Die symbolische Ordnung der Mutter
„Es ist wichtiger, Lehrmeisterinnen zu haben, als anerkannte Rechte zu besitzen. Eine Frau braucht eine positive weibliche Autorität, wenn sie ihr Leben in einem Entwurf der Freiheit leben und darauf ihr Frausein gründen will. Der weibliche Geist ohne symbolischen Bezugsrahmen ist furchtsam. Aber Sicherheit bekommt eine Frau nicht durch Gesetze und nicht durch Rechte. Unverletzbar wird eine Frau, wenn sie ihre Existenz von sich selbst ausgehend entwirft und innerhalb sozialer weiblicher Lebenszusammenhänge Stabilität gewinnt.“ (Wie weibliche Freiheit entsteht, S. 25)
Diese Passage stammt aus dem Buch „Wie weibliche Freiheit entsteht“, das italienische Feministinnen aus dem Mailänder Frauenbuchladen 1987 veröffentlicht haben. Vielleicht ist in den seither vergangenen dreißig Jahren der Glaube daran, dass Rechte und Gesetze den Frauen zu Freiheit verhelfen können, sogar noch stärker geworden. Doch gleichzeitig wird auch der Preis der Emanzipation deutlicher: die männliche Dominanz ist weitgehend ungebrochen, der Eintrittspreis von Frauen zur öffentlichen Sphäre besteht in ihrer Bereitschaft, sich der Norm des Männlichen anzupassen.
Wie können freie Frauen in einer solchen Welt sinnvoll handeln? Die Italienerinnen sagen: Indem sie die Beziehungen zwischen Frauen in den Mittelpunkt stellen, indem sie ihre Anerkennung nicht bei den Männern und deren Institutionen suchen, sondern in einem anderen Maßstab, der sich aus den Beziehungen zwischen Frauen bildet. Luisa Muraro hat dies in ihrem gleichnamigen Buch von 1991 unter den Begriff „Die Symbolische Ordnung der Mutter“ gefasst.
„Symbolische Ordnung“ verweist auf die Tatsache, dass die Welt nur existiert, indem sie interpretiert wird – das Reale und das Symbolische gemeinsam bilden die Realität. Dabei folgt die Interpretation immer bestimmten Narrativen und Ordnungen, die in einer Kultur für selbstverständlich gehalten werden – in unserer Kultur ist das zum Beispiel die Überordnung des Männlichen über das Weibliche. „Arbeit an der symbolischen Ordnung“ ist deshalb eine politische Arbeit: Wenn wir über Dinge anders denken und sprechen, wenn wir sie anders interpretieren, werden wir uns zwangsläufig auch anders verhalten. Wenn wir unsere Beziehung zur Welt verändern, dann verändert sich die Welt insgesamt. Es gibt keine Trennung zwischen „Theorie“ und „Praxis“.
Die italienischen Differenzfeministinnen haben an die Stelle der patriarchalen „Ordnung des Vaters“ nicht, wie andere feministische Strömungen, das Narrativ der Gleichstellung und Emanzipation entgegen gesetzt, sondern das der Beziehungen unter Frauen. Nicht Gleichheit, sondern Unterschiedlichkeit und Differenz, nicht universale Regeln sondern konkrete Begegnungen, nicht Macht und Gesetz, sondern Autorität und Begehren prägen diese Beziehungen.
Als Luisa Muraro in ihrem Buch die Beziehung zwischen Tochter und Mutter als die erste und grundlegende dieser Beziehungen benannt hat, brach sie ein feministisches Tabu. Denn Kritik am Konzept „Mütterlichkeit“ war eine wichtige Säule im Feminismus der 1970er Jahre gewesen, nicht nur bei Simone de Beauvoir. „Die Mutter“ galt als unbrauchbares Vorbild, war sie doch im Rahmen einer patriarchalen Logik abgewertet, ihre Tätigkeit als rein „natürlich“, körperliche, geist-los verstanden worden. Eine emanzipierte Frau orientierte sich eher am Vater, der für die große freie Welt stand, während die Mutter im Privaten eingesperrt blieb.
