Die Deutschen sterben aus – und die Frauen sind schuld?
Sterben die Deutschen aus? Und sind die Frauen daran schuld, weil sie, erstens, zu wenig Kinder bekommen und sich, zweitens, vor lauter Karrierestreben nicht mehr ordentlich um deren Aufzucht kümmern? Leidet unsere Gesellschaft an einem Werteverfall, weil ihr im Zuge der Frauenemanzipation das mütterliche, sorgende, sich aufopfernde Element abhanden gekommen ist?
Hartnäckig hält sich der Verdacht, dass der Feminismus schlecht sei für die Geburtenrate und das Kindeswohl. Neu ist er keineswegs. Schon im Jahr 1914 beantwortet die Frauenrechtlerin Marie Bernays in einem bemerkenswert aktuellen Artikel die Frage »Besteht ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Frauenbewegung und dem Geburtenrückgang?« mit einem gut begründeten Nein. Schon sie sah sich allerlei aufgeregten Analysten und Statistikern gegenüber, die das Aussterben der Deutschen prognostizierten, wenn das mit dem Feminismus so weitergehe. Rein zahlenmäßig gab es für solche Ängste damals übrigens weit mehr Anlass als heute: Zwischen 1900 und 1920 sank die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau ganz dramatisch – von fünf auf nur noch zwei. Auch damals war die Frauenbewegung der Sündenbock: Mit ihren Forderungen nach dem Frauenwahlrecht, der Zulassung von Studentinnen an den Universitäten und dem Zugang bürgerlicher Frauen zur Erwerbsarbeit schaufele sie der deutschen Hausfrau und Mutter das Grab, so der weit verbreitete Vorwurf.
Dass man den Frauen das Wahlrecht wieder abnehmen und sie von den Universitäten werfen soll, fordert heute hierzulande zwar niemand mehr. Schließlich müssen Frauen ja auch dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, jedenfalls die gut ausgebildeten unter ihnen, denn unserer Wirtschaft droht ein Fachkräftemangel. Aber der Verdacht, dass zuviel Feminismus dem Kindersegen schade, ist noch immer nicht ausgeräumt. Denn besteht bei zuviel weiblicher Freiheit nicht die Gefahr, dass die Frauen allesamt zu Individualistinnen werden, ihre gesellschaftlichen Aufgaben vergessen und sich nur noch für ihr eigenes süßes Leben, ihre Karriere, ihr Geld, ihre Urlaubsreisen interessieren?
Das genaue Gegenteil ist richtig. Feministinnen bekommen keineswegs weniger Kinder als andere Frauen. Mehr noch: Dass es heute so etwas wie »Familienpolitik« überhaupt gibt, ist in aller erster Linie der Frauenbewegung zu verdanken. Die hat nämlich dafür gesorgt, dass die Schaffung einer »kinderfreundlichen« Gesellschaft zu einem allgemeinen politischen Anliegen geworden ist, und dass zumindest die gröbsten Ungerechtigkeiten in der wirtschaftlichen Benachteiligung von Müttern beseitigt wurden.
Zunächst einmal die Fakten: Dass Frauen in Deutschland »immer weniger Kinder« hätten, wie dauernd behauptet wird, ist schlichtweg falsch. Richtig ist, dass die Geburtenrate sinkt – aber das hat nichts mit weiblicher Gebärunlust zu tun, sondern liegt schlicht daran, dass die Menschen heute älter werden als früher und daher proportional zur Bevölkerungsanzahl immer weniger Frauen im gebärfähigen Alter sind. Die einzelnen Frauen haben im Durchschnitt immer noch genauso viele Kinder wie vor dreißig Jahren, nämlich ungefähr 1,6. (Die niedrigere statistische Fertilitätsrate von knapp 1,4 ist der Tatsache geschuldet, dass sich das Gebäralter der Frauen kontinuierlich nach hinten verschoben hat.)
