Über das Böse
Das Böse hat Konjunktur: George Bush ruft auf zum Kampf gegen die »Achse des Bösen«, für andere dagegen ist Amerika mit seiner Vormachtstellung in der Welt der Inbegriff des Bösen. Auch die die Freiheit der Frauen wird dabei oft als Argument geführt. Zum Beispiel als Kriegsgrund in Afghanistan, oder als Bekenntnis, das zur Vorbedingung für eine Einbürgerung in Deutschland abzulegen ist.
Indem andere, gegnerische Positionen als das »Böse« tituliert werden, werden politische Ereignisse wie Terroranschläge oder Kriege, aber auch Konflikte zwischen Bevölkerungsgruppen und Religionen sozusagen metaphysisch aufgeladen: Der Feind ist nicht einfach ein Gegner, sondern eben der das Böse. Ihm gegenüber gibt es daher kein Verhandeln, keine Kompromisse, kein Pardon. Es ist vielmehr Armageddon, der endzeitliche Kampf des Guten gegen das Böse. In der Realität führt dies aber meistens zu unfruchtbaren Patt-Situationen und vergrößert das Leid ins Endlose.
Weibliche Denkerinnen haben diese Gleichsetzung des Anderen und des Bösen oft kritisiert. Vielleicht deshalb, weil ja lange Zeit die Frauen auch die anderen, also die Bösen waren – aus männlicher Perspektive. Stattdessen erarbeiteten sie eine Theorie der kulturellen Differenz, die Unterschiede und Konflikte nicht als Ausdruck des Kampfes des Guten gegen das Böse interpretieren, sondern als Ausdruck der menschlichen Pluralität. Das Fremde, das Andere, ist nichts, was unsere Identität bedroht, sondern eine Ressource für Auseinandersetzung, Lernen und Veränderung. Dies war auch mein Ausgangspunkt, als wir vor etwa einem Jahr diesen Workshop planten. Erschreckt davon, wie gerade die Freiheit und Gleichberechtigung der Frauen als Vorwand für einen Krieg der Kulturen, von Gut gegen Böse zu legitimieren, wollte ich dieser Sache nachgehen. In diesem einen Jahr des Nachdenkens bin ich dann aber ganz woanders gelandet.
Wenn wir nämlich davon ausgehen, dass das Böse nicht identisch ist mit dem Anderen, mit der Differenz – und das war ja, wie gesagt, mein Ausgangspunkt – was ist das Böse dann? Gibt es Böses vielleicht gar nicht? Sondern nur unterschiedliche Varianten des Guten?
Die Philosophin Diana Sartori von der Philosophinnengemeinschaft Diotima in Verona, eine der Vordenkerinnen des italienischen Differenzfeminismus, sieht genau darin eine weibliche Versuchung, nämlich den Wunsch, »im Bereich des Guten zu bleiben«, also den Konflikt immer zu meiden, immer Ja zu sagen, nicht zu widersprechen, verständnisvoll zu sein. »Sie scheint wirklich eine große gute Mamma zu sein, dieser Dämon«, schreibt Sartori. Dieser Dämon, der uns einflüstert, wir sollten uns immer auf der Seite der Guten halten und immer an das Gute zu glauben. Das bedeutet nach Sartori letztlich »auf den größten Trick des Teufels hereinzufallen, nämlich den, uns glauben zu machen, dass er gar nicht existiert«
Mich hat dieser Hinweis nachdenklich gemacht. In Vorträgen und Seminaren, in denen ich Frauen auffordere, ihre Differenzen und Unterschiede nicht als etwas Böses und Teuflisches anzusehen, sondern als Ressource, als Chance, an diesen Unterschieden zu wachsen, beobachte ich auch häufig diesen Wunsch unter Frauen, die Existenz des Bösen zu leugnen und wegzuerklären.
Diese Einladung hierher gab mir Gelegenheit und Anlass, einmal genauer nachzulesen, was Philosophinnen, zum Beispiel Hannah Arendt, Ivone Gebara, Annarosa Buttarelli und andere über das Böse geschrieben haben. Mit Freundinnen und Freunden über das Thema zu diskutieren, sie zu befragen. Meine eigenen Erfahrungen zu reflektieren: Was ist das Böse? Wie sieht es aus? Was kann ich dagegen tun? Und was nicht?
Ich möchte Ihnen die Ideen dieser Denkerinnen sowie meine eigenen Überlegungen zur Diskussion stellen. Die These ist: Wenn wir den herrschenden Diskurs, der das Böse überall wittert, nämlich überall da, wo Menschen anders sind, mit den entsprechenden kriegerischen Konsequenzen, wenn wir diesem Diskurs etwas entgegen setzen wollen, dürfen wir nicht nur das Konzept der positiven Differenz des Dialogs und des Ausgleichs verfolgen. Wir müssen uns durchaus auch mit dem Bösen befassen.