Das führt jedoch dazu, kritisiert Muraro, dass die Frauen ständig bemüht sein müssen, den Vätern zu gefallen. Oder, die andere Seite der Medaille: Sie verwenden ihre ganze Zeit und Energie darauf, das Patriarchat zu kritisieren und zu bekämpfen. Aus diesem Dilemma bietet die Idee von einer „symbolischen Ordnung der Mutter“ einen Ausweg: Den Sinn des Seins, so Muraro, findet eine Frau nur dann, wenn sie ihre Mutter liebt und ihr dankbar ist. Und: Dies ist nicht nur ein notwendiger Schritt zur weiblichen Freiheit, sondern gleichzeitig der einzige Schritt, der notwendig ist. Nur eine Frau, die ihre Mutter lieben und ihr dankbar sein kann, ist frei. Und: Eine Frau, die ihre Mutter liebt und ihr dankbar ist, ist frei, mehr ist nicht nötig.
Es ist wichtig, zu verstehen, dass damit keine psychologische Qualität gemeint ist, keine moralische Forderung in dem Sinne, dass wir unsere Mutter liebhaben sollen (was ja auch die patriarchale Kultur schon von Töchtern eingefordert hat). Sondern es ist eine symbolische Aussage, die mich, eine Frau, anders in der Welt verortet: Ich brauche nicht mehr als die Beziehung zu meiner Mutter, um frei zu sein. Keine Frauenförderpläne, keine Quoten, keine Verbote sexistischer Werbung, kein Entgegenkommen seitens der Männer. Meine Freiheit gründet im Gegenteil darauf, dass ich mich nicht mehr existenziell auf Männer und die von ihnen geschaffene Ordnung beziehe. Sondern eben auf andere Frauen, und damit zuallererst auf die Frau, der ich mein Leben verdanke.
Damit ist kein Qualitätsurteil über mütterliches Handeln verbunden. Es geht genau nicht darum, Mütterlichkeit zu idealisieren oder zu überhöhen: Wir können unsere Mutter lieben und ihr dankbar sein, auch wenn sie eine schlechte Mutter war oder ist. Unsere Liebe und Dankbarkeit der Mutter gegenüber ist schlicht die Anerkennung einer Realität: Ohne Bezug auf eine weibliche Genealogie sind Frauen in dieser Welt, die auf ihr Begehren nicht gewartet hat, verloren, sie können nicht originell sein, keine eigenen Anfänge machen, sondern brauchen immer den Umweg über das Männliche, das nicht sie selbst sind.
Nun wenden manche ein, dass doch das ursprünglich männlich gedachte Konzept der Freiheit durch Autonomie und Unabhängigkeit inzwischen auch den Frauen angeboten werde. Das stimmt, das Problem ist nur, dass dieses Konzept eine Distanzierung von der Mutter voraussetzt. Das Erwachsenwerden der Söhne umfasste schon immer die Trennung von der Mutter, während von den Mädchen früher verlangt wurde, in die Fußstapfen ihrer Mütter zu treten. Aus diesem Grund ist es in unserer Kultur schon immer für Söhne leichter gewesen, die Mutter zu lieben: Niemand hat von ihnen verlangt, so zu werden wie sie. Die Töchter hingegen wurden durch diese Kultur in das Dilemma getrieben, zwischen der Orientierung an der Mutter und einem Leben in Freiheit wählen zu müssen.
Es stimmt, dass heute Töchter in dem Bemühen, sich von den Lebensentwürfen der Mütter zu distanzieren, unterstützt werden, sie sollen ja emanzipiert sein und vor allem dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Doch diese Distanzierung von der Mutter bedeutet für Frauen prinzipiell etwas anderes als für Männer: Sie distanzieren sich damit auch von ihrem eigenen Geschlecht, von ihresgleichen, und damit letztlich auch ein bisschen von sich selbst. Sie sind dann nicht „ganz“ da, in der Welt.