Damals, Mitte der 1970er Jahre, ist die statistische Kinderzahl pro Frau in der Tat ziemlich abrupt gesunken, und zwar von 2,5 auf ungefähr den Stand von heute. Weil das rein zeitlich mit dem Aufkommen der neuen Frauenbewegung zusammenfiel, glaubt so mancher Schlaumeier, es gebe hier auch einen ursächlichen Zusammenhang. Mitnichten. Wenn man die Statistiken etwas genauer anschaut, dann zeigt sich nämlich, dass der »Pillenknick« deshalb zustande kam, weil eine effektive Empfängnisverhütung nun nicht mehr nur den gebildeten und aufgeklärten Frauen möglich war, sondern allen. Was zur Folge hatte, dass Frauen gerade aus einfacheren Verhältnissen, die ehedem vier, fünf oder sechs Kinder hatten, nun nur noch eins oder zwei bekamen. Das waren aber nicht unbedingt die feministischen Vorreiterinnen.
Das Anliegen von Feministinnen war es noch nie, Frauen das Kinderkriegen auszutreiben, sondern im Gegenteil die Position von Müttern zu stärken und die Gesellschaft insgesamt kinderfreundlicher zu machen. Es waren Feministinnen, die schon vor dreißig Jahren eine Diskussion über Generationenpolitik angestoßen haben. Ihr Ausgangspunkt waren die Erfahrungen, die sie in der Studentenbewegung gemacht hatten: dass es nämlich praktisch unmöglich war, politisches Engagement und Mutterschaft miteinander zu vereinbaren, und dass ihre revolutionären Genossen nicht berücksichtigten, dass Menschen nicht einfach so nächtelang diskutieren und Flugblätter entwerfen können, wenn sie Kinder haben, die gefüttert und gewickelt werden wollen. Schon damals hat die Frauenbewegung entdeckt und diskutiert, was heute als angeblich neue Erkenntnis durch die Feuilletons wabert: Emanzipation und Berufstätigkeit sind für Frauen relativ leicht zu verwirklichen, solange sie kinderlos sind. Die wirklichen Probleme beginnen dann, wenn sie Mütter werden.
Die Mütter- und Kinderfrage war also die entscheidende Initialzündung der Frauenbewegung gewesen. Feministinnen haben damals die ersten Kinderläden gegründet, neue pädagogische Konzepte entworfen und zusammen mit Erzieherinnen für eine bessere Ausstattung von Kindergärten gekämpft – lange, bevor das zum gesellschaftspolitischen Mainstream geworden ist. Die so genannte »Abtreibungsfrage« war nur ein Unterpunkt in diesem weit umfassenderen feministischen Projekt, das lautete: Wir wollen die Tatsache, dass es Frauen sind, die Kinder gebären, und dass Menschen immer in Generationen zusammen leben, auf eine gute Weise organisieren. Wir wollen, dass Mütter sozial und politisch aktiv sein können und dass Kinder trotzdem behütet aufwachsen, gut und qualifiziert betreut und ausgebildet werden. Und wir wollen, dass das Geld in unserer Gesellschaft so verteilt wird, dass Mutterschaft nicht länger zur Abhängigkeit von einem Mann oder zu Armut führt. Feministinnen waren damit Vorreiterinnen einer familienpolitischen Debatte, denn all dies interessierte damals die offizielle Politik (sowohl im Parlament als auch in der APO) wenig, weil Kinderhaben für eine weibliche Privatangelegenheit gehalten wurde.