Froh bin ich auch, dass es hier nicht einfach nur ein Vortrag ist, sondern ein Workshop. In der Tat habe ich nämlich den Eindruck, dass ich selbst mit dem Thema noch nicht »durch« bin. Sondern dass wir hier noch viel diskutieren und nachdenken müssen – und ich bin ganz sicher, dass wir heute Nachmittag gemeinsam ein ganzes Stück weiter kommen.
Zum Einstieg möchte ich mit Ihnen einen Ausflug in die Philosophie unternehmen. Ich werde darin versuchen, der Idee, den Merkmalen, dem Wesen des Bösen auf die Spur zu kommen und mögliche Weisen des Umgangs damit skizzieren. Ich werde mich dabei nur selten auf konkrete politische Beispiele berufen, dafür haben Sie dann in den Arbeitsgruppen sowie wir gemeinsam am Ende in der Plenumsrunde noch genügend Gelegenheit.
Das Böse kann man nicht am Äußeren erkennen
In seinem Roman »Der Meister und Margarita« beschreibt der russische Autor Michail Bulgakow den Teufel mit folgenden Worten:
»In der Folgezeit, als es längst zu spät war, legten verschiedene Behörden Berichte mit einer Beschreibung des Mannes vor. Ein Vergleich der Berichte bringt Erstaunliches zutage. So heißt es in dem einen Bericht, der Mann sei klein, habe Goldzähne und lahme auf dem rechten Fuß. Ein anderer Bericht besagt, der Mann sei riesengroß, habe Platinkronen und lahme auf dem linken Fuß. Ein dritter teilt lakonisch mit, der Mann habe keine besonderen Kennzeichen. Es sei zugegeben, dass die Berichte samt und sonders nichts taugen. Vor allem eines: der Beschriebene lahmte überhaupt nicht und war weder klein noch riesig, sondern groß. Was seine Zähne betrifft, so trug er links Platinkronen und rechts Goldkronen. Bekleidet war er mit einem teuren grauen Anzug und dazu passenden ausländischen Schuhen. Die graue Baskenmütze hatte er flott aufs Ohr geschoben, und unterm Arm trug er einen Stock mit schwarzem Knauf in Form eines Pudelkopfes. Dem Aussehen nach war er etwas über Vierzig. Der Mund war leicht schief. Das Gesicht glattrasiert. Brünett. Das rechte Auge war schwarz, das linke aber grün. die Brauen waren schwarz, doch saß die eine etwas höher als die andere. Kurzum – ein Ausländer.«
In diesem Text wird ausgedrückt, dass das Böse nicht zu beschreiben ist. Es gibt keinen Steckbrief, an dem man den Teufel erkennt. Irgendwie sieht er aus wie ein Ausländer. Der Teufel versteckt seinen Pferdefuß, wenn er sich unter die Menschen mischt. Vor allem aber sieht er gar nicht monströs aus.
Arnold Less, ein Holocaust-Überlebender, beschreibt seine erste Begegnung mit Adolf Eichmann, dem Organisator der Judenermordung, beim Prozess 1963 in Jerusalem so: »Am 29. Mai gegen 16.45 Uhr sah ich Adolf Eichmann zum ersten Mal. Wir ließen ihn im Verhörraum vorführen und warteten gespannt, selbst der beherrschte Oberst konnte seine Nervosität nicht verbergen. Als der Häftling in Khakihose und -hemd und mit offenen Sandalen an den Füßen vor uns stand, war ich enttäuscht. Ich weiß nicht mehr, was ich erwartet hatte – wahrscheinlich einen Nazi, wie man ihn aus Filmen kannte: groß, blond, mit stechenden blauen Augen, ein brutales Gesicht, das herrische Arroganz ausstrahlt Doch nun stand plötzlich ein ganz gewöhnlicher Mensch vor mir, wenig größer als ich, eher mager als schlank, mit sehr spärlichem Haarwuchs, kein Frankenstein, kein Teufel mit Klumpfuß und Hörnern. Diese Normalität ließ mich seine leidenschaftslosen Aussagen noch bedrückender empfinden, als ich sie mir aus den Dokumenten erwartet hatte.«
Das Böse sieht also normal aus. Es wird nicht von dramatischer Musik und einer entsprechender Kameraführung begleitet. Das Böse trägt kein Schild auf der Stirn »Achtung, hier kommt das Böse.« Es lässt sich an Markenzeichen erkennen, weder am Kopftuch noch am Islamistenbart, auch nicht an der Uniform des Militärs oder an dem Posten im Vorstand globaler Multikonzerne.