Die radikale Frauenbewegung der 1970er Jahre hat diesen Mechanismus kritisiert, nicht auf einer psychologischen oder moralischen, sondern auf einer politischen Ebene, wie Muraro schreibt: „Ich beziehe mich auf jene Bewegung, die … uns dahin gebracht hat, die Gesellschaft anderer Frauen zu schätzen, für unseren Geist eine Nahrung zu suchen, die dem Denken von Frauen entspringt, unserem Geschlecht Glauben zu schenken und Vertrauen entgegenzubringen. Die Veränderung wirkt wie ein Flashback, der die ursprüngliche Beziehung mit der Mutter wieder aufleben lässt, allerdings in einem neuen Kontext, einem Kontext, der sich verändert hat durch die Anwesenheit von Frauen, die sich lieben, sich gegenseitig zuhören, sich gegenseitig beurteilen und wertschätzen. So kommt es, dass jene Spiele, die mit der Kindheit vorbei und begraben zu sein schienen, wiedereröffnet werden: Das Glück, als Frau geboren zu sein, das eine Frau nun bewusst erlebt, verwandelt sie selbst zu Recht in Dankbarkeit für jene Frau, die sie auf die Welt gebracht hat. Es geht nämlich darum, den Weg jener Verschiebung – von der Mutter zum Mann –, die unsere Zivilisation als unvermeidlich dargestellt hat, rückwärts zu begehen. Es geht darum, der Beziehung einer Frau zu ihrer Mutter die Kraft des Symbolischen zurückzuerstatten. Kurz gesagt, es geht um die Freiheit einer Frau.“ (Luisa Muraro: Die Liebe als politische Praxis, Artikel in der Via Dogana, Dezember 1991, auf Deutsch im Internetforum Beziehungsweise weiterdenken)
Selbstverständlich hat weibliche Freiheit, die auf mütterlicher Autorität gründet, auch problematische und schwierige Aspekte. Das ist aber kein prinzipieller Einwand, denn bekanntlich ist die männliche Freiheit, die auf der Autonomie und Unabhängigkeit der Individuen aufbaut, ebenfalls nicht vor problematischen Aspekten gefeit. Es ist richtig und notwendig, sich mit den problematischen Aspekten der „mütterlichen Ordnung“ beschäftigen, und in der Tat haben die italienischen Diotima-Philosophinnen, zu denen Luisa Muraro gehört, dem Thema ein ganzes Buch gewidmet, das „der Schatten der Mutter“ heißt. (Diotima: L’ombra della Madre, Liguori Editore, Napoli 2007).
Doch dass etwas starke negative Aspekte hat oder haben kann, bedeutet eben nicht, dass es falsch oder unwichtig ist. Die symbolische Ordnung der Mutter ist ein gesellschaftliches Narrativ, das die weibliche Freiheit in der Beziehung zu konkreten anderen Frauen, denen ich mich verdanke – und an erster Stelle meiner Mutter – verortet. Damit bestreitet es Grundpfeiler der patriarchalen Kultur, zum Beispiel die Trennung von Körper und Geist, die in der Mutter gerade aufgehoben ist. Ein Thema, das heute vielleicht aktueller ist denn je. Wenn man sich zum Beispiel den Trend zur Leihmutterschaft anschaut, dann scheint es im Denken vieler Menschen überhaupt keinen Zusammenhang mehr zwischen dem körperlichen Aspekt der Mutterschaft (Schwangerschaft, Geburt, Stillen) und dem geistigen Aspekt (Kinderwunsch, Ja zum Kind sagen, das Kind lehren, vor allem die Sprache) zu geben – weshalb dieser körperliche Aspekt dann an eine Frau in Indien zum Beispiel ohne Verlust „outgesourct“ werden kann. In ihrem aktuellen Buch „L’anima del corpo. Contro L’utero in affitto“ (Die Seele des Körpers.
Gegen Leihmutterschaft, Editrice La Scuola 2016) greift Luisa Muraro genau in diesem Zusammenhang ihre Ideen zur symbolischen Ordnung der Mutter wieder auf.
Die Bedeutung von „Mutterschaft“ steht nicht fest, und bei der Frage, welche kulturelle Bedeutung die mütterliche Beziehung hat, geht es nicht darum, wer die Windeln wechselt oder den Brei kocht. Sondern es geht um die viel weiter gehende Frage, wie wir Differenz denken, also die grundlegende Unterschiedlichkeit der Menschen, die sich am Anfang des Lebens so eklatant zeigt. Und welche politische und persönliche Bedeutung wir dabei unserem Frausein und dem unserer Mutter geben.
Erschienen in: aep informationen. Feministiche Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, Nr. 3/2016