Dass diese Pionierleistung der Frauenbewegung so völlig in Vergessenheit geraten konnte, liegt auch daran, dass die Forderung nach selbst bestimmter Mutterschaft damals einen Tabubruch unerhörten Ausmaßes darstellte. Das können wir uns heute, wo die Emanzipation der Frau zum staatsbürgerlichen Bekenntnis geworden ist, gar nicht mehr wirklich vorstellen. Der alte feministische Slogan »Ob Kinder oder keine entscheide ich alleine!« regt doch niemanden mehr auf. Natürlich, sagen selbst Konservative, darf man die einzelnen Frauen zu nicht zwingen. Doch vor dreißig Jahren bedeutete das Pochen auf ein weibliches Selbstbestimmungsrecht den Bruch mit einer Jahrhunderte alten Tradition. Bis dahin stand es nämlich ganz außer Frage, dass nicht etwa die Frauen selbst über ihre Mutterschaft zu entscheiden haben – sondern ihre Ehemänner!
Über Jahrhunderte hinweg hatten die Männer ja versucht, die Kontrolle über die weibliche Gebärfähigkeit zu bekommen, zum Beispiel mit Hilfe von Gesetzen, die dem Vater alle Rechte gaben und der Mutter keines. Ehebruch seitens einer Frau war mit unglaublich drakonischen Strafen belegt. Bis in die sechziger Jahre hinein war es ein regelrechter Skandal, wenn eine unverheiratete Frau schwanger wurde. »Bastarde« wurden ihre Kinder genannt, kein Gesetz schützte ihre Rechte und keine Sozialhilfe sicherte ihr materielles Auskommen oder das ihrer Mütter. Andererseits galten verheiratete berufstätige Frauen als Schmarotzerinnen, die Männern die Arbeitsplätze wegnahmen: »Doppelverdienerinnen« wurden sie tituliert, die sich ihrer genuinen Aufgabe – nicht als Frau, sondern als Ehefrau! – verweigerten: Ihrem Mann Kinder zu schenken.
Alle, die es also heute für selbstverständlich halten, dass Kinder in unserer Gesellschaft jederzeit willkommen sind, die der Meinung sind, dass Berufstätigkeit und Elternschaft miteinander vereinbar sein sollten, und die es gut finden, wenn auch Väter sich an der Erziehung ihrer Kinder beteiligen – sie alle sollten sich einmal klar machen, dass das klassische feministische Vorstellungen sind, die sie da vertreten. Wir ernten heute die Früchte dessen, was mutige Frauen in den siebziger Jahren angestoßen und bewegt haben.
Und auch für die heutige Situation gilt: Wer die Geburtenrate erhöhen will, braucht nicht weniger, sondern mehr Feminismus! Das Hauptanliegen der Frauenbewegung ist ja schließlich die Beförderung weiblicher Freiheit, das heißt, der Feminismus will dem, was Frauen wollen und sich wünschen, zu mehr gesellschaftlichem Einfluss verhelfen. Und was wollen Frauen? Sie wollen eben deutlich mehr Kinder haben, als sie faktisch bekommen – im Schnitt nämlich ungefähr 1,8. Geburten scheitern nicht an feministischen Ideologien, sondern an fehlenden Kindergartenplätzen, Geldproblemen, unflexiblen Arbeitsplätzen – und zunehmend auch an den Männern. Fast die Hälfte der Frauen, die ein Kind möchten, findet schlichtweg keinen passenden Erzeuger – die Lust auf Vaterschaft ist in den letzten Jahren besorgniserregend zurückgegangen: 26 Prozent der jungen Männer wollen keine Kinder, gegenüber nur 11 Prozent der Frauen, wobei sich die »Kinderunlust« der Männer seit 1992 mehr als verdoppelt hat, während sie bei den Frauen kaum gestiegen ist.