Wenn man das Böse nicht an bestimmten Merkmalen erkennen kann, muss man es anders erklären. Was ist das Wesen des Bösen? Wo kommt es her und was sind seine Ursachen? Die vier wichtigsten Versuche, dies theoretisch zu erfassen, die in unserer Ideengeschichte wirkmächtig sind – und von denen wir alle mehr oder weniger beeinflusst sind – möchte ich Ihnen kurz vorstellen. Und ebenso jeweils kurz das feministische Gegenargument dazu – denn alle diese Erklärungen haben so ihre Probleme.
These 1: Das Böse ist der Teufel, der gegen Gott kämpft
In der christlich-westlichen Tradition galt das Böse lange als etwas Externes, das von Außen in die Welt kommt, als etwas Metaphysisches, Übernatürliches, das die Menschen gewissermaßen wie eine Krankheit befällt und in seine Gewalt bringt. Der Teufel. Die gnostische Tradition, von der auch das Christentum beeinflusst ist – wenn es sich auch davon abgegrenzt hat – teilt die Welt in einen großen Dualismus auf: Das Gute und das Böse. Gott und der Teufel streiten um die Macht, und die Menschen sind sozusagen nur kleine Spielbälle in diesem Wettstreit.
In dieser Sichtweise ist das Böse etwas Absolutes, das unabhängig von der menschlichen Perspektive existiert. Die Menschen bringen das Böse nicht hervor, können davon beeinflusst sein. Dieses Setting führ unweigerlich zur Theodizee-Frage: Wie kann Gott das zulassen? Warum rottet er das Böse nicht einfach aus, wenn er doch allmächtig ist?
Aus der Sicht von Feministinnen ist diese dualistische Weltsicht grundsätzlich problematisch. Denn der Widerpart von Teufel und Gott hat jede Menge anderer Gegensätze nach sich gezogen: Körper und Geist, Natur und Kultur, Krank und Gesund, Frau und Mann. Dieses dualistische Schema führt das Denken in fast jeglicher Hinsicht aufs falsche Gleis.
These 2: Das Böse als Folge der Freiheit
Als Gegenthese entstand in der Tradition der Aufklärung der Versuch, das Böse an das Wesen des Menschen zu binden. Nicht ein metaphysisches Phänomen namens »der Teufel«, das von Außen auf die Menschen einwirkt, sei das Böse, sondern etwas, das zum Menschen dazu gehört und daher auch nicht ausgerottet werden kann – nämlich eine unmittelbare und unausweichliche Folge der Freiheit, wie es zum Beispiel der Philosoph Rüdiger Safranski glaubt, dessen Buch über das Böse als ein Standardwerk zum Thema gilt. [^5]
Freiheit wird hier als Autonomie, als Unabhängigkeit verstanden. Freiheit bedeutet, alles tun zu können, was man will. Inklusive des Bösen. Safranski – und eigentlich ja die gesamte christlich-westliche Ideengeschichte – verortet die Entstehung des Bösen deshalb auch in der Paradiesgeschichte der hebräischen Bibel, die sie als Parabel dafür lesen, wie das Böse in die Welt kam, der »Sündenfall« eben: Adam und Eva bekamen die Freiheit der Entscheidung ob sie die verbotenen Früchte essen oder nicht. Natürlich aßen sie.
Diese Interpretation des Bösen als »Preis der Freiheit« ist gleichzeitig auch die klassische Antwort auf die Theodizeefrage: Gott muss das Böse zulassen, weil er den Menschen die Freiheit gegeben hat. Jede Bitte darum, dass Gott das Böse eindämmen möge, wäre gleichzeitig auch eine Bitte darum, den Menschen die Freiheit wieder weg zu nehmen.
Feministische Denkerinnen haben auch dieses Bild in Frage gestellt. Ist Freiheit wirklich gleichzusetzen mit Unabhängigkeit? Die jüdische Theologin Eveline Goodman-Thau zum Beispiel interpretiert die Geschichte von Adam und Eva ganz anders. Mit der Erschaffung der Frau, also Evas, kam nicht das Böse in die Welt, sondern die menschliche Pluralität. Aus dem einen Adam, dem geschlechtslosen Menschenwesen, wurde die Vielheit der Menschen, repräsentiert in der Geschlechterdifferenz. Wenn es aber nicht den Menschen gibt, sondern viele Menschen, dann gibt es keine harmonische Einheit mehr, sondern Differenzen, Arbeit, und die Last und Mühe der Verhandlungen. Das alles ist aber nicht das Böse, sondern einfach eine notwendige Folge der Pluralität. Was Gott den Menschen gegeben hat, war nicht die Fähigkeit, Böses zu tun, sondern die Fähigkeit, gut und böse erkennen zu können. Was etwas ganz anderes ist.
