewissheit in der Welt, dass in ihr auch das Unmögliche Raum hat oder ihn finden kann. … Es gibt in dieser Welt ein Reales, das nicht gänzlich von dieser Welt ist.« (81)
Zum Schluss noch einige Thesen für das praktische Umgehen mit der Institution Kirche, die sich für mich, ausgehend von all dem, bewährt haben:
Innere Distanz halten zu dem, was in der Institution für wichtig gehalten wird: Bestimmte Tätigkeiten sind politische Tätigkeiten, auch wenn sie im Allgemeinen als zweitrangig und nebensächlich gelten, weil sie nicht den großen Entwurf machen, sondern in alltäglicher Vermittlungsarbeit bestehen. Die offizielle Politik – die der Gesetze, Institutionen, Parteien – ist nicht gänzlich unwichtig. Aber sie ist im Hinblick auf den Dialog und die zwischenmenschliche Beziehung zweitrangig verglichen mit jener ersten, konkreten Politik. Denn nur dort, im Konkreten, kann eine Öffnung entstehen, durch die Göttliches, Transzendentes, und damit: Neues in die Welt kommt. Es ist die Grundlage dafür, dass überhaupt Veränderung möglich ist.
Ein Vorschlag, das pragmatisch in feministische Handlungsoptionen zu übersetzen, wäre vielleicht Folgender: Nicht nach der Macht innerhalb der Hierarchien streben, nicht die eigene Kraft dafür aufwenden, dieses oder jenes zu werden, aber jede sich bietende Möglichkeit geistesgegenwärtig nutzen, um innerhalb der Institution etwas zu verändern.
Auf das eigene Begehren zu achten und die Unterschiede unter uns dabei wahrzunehmen und fruchtbar zu machen. Nicht alle mögen wir Leitungsämter, nicht alle mögen wir Gremiensitzungen. Wenn wir uns aber darauf einigen können, dass unser Anliegen, unsere Anliegen, im Plural, komplex sind, dann können wir uns bei unseren jeweils unterschiedlichen Wegen unterstützen. Also wenn eine Frau Lust auf ein Leitungsamt hat, sie zu unterstützen, wenn keine Lust darauf hat, das zu thematisieren und diese Differenz als Frage in die Kirche hineinzutragen.
Von sich selbst ausgehen. Das ist entscheidend für diese Praxis. Ausgehen vom konkreten und alltäglichen Erleben, aber nicht dabei stehen zu bleiben, sondern dieses Konkrete und Alltägliche und Eigene in Worte zu fassen, dem Urteil anderer Frauen anzuvertrauen und so zu einer neuen »symbolischen Ordnung« zu finden.
Gottvertrauen haben: Der »unvorhersehbare« Gott der Frauen ist anwesend und abwesend gleichzeitig (der Fern-Nahe, wie Margarete Porete schreibt), er gibt sich in einer Beziehung freier Liebe zu erkennen, lässt sich aber niemals greifen. Aber er/sie/es lässt sich in einer konkreten Situation erfahren. Es ist keine Illusion, keine psychologische Einbildung, sondern es ist real. Ich kann es ersehnen, lieben, und durch mein Sehnen und meine Liebe kann es sich ereignen oder auch nicht. Es hängt von mir ab und es hängt nicht von mir ab. Das ist das große Paradox: Es ist kontingent, also zufällig. Und es ist gleichzeitig notwendig, denn wir Menschen brauchen es so dringend wie die Luft zum Atmen. Deshalb bleiben wir immer Bedürftige, und genau darin, in dieser Bedürftigkeit, liegt der Schlüssel für unsere Freiheit. Es ist die Verleugnung dieser Bedürftigkeit, die uns Menschen unfrei macht. (Muraro, S. 34)
Dies war zumindest die Haltung, aus der heraus religiöse Frauen im 13. und 14. Jahrhunderts ihre »Theologie in der Muttersprache« entwickelten, die seither viele Frauen und Männer inspiriert hat, direkt und indirekt, die aber in der offiziellen Kirche als Institution so gut wie keine Rolle spielt. Deren Erbe wir aber immer noch antreten können als Frauen, die daran arbeiten, eine Kirche zu schaffen, die sie, die wir lieben können. Und es ist heute immer noch so, wie es Luisa Muraro im Bezug auf unsere Vorgängerinnen beschreibt: »Es handelte sich um einen Kampf, den wir als politisch betrachten können. Dabei ging es aber nicht um politische Macht oder soziale Gerechtigkeit: Der Kampf ging um einen größeren und freieren Sinn unseres Daseins in der Welt. Es ging um das Glück, ja, ich glaube, das ist das richtige Wort.« (Muraro, S. 24)
Vortrag bei der Tagung der Initiative »Tempo« zur Institutionalisierung feministischer Theologie, Hofgeismar, 24.6.2010