Dass die Schuld an niedrigen Kinderzahlen heute immer noch bei der Frauenbewegung vermutet wird, ist aber auch deshalb so skandalös, weil ja schon längst klar ist, dass die Ursachen für Kinderlosigkeit ganz woanders liegen. So ist es doch auffällig, dass ausgerechnet diejenigen, die in ihren Feuilletons über den Werteverfall und das Ende des familiären Zusammenhalts klagen, gleichzeitig in ihrem Wirtschaftsteil den Neoliberalismus prägen, also eine Wirtschaftsweise, die eindeutig familienfeindlich ist. Der Arbeitsmarkt verlangt inzwischen ein Höchstmaß an Flexibilität, die Zahl der Überstunden steigt wieder an, und es wird immer üblicher, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ständig erreichbar sein müssen, stets bereit, im Interesse des Unternehmens zu reisen oder gar umzuziehen. Das sind ja wohl alles andere als günstige Bedingungen für die Gründung einer Familie, die nun einmal auf eine gewisse Stabilität angewiesen ist.
Auch die alten patriarchalen Verhaltensmuster wirken sich auf vielfältige Weise schädlich auf die Kinderzahlen aus – und zwar international durchaus unterschiedlich. So ist etwa zu konstatieren, dass die Geburtenzahlen in jenen Ländern besonders niedrig sind, in denen es im 20. Jahrhundert nationalsozialistische oder faschistische Regime gegeben hat: Deutschland, Österreich, Spanien, Italien, Griechenland. Offensichtlich wirkt sich das entsprechende Mutterbild der mythologisch aufgeladenen Volksgebärerin, die sich ausschließlich der Kinderaufzucht widmet, noch immer negativ aus. Jedenfalls liegen die Kinderzahlen in Ländern mit einer pragmatischeren Einstellung zur Bevölkerungspolitik und ohne faschistische Vergangenheit – Frankreich, England, USA, Skandinavien – durchgängig höher. Hier gibt es keine ideologisch aufgeheizten Debatten um angebliche »Rabenmütter« oder diffuse Ängste vor den vermeintlich negativen Folgen von »Fremdbetreuung.«
Wie könnte nun also das Zusammenleben der Generationen neu gestaltet werden? Der allerwichtigste Punkt dabei ist, dass wir uns endlich einmal von der Vorstellung verabschieden, alle Frauen müssten mehr oder weniger dasselbe machen. Frauen haben keine naturgegebenen Pflichten und Aufgaben – ebenso wenig wie Männer. Sie sind nicht determiniert, weder von ihrer Natur, von ihrer Biologie, von ihren Hirnströmen, noch von ihrer Erziehung und ihrer Sozialisation. Die Diskussionen über das »Wesen der Frau«, die im Zuge der Demografiedebatte jetzt zum hundertsten Male wieder aufgelegt werden, sind so öde wie überflüssig. Natürlich ist jede Frau geprägt und beeinflusst von ihrem Körper und von der Biologie, ebenso wie von ihrer Erziehung und der Kultur, in der sie aufgewachsen ist. Aber das ist doch nur ihr Ausgangspunkt. Ihre Freiheit, eigenverantwortlich zu handeln, ist davon überhaupt nicht berührt. Worauf es schließlich ankommt ist das, was eine Frau dann tut. Und das ist – genau darin liegt ja das Spannende – normalerweise eben etwas anderes, als das, was ihre Geschlechtsgenossin von nebenan tut. Frauen sind freie, handelnde, verantwortliche Wesen, und ihre vielen unterschiedlichen Ideen und Visionen sind wichtig. Das ist die Botschaft des Feminismus.
Schaut man sich allerdings die aktuellen Veröffentlichungen zum Thema Kinderhaben an, dann ist da nichts zu lesen von der Vielfalt weiblicher Ideen und Visionen zum Zusammenleben der Generationen. Was uns da begegnet, ist immer wieder eine steretoype Masse namens »die Frauen«, die statistisch vermessen wird und durch diese oder jene Maßnahme auf Norm getrimmt werden soll. Zum Beispiel scheinen sich viele eine gute, also den eigenen Bestand kontinuierlich reproduzierende Bevölkerung so vorzustellen, dass jede Frau die dafür statistisch notwendigen zwei Kinder auch höchstpersönlich bekommt. Kinderlose Frauen gelten ebenso als bevölkerungspolitische Irrgängerinnen wie Frauen, die mehr als drei Kinder haben.