Auch die brasilianische Theologin Ivone Gebara, die ebenfalls ein Buch über das Böse geschrieben hat, bezweifelt, ob wirklich Freiheit die Ursache für das Böse ist. Sie zeigt nämlich, dass das »Böse« für viele Frauen gerade nicht daher rührt, dass sie zuviel Freiheit haben, sondern zu wenig. Auch ein Mangel an Freiheit kann Böses bewirken, wenn zum Beispiel eine Frau sich nicht gegen ihre Unterdrücker wehrt, wenn sie »das Böse« also nicht als solches identifiziert und erkennen kann, sondern als Schicksal, als Plan Gottes oder als Bestrafung für geheim gehaltene Sünden akzeptiert. Das »Nicht-Können« von Menschen hat ebenso Böses zur Folge, wie ihr »Können«.
These 3: Das Böse ist relativ
Eine dritte Denkrichtung ist die Auffassung, dass das Böse für sich genommen gar nicht existiert, sondern immer relativ ist, also vom Standpunkt abhängig. So schreibt Willigis Jäger, ein katholischer Mystiker: »Böse nennen wir immer das, was unserem Ich schadet. Verliert nun das Ich an Gesicht, bekommt auch das Böse einen anderen Stellenwert. Bildlich gesprochen: Wenn sich ein Ast nur als Ast versteht, dann macht ihm das Dürrewerden und Abfallen Angst. Es gilt ihm gleichsam als böse. Würde der Ast aber seine Identität nicht in seinem Ast-Sein erkennen, sondern darin, dass er Baum ist, dann verlöre er die Angst vor dem Abfallen, da doch der Baum und das Leben des Baumes sein wahres Leben ist.«
Ist also das Böse nur eine Frage der Perspektive, der Sichtweise? Dies ist eine Ansicht die, wie oben erwähnt, für viele Frauen attraktiv scheint. Allerdings haben auch hier Philosophinnen widersprochen, zum Beispiel Simone Weil. Interessant ist ihre Kritik vor allem deshalb, weil sie wie Willigis Jäger eine Mystikerin ist, also ebenfalls meint, dass die Aufgabe des Ich zu Erkenntnis führt. Allerdings zu einer genau entgegen gesetzten: Zwar stimmt sie zu, dass das Ich, solange es sich in den Vordergrund drängelt, immer dazu neigen wird, das, was ihm schadet, für das Böse zu halten, und das, was ihm nützt, für das Gute. Aber wenn das Ich beiseite tritt, dann stellt sich ihrer Ansicht nach nicht heraus, dass Gut und Böse nur relative Kategorien sind, sondern das Gute und das Böse zeigen sich in ihrer wahren Gestalt. In der Ichlosigkeit der mystischen Erfahrung kann ich also gerade das Böse sehen, unabhängig von meinen eigenen Interessenslagen.
Vielleicht kommt in diesen beiden unterschiedlichen Einschätzungen des Mystikers und der Mystikerin aber auch eine gewisse Geschlechterdifferenz zum Ausdruck. Willigis Jäger sagt: Diejenigen, die versprechen, das Böse auszurotten, indem sie es mit einem konsequenten Willen zum Guten bekämpfen – und das ist ja eine Hoffnung, die mehr Männer als Frauen hegen – haben nicht recht. Denn sie verwechseln ihren eigenen Nutzen und Schaden mit Gut und Böse.
Simone Weil hingegen erwidert, dass auch die Gegenstrategie nicht aufgehen wird – nämlich zu versuchen, das Böse zu leugnen, es für etwas »eigentlich« auch irgendwie Gutes zu erklären, zum Beispiel Übeltäter im Hinblick auf die Umstände, das selbst erfahrene Leid etc. zu rechtfertigen oder zu relativieren. Dies ist eine Versuchung, der mehr Frauen als Männer erliegen. Nein, sagt sie, das Böse gibt es wirklich, auch wenn wir es meistens nicht erkennen können.
These 4: Das Böse ist erfolglos
Eine vierte Denkrichtung, die vergleichsweise schlicht ist und einer tiefer gehenden Betrachtung eigentlich nicht standhält, möchte ich aber doch kurz erwähnen, weil sie im Alltagsdenken weit verbreitet ist und sich heutzutage immer mehr ausbreitet. Es ist die Auffassung, dass sich Gut und Böse, da es doch theoretisch eigentlich nicht zu fassen ist, an Erfolg und Misserfolg bemisst. »An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen!«
So sagte mir kürzlich ein Freund, jetzt, im Nachhinein, müsse man doch sagen, dass die Stationierung der Pershings in Deutschland tatsächlich richtig gewesen war (damals war er dagegen), weil ja dies tatsächlich zum Zusammenbruch des totalitären Sozialismus geführt habe.