Der Statistik ist es aber schlichtweg egal, ob ein neu geborenes Kind das erste, zweite, dritte, vierte oder fünfte ist. Für das bevölkerungspolitische Ziel, die Fertilitätsrate zu erhöhen, ist das Ideal der Zwei-Kind-Familie schädlich. In den USA oder in Schweden etwa ist die Quote der lebenslang kinderlosen Frauen fast genauso hoch wie in Deutschland, und dennoch liegt die Fertilitätsrate im bestandserhaltenden Bereich: weil diejenigen Frauen, die Mütter sind, dort nicht eins oder zwei, sondern drei, vier oder fünf Kinder haben.
Es wird immer Frauen geben, die keine Kinder haben möchten. Wer mit Leidenschaft berufliche Ziele verfolgt und entsprechende Schwerpunkte im Lebenslauf setzen möchte, lässt sich mit äußeren Anreizen oder Sanktionen nicht zu einer Elternschaft bewegen. 44 Prozent der kinderlosen Frauen geben an, dass sie ohne Kinder zufrieden sind – woraus sich durchaus schließen lässt, dass diese Frauen auch bei großzügigster Familienförderung an ihrem Lebensstil nichts ändern würden. Maßnahmen, die effektiv sein wollen, müssen sich doch wohl sinnvollerweise auf die 56 Prozent kinderloser Frauen richten, die mit diesem Zustand nicht zufrieden sind.
Man kann natürlich auch an diesem Punkt die Frage nach der Gerechtigkeit stellen: Leben die Kinderlosen nicht auf Kosten der anderen? Profitieren sie nicht unverhältnismäßig von unseren Sozialsystemen, die die Rente vergesellschaftet haben, die Kosten für die Kindererziehung aber bei den Eltern belassen? In der Tat ist es mehr als überfällig, diesen Aspekt sorgfältig zu diskutieren. Allerdings wären zunächst einmal Kriterien zu entwickeln, wie der »generative Beitrag« Einzelner (wie das im Fachjargon genannt wird) quantitativ und qualitativ überhaupt erfasst werden kann. Eine schlichte Aufteilung in Kinderlose und Eltern ist jedenfalls vollkommen unsinnig. Quantitativ gesehen ist nämlich das »Ungerechtigkeitsverhältnis«, wenn man so will, zwischen einer Frau mit einem Kind und einer mit drei Kindern doppelt so hoch, wie das zwischen einer Kinderlosen und einer Frau mit nur einem Kind. Und qualitativ kann der generative Beitrag einer Kinderlosen, die sich zum Beispiel ehrenamtlich in der Hausaufgabenhilfe für sozial schwache Kinder engagiert, höher sein, als der eines biologischen Vaters, der ansonsten nichts zur Erziehung seiner Kinder beiträgt.
Hinter der offenbar unausrottbaren Aufteilung von Frauen in sich gegenüberstehende Spezies namens »Mütter« und »Kinderlose« steckt in Wahrheit nicht das Bemühen um Gerechtigkeit, sondern vielmehr, mal unterschwellig, mal offen ausgesprochen, die Vorstellung, erst durch die Mutterschaft werde eine Frau komplett und vollständig. Aber dieser Mythos transportiert nicht nur ein überholtes Frauenbild, er ist heute unter demografischen Gesichtspunkten im wahrsten Sinn des Wortes kontraproduktiv. Denn es ist eben nicht ein rasanter Anstieg der »Kinderlosen« für die prognostizierte Misere »Geburtenmangel« verantwortlich, sondern der Anteil der Frauen, die früher vier oder fünf Kinder hatten, ist geschrumpft. Nicht die Kinderlosen haben sich in erster Linie verändert, sondern die Mütter: Sie bekommen heute nur noch zwei oder noch häufiger sogar nur ein Kind – ganz im Sinne der Propaganda vom weiblichen Wesen. Denn für die imaginierte »Komplettierung« ihres Frauseins durch die Erfahrung der Mutterschaft reicht ein Kind ja völlig aus.
Natürlich ist es eine voll und ganz zu respektierende Entscheidung, wenn eine Frau nur ein Kind haben möchte. Bedenklich ist jedoch eine Kultur, die Familien mit vielen Kindern fast schon für asozial hält, und die Frauen, die in der Mutterschaft nicht nur eine kurze »Phase« und eine »Erfahrung« sehen, die sie nicht missen wollen, sondern die sich eine ganze Reihe von Jahren lang Zeit nehmen, um mehrere Kinder zu haben und groß zu ziehen, für tendenziell »unemanzipiert« hält, weil sie nicht den gleichen beruflichen Ambitionen folgen können wie ihre kinderlosen oder nur ein Kind habenden Geschlechtsgenossinnen. Was in der Tat heute ein großes Risiko ist. Denn »Nur-Hausfrau« zu sein, kann keine Option für ein ganzes Leben mehr darstellen. Selbst mit drei oder vier Kindern ist eine Frau allerhöchstens 20 Jahre beschäftigt – bei einer Lebenserwartung von 80 Jahren ist das zu wenig an »aktiver« Zeit. Wenn Frauen ihre beruflichen Ambitionen also hinten anstellen, um sich der Erziehung von Kindern zu widmen, dann bedeutet das mehr als in früheren Generationen ein wirklich großes Opfer. Für die Zeit »danach« – und die kommt nun mal unweigerlich – haben sie sich viele Optionen verschlossen.
Es ist deshalb nur »vernünftig« – im Sinne der Marktlogik unserer gegenwärtigen Erwerbsarbeitsgesellschaft – wenn die meisten Frauen versuchen, diese Kinderphase möglichst kurz zu halten und quasi nebenbei abzuwickeln. Man muss eben heutzutage (Stichwort »Eigenverantwortung«) den eigenen Marktwert pflegen. Deshalb nehmen so viele Frauen mit kleinen Kindern in Kauf, dass sie extrem belastet und überarbeitet sind. Jede Frau, die Kinder hat, vollführt einen Balanceakt zwischen den Anforderungen der Kinder und denen des Arbeitsmarktes. Natürlich leiden darunter auch soziale Beziehungen und möglicherweise auch manche Kinder: Was nebenbei erledigt wird, wird eben meistens nicht wirklich gut erledigt. Aber wessen Schuld ist das? Haben die Frauen überhaupt eine andere Chance?
Im Grunde genommen gibt es derzeit in Deutschland überhaupt kein Modell dafür, wie eine Frau mehr als zwei Kinder haben kann, ohne damit ein sehr hohes persönliches Risiko einzugehen. Der Preis, den sie zahlen muss, ist der Verzicht auf viele Möglichkeiten, sich den eigenen Lebensunterhalt selbstständig auf einem angemessenen Niveau erwirtschaften zu können. Und das, wo gleichzeitig sozialstaatliche Sicherungssysteme zurückgefahren werden und immer weniger Männer geneigt (oder auch in der Lage) sind, den »Familienernährer« abzugeben. Mütter von drei, vier oder fünf Kindern stammen deshalb entweder aus sehr wohlhabenden Verhältnissen, sind also aufgrund ihres Vermögens auf Erwerbsarbeit nicht angewiesen oder verdienen genug, um einen Großteil der Haus- und Erziehungsarbeit an bezahlte Kräfte delegieren zu können. Oder es sind Frauen aus den unteren sozialen Schichten, die aus verschiedenen Gründen für sich im Erwerbsarbeitsmarkt sowieso keine Chance sehen. Den anderen bleibt gar nichts anderes übrig, als es bei zwei Kindern zu belassen.