Ist also der Sieg der Ausweis des Guten? Auch Eichmann hat so schon argumentiert: »Hitler mag hundertprozentig Unrecht gehabt haben«, sagte er im Verhör in Jerusalem, »aber eins steht jenseits aller Diskussion fest: der Mann war fähig, sich vom Gefreiten der deutschen Armee zum Führer eines Volkes von 80 Millionen emporzuarbeiten… Sein Erfolg allein beweist mir, dass ich mich ihm unterzuordnen hatte.«
Es gibt viele Argumente gegen diese Sichtweise, die ja auch der unmittelbaren Intuition ganz widerspricht. Ein logisches Gegenargument ist, dass man erst am Ende der Geschichte wissen kann, was gut und böse ist. Solange die Welt noch besteht und Dinge sich verändern, ist das letzte Wort ja nicht gesprochen. Der Sozialismus im Stile der Sowjetunion zum Beispiel konnte mehrere Jahrzehnte lang als siegreich gelten, inzwischen wissen wir mehr. Auch das westliche Modell der Aufklärung, das zur Zeit noch siegreich ist, könnte es in einigen Jahrzehnten schon nicht mehr sein. In der jüdisch-christlichen Tradition haben wir die Hiobsgeschichte, die schon klar macht, dass man das Gute nicht am Erfolg erkennt.
Ivone Gebara hat außerdem noch darauf hingewiesen, dass auch das Böse durchaus zu positiven Ergebnissen führen kann, ebenso wie das Gute zu negativen. Nein, an seinen Früchten erkennen wir das Böse nicht, jedenfalls nicht zu Lebzeiten.
These 5: Das Böse als relatives Eigenständiges
Wie können wir also aus dem Dilemma herauskommen, dass das Böse offensichtlich etwas ist, das weder völlig losgelöst als übermenschliches Prinzip über uns hereinbricht, noch aber etwas einfach nur Relatives ist?
Annarosa Buttarelli, eine Diotima-Philosophin, hat kürzlich eine Idee in die Diskussion eingebracht, die hierbei vielleicht hilfreich ist. Sie schlägt vor, sich das Böse als etwas vorzustellen, »das eine Unabhängigkeit hat im Hinblick darauf, was wir damit machen und davon wissen können, egal wie sehr wir uns anstrengen, es zu verstehen oder uns ihm entgegenzustellen oder dafür ein Heilmittel zu finden«, doch sie fügt hinzu, dass diese Unabhängigkeit nicht absolut sei. Dies ist auf den ersten Blick ein schwieriger Gedanke: Eine Unabhängigkeit, die nicht absolut ist.
Vielleicht hilft uns dabei weiter, was Beti über das Böse erzählt, eine Frau aus einem brasilianischen Armenviertel, die Ivone Gebara in ihrem Buch zitiert. Beti sagt: »Die Frauen in den Slums leiden alle unter denselben Problemen. Sie waschen die Wäsche. Wenn es Wasser gibt, fehlt die Seife. Wenn sie Seife haben, gibt es kein Wasser. Sie tragen einen Wäschezuber, um die Wäsche an einer Wasserstelle waschen zu gehen. Sie gehen zur Arbeit. Sie haben viele Kinder, für die sie sorgen müssen. Der Ehemann kommt oft entnervt nach Hause. Er trinkt, und die schwierige Situation verführt ihn zum Trinken. Die Frau streitet mit ihm. Oft ist sie sich nicht der Tatsache bewusst, dass es die Gesellschaft ist, die uns diese Momente der Müdigkeit, Aggressivität und Unruhe aufzwingt. Nachts wacht man auf, weil es in das Haus hineinregnet. Man hört die Ratten in der Küche. Man pflegt sein Kind, das sich am Fuß verletzt hat, als es mit dem Ball auf der Straße gespielt hat.«
Dies ist die treffendste Beschreibung des Bösen, die ich bei meiner Recherche für diesen Vortrag gefunden habe. Betis Beschreibung zeigt, wie unentwirrbar miteinander verbunden all die verschiedenen Faktoren sind: Die gesellschaftlichen Umstände (wenn es Seife gibt, gibt es kein Wasser, wenn es Wasser gibt, keine Seife), das individuelle Verhalten anderer Menschen (der trinkende Ehemann) sowie das eigene Zutun (zu viele Kinder bekommen), das Nichterkennen des Bösen, das als Schicksal akzeptiert wird, sowie die unvermeidlichen Unwägbarkeiten und Risiken des Lebens (der beim Spielen verletzte Fuß des Kindes).
Beti entlarvt die vermeintlichen Alternativen, die das philosophische oder theologische Denken gezogen hat, als falsche oder Scheinalternativen. Das Böse ist nicht eine metaphysische Größe, die über mich hereinbricht, sie ist aber auch kein »Systemfehler« der Freiheit. Es ist Missbrauch der Freiheit ebenso wie das Fehlen der Freiheit. Es ist sowohl vermeidbar als auch unvermeidbar. Es macht machtlos, und es fordert gleichzeitig zum Handeln heraus. Oder, in den Worten von Ivone Gebara: »Jede persönliche Erfahrung mit dem Bösen macht die Erfahrung des Bösen insgesamt um so komplexer und schwerer verständlich, als die verschiedensten Elemente eine Rolle spielen. Es ist wie ein Labyrinth ohne Ausgang. Darin ist man versklavt und frei zugleich. Darin lebt man das Paradox der Existenz ohne zufrieden stellende Antworten.« Gebara nennt das die gleichzeitige Transzendenz und Immanenz des Bösen. Sie schreibt: »Die Transzendenz/Immanenz des Bösen ist für mich Anstoß, mich zu der Wirklichkeit zu bekehren, die ich wahrnehme, zu diesem wirklichen Gemisch, in dem kein Wort von definitiver Geltung ist, kein Gott der Allmächtige sein kann, kein Gut unübertrefflich ist und kein Übel das letzte Wort über das Leben spricht.«
Annarosa Buttarelli schreibt etwas ganz ähnliches, nämlich: »Der Vorschlag, den ich mache, lautet, bereit zu sein, eine geheimnisvolle und unergründliche Existenz eines Bösen zu akzeptieren, das nicht von uns selbst ausgeht, eines Bösen, das entschieden versucht, uns Böses zu tun, ohne dass dabei notwendigerweise eine Spiegelung oder Korrespondenz unsererseits im Spiel ist« [^13]
Dies ist eine Weise, das Böse zu denken, die nicht zu der alten, rationalistischen Sichtweise zurückkehrt. Das Böse ist etwas sowohl immanentes als auch transzendentes. Es ist unabhängig von den Menschen, steht aber immer in einer konkreten Beziehung zu uns. Vielleicht ist es kein Zufall, dass es Frauen leichter fällt als Männern, dies zu denken, eine Beziehung der Unabhängigkeit. Die männliche Philosophie hat ja immer Beziehung als Abhängigkeit gedacht (zum Beispiel als Herrschaft), und Freiheit als Unabhängigkeit, wie wir vorhin auch bei Rüdiger Safranski gesehen haben. Das feministische Denken hat hingegen versucht, Freiheit und Bezogenheit zusammen zu denken – zum Beispiel in dem Buch »Sich in Beziehung setzen«.
Es ist vielleicht so ähnlich, wie die alte Teufelstradition: Das Böse existiert unabhängig von uns, aber es kann nur wirken, wenn wir uns dazu in eine Beziehung setzen. Es ist nicht das, was wir darin sehen, aber es ist nur, wenn Menschen es zu- und einlassen. Oder, wie Buttarelli schreibt: Das Böse »ist auf uns angewiesen, um da zu sein, aber es ist nicht notwendigerweise davon abhängig, wie wir es denken.« [^14] Aber nicht, indem ich das böse tue, absichtlich (es also denke und will), sondern indem ich – oft eben unwillentlich – zum »Durchgang« dafür wird. Menschen sind nicht die Urheberinnen und Urheber des Bösen, aber es kommt nur durch die Menschen in die Welt hinein.
Wenn also das Böse etwas Eigenständiges ist, aber immer eine Beziehung zu uns Menschen benötigt, um in die Welt zu kommen, dann stellt sich die Frage, wie diese Beziehung zum Bösen aussehen kann.
Durchgang des Bösen I: Die Gedankenlosigkeit
Eine Art und Weise, wie das geht, schildert Hannah Arendt, die 1963 in Jerusalem den Prozess gegen Adolf Eichmann verfolgte. Sie schreibt: »Je länger man ihm zuhörte, desto klarer wurde einem, dass diese Unfähigkeit, sich auszudrücken, aufs engste mit einer Unfähigkeit zu denken verknüpft war. Dass heißt hier, er war nicht imstande, vom Gesichtspunkt eines anderen Menschen aus sich irgendetwas vorzustellen. Verständigung mit Eichmann war unmöglich, nicht weil er log, sondern weil ihn der denkbar zuverlässigste Schutzwall gegen die Worte und gegen die Gegenwart anderer, und daher gegen die Wirklichkeit selbst umgab: absoluter Mangel an Vorstellungskraft.« [^15]
Arendt identifiziert also die Unfähigkeit zu denken, die Gedankenlosigkeit, als eine Art und Weise, wie Menschen zum Durchgang für das Böse werden. Das Nicht-Denken und das Nicht-Urteilen. Das hat, ganz wichtig, nichts mit Dummheit zu tun. Auch die Intelligenten und Klugen können gedankenlos sein und so zu Kompagnons des Bösen werde – wie Arendt selbst unter ihren Studienkollegen und –kolleginnen in Deutschland Anfang der 1930er Jahre erleben musste. Intellektualismus kann sogar in dieser Hinsicht noch viel gefährlicher sein, als Dummheit, weil sich die Intellektuellen in ihren eigenen Spitzfindigkeiten auf den Leim gehen.
Ein anderes Motiv, das mit der Gedankenlosigkeit eng zusammen hängt, ist die Gleichgültigkeit der Welt gegenüber. In dieser Gefahr der Weltlosigkeit stehen nicht nur gedankenlose Befehlsempfänger wie Eichmann, sondern auch all diejenigen, die der Theorie den Vorzug vor dem wirklichen Leben geben. Die also abstrakt über das Böse nachdenken, aber nicht hinschauen, was konkret, an Ort und Stelle tatsächlich geschieht. Die ihren Ideen und Theorien mehr Bedeutung zumessen, als dem Realen, Alltäglichen.
Annarosa Buttarelli sagt, dass die menschliche Existenz nicht von einem Bösen geprägt ist, das absolut, ewig, metaphysisch ist, sondern vielmehr kontingent, zufällig, beweglich und unverständlich in seiner ständigen Veränderung und Andersheit. Deshalb können wir es nicht theoretisch-abstrakt fassen, sehr wohl aber in der konkreten Situation sehen. Ähnlich kommentiert Ivone Gebara die »Monotonie des Bösen«, wie sie in Schilderungen der Favelabewohnerin Beti zum Ausdruck kommt. Dieses »versteckte« Böse, das Böse »Ohne Ruhm«, das nicht in die Geschichtsbücher aufgenommen wird.
Durchgang des Bösen II: Die Versuchung des Guten
Bis hierhin werden Sie wahrscheinlich mit mir einer Meinung sein. Ich komme nun zu einem Anderen Durchgang des Bösen, bei dem Sie vielleicht nicht so ohne Weiteres zustimmen. Das ist die »Versuchung des Guten«.
Die These, die sich in unterschiedlicher Ausprägung sowohl bei Arendt, wie auch bei Gebara und Buttarelli findet ist die, dass das kontingente, zufällige Böse sich nicht bekämpfen lässt mit einem guten Willen, dieses Böse zu beherrschen und zu unterdrücken und zu korrigieren. Oder anders gesagt: Wenn das Böse kein abstraktes, theoretisch zu fassendes Ding ist, dann lässt sich ihm auch nicht mit einem Prinzip des Guten beikommen. Es ist eben tatsächlich so, wie Ivone Gebara sagt, »dass das Gute und das Böse voneinander zehren und dass es folglich kein Mittel zur radikalen Trennung von Unkraut und Weizen gibt.«
Diese Versuchung des Guten lässt sich in verschiedenen Ausformungen beobachten.
Da wäre erstens die Versuchung des Guten, das sich auf das Rechthaben beschränkt und die Konsequenzen nicht bedenkt. Vielleicht erinnern Sie sich an die Kampagne gegen Zwangsprostitution, die es im Umfeld der WM im Sommer gegeben hat. Dahinter stand der gute Wille, etwas für die Opfer von Zwangsprostitution zu tun. Er hatte aber unerwünschte Nebenwirkungen, die die positiven Wirkungen weit überstiegen: Verstärkte Razzien zum Aufspüren von Frauen, die illegal in Deutschland sind, um sie abzuschieben, nun mit moralischer Legitimation. Und auch: Werbung für die Bordelle, die umso besser besucht waren. Der Wille zum Guten, der sich auf Prinzipien beruft, läuft also Gefahr, konkret Leid zu verursachen.
Eine noch etwas gesteigerte Variante ist es, selbst zu bösen Mitteln zu greifen, um das Böse zu bekämpfen, etwa Krieg gegen die »Achse des Bösen« oder auch Folter an Entführern, um Geiseln zu retten, wie wir es in Frankfurt vergangenes Jahr bei einem Fall von Kindesentführung hatten. Es ist also, wie Diana Sartori schreibt, »der Wille, um jeden Preis das Gute tun, also auch um den Preis des Bösen«.
Es ist zu kurz gegriffen, in diesen Fällen den Gutestuern zu unterstellen, sie würden ja in Wirklichkeit doch nur ihre eigenen Interessen verfolgen, wären also eigentlich gar keine Guten, sondern Bösen. Die gibt es natürlich auch, aber sie kümmern uns hier nicht. Sondern wir müssen uns der Tatsache stellen, dass auch dann, wenn jemand ganz uneigennützig ist und wirklich nur das Gute will, dieses Gute das Böse erst recht am Leben hält. Weil das Gute in dieser Haltung zu einem Prinzip wird.
Durchgang des Bösen III: Der Spalt, der sich öffnet
Bevor ich dazu komme, welche Möglichkeiten wir denn sonst haben, zu handeln, möchte ich noch auf einen vierten Kompagnon hinweisen, der nichts mit den Menschen zu tun hat, sondern auf den Zufall, die Umstände verweist, unter denen sich das Böse Zutritt zur Welt verschaffen kann. Darauf hat mich Dorothee Markert aufmerksam gemacht: Nämlich darauf, dass es genügen kann, dass sich ein kleiner Spalt öffnet, durch den das Böse dann eindringt und sich ausbreitet. Sie hat dies zum Beispiel in Rollenspielen erlebt, in denen sie die Rolle des Bösen einnahm. Was ihr anfangs sehr schwer fiel, wurde dann plötzlich, als sie sich das Böse sein einmal gedanklich erlaubt hatte, ganz einfach. Das Böse breitet sich nicht langsam und kontinuierlich aus, sondern es kann plötzlich ganz groß werden, sobald diese Öffnung erst einmal passiert ist. Dorothee ist der Meinung, dass vielleicht der 11. September 2001 so ein Spalt war. Hätte George Bush am 10. September 2001 gesagt, dass er einen Kreuzzug gegen die Achse des Bösen führen will, hätte man ihn ins Irrenhaus eingewiesen. Nach dem 11. September klingt das plötzlich plausibel.
Widerstand ist zwecklos (die Borg)
Während wir bisher Formen der Kooperation mit dem Bösen angeschaut haben, möchte ich jetzt dazu kommen, zu untersuchen, welche Strategien es gibt, dem Bösen zu begegnen, also mit ihm umzugehen. Was uns allen vermutlich als Erstes in den Sinn kommt, das ist der Vorschlag, Widerstand zu leisten.
Widerstand ist bei uns, nach der Erfahrung des Nationalsozialismus, eine sehr geschätzte Aktionsform. Widerstandskämpfer gelten als moralisch aufrecht, als Helden, Widerstand zu leisten gilt auf jeden Fall als etwas Gutes.
Ich möchte hier dieses Ideal in Frage stellen. Widerstand bedeutet, dass ich etwas gegen etwas unternehme. Mein Bezugspunkt des Handelns ist also das Böse selbst, ich werde aktiv, setze ihm eine Grenze. Dadurch bekommt aber das, wogegen ich Widerstand leiste, eine immer größere Macht. Es steht schließlich im Zentrum der Aufmerksamkeit.
In diesem Sommer war ich in Polen und besuchte dort das Denkmal für den Aufstand im Warschauer Getto. Es war ein Besuch, der mich sehr berührt hat. Der Aufstand im Warschauer Getto hatte den Tod von mehreren zehntausend Menschen zur Folge. Und ich stand vor dem Denkmal, das diesen Aufstand feierte. Ich meine diese Kritik jetzt nicht moralisch. Ich verstehe sehr gut, dass dieser Aufstand symbolisch wichtig ist für die jüdische Erinnerung an den Holocaust. Ich sehe die muskulösen Arme der Männer und die kämpferischen Gesichter der Frauen, die auf diesem Denkmal abgebildet sind, und spüre auch die Bewunderung für ihren Mut in mir. Nachdenklich bin ich aber deshalb, weil ich kurz vorher das Tagebuch der Jüdin Etty Hillesum gelesen habe, in dem sie schildert, wie sie sich mental und physisch auf die Zeit im Konzentrationslager vorbereitet. Sie weiß, dass diese Zeit kommen wird, schon Jahre bevor es so weit ist. Sie weiß, dass Widerstand zwecklos ist. Sie verweigert sich konsequent jeder Kollaboration – etwa in den Judenräten – und schlägt auf dieses Weise jede Möglichkeit in den Wind, sich vielleicht doch noch zu retten. Ihr Bemühen gilt aber nicht der eigenen Rettung, sondern sie will vermeiden, dass das Böse, das die Nazis bringen, in sie eindringt, dass sie sich zu ihrem Kompagnon macht. Deshalb lehnt sie Widerstand ab. Es ist ein sehr eindrückliches Buch, lesen Sie es: »Das denkende Herz« ist der Titel.
Doch was für unseren Zusammenhang hier wichtig ist, ist der Umstand, dass auch Etty Hillesum als Widerstandskämpferin gegen die Nazis gilt. Obwohl sie dezidiert keinen Widerstand leistete. Wir haben uns angewöhnt, alle, die nicht aktiv mit dem Bösen zusammenarbeiten, als Widerstandskämpfer zu