Doch wer an diesem unbefriedigenden Zustand etwas ändern will, darf nicht die Frauen mit moralischen Appellen überschütten, sondern muss sich dafür einsetzen, dass unsere Gesellschaft neue Modelle von Arbeit, Einkommensverteilung, Wertschätzung und gesellschaftlichem Einfluss (sowohl in symbolischer, als auch in finanzieller Hinsicht) findet. Solange für das Problem der strukturellen Unmöglichkeit von Vielkind-Familien keine Lösung gefunden wird, kann die Fertilitätsrate gar nicht signifikant ansteigen.
Entsprechende Diskussionen haben zum Glück längst begonnen, zum Beispiel mit dem Vorschlag eines leistungsunabhängigen Grundeinkommens, mit dem Versuch also, Arbeit und Einkommen zu entkoppeln, oder auch mit Ideen für eine Umgestaltung des Arbeitslebens, damit sich Arbeitsbedingungen nicht nur an den Interessen der Unternehmen orientieren, sondern auch an den Notwendigkeiten der Familienarbeit. Auch hier sind Feministinnen wieder mal Vorreiterinnen, anders übrigens, als die meisten Herren, die sich so gerne als Bevölkerungsexperten zu Wort melden.
Die einzig sinnvolle Weise, eine höhere Kinderrate politisch zu fördern, ist es, den Kinderwunsch dort zu unterstützen, wo er zwar vorhanden, aber nicht realisiert ist: Also bei jenem Fünftel aller Frauen in Deutschland die ungewollt kinderlos sind, sowie bei der in der Debatte bisher noch überhaupt nicht berücksichtigten Anzahl von Müttern, die weniger Kinder haben, als sie eigentlich wollen. Die Entscheidungen, die Frauen im Bezug auf ihre Lebensplanung treffen, stellen sich für jedes Kind neu. Es ist deshalb schlicht unsinnig, sich, wie bei der Unterscheidung in Mütter und Nicht-Mütter, lediglich auf das erste Kind zu kaprizieren. Genauso wichtig sind, nicht nur aus bevölkerungspolitischer Sicht, Entscheidungen für oder gegen ein zweites, drittes oder viertes Kind. Warum wird in den Zeitungen eigentlich nicht darüber diskutiert, wie viele Mütter kein weiteres Kind bekommen? Und welchen Anteil dabei die Väter haben, die meinen, eins oder zwei seien genug?
Dass die Förderung von Frauen, die sich Kinder wünschen, nicht in ausreichendem Maße geschieht, liegt vor allem daran, dass die Debatten häufig um die Frage des idealen Familienmodells kreisen, anstatt alle möglichen Konstellationen zu akzeptieren und zu fördern. Die irreführende Einteilung von Frauen in Mütter und Nichtmütter hat mehr zu der niedrigen Geburtenzahl beigetragen als das Phänomen »Kinderlose«. Sicher, es gibt heute mehr Frauen als früher, die sich bewusst für die Kinderlosigkeit entscheiden. Ihnen gegenüber stehen aber zahlreiche Frauen, die sich mit Hilfe moderner Reproduktionstechniken ihren Kinderwunsch erfüllen, und die früher als »unfruchtbar« gegolten hätten. Und würden wir die Möglichkeiten für allein lebende oder lesbische Frauen fördern, auch ohne Paarbeziehung mit einem Mann Kinder zu haben, dann wäre es kein Problem, die Wünsche anderer Frauen nach Kinderlosigkeit zu akzeptieren.
Womit wir wieder beim Feminismus wären: Eine gute feministische Gesellschaft nämlich ist keine, in der alle Frauen dasselbe machen, sondern eine, in der jede Frau in Freiheit ihrem eigenen Begehren folgt, in der sie sich mit ihren individuellen Wünschen und Ideen heimisch fühlen, sich einbringen kann und gehört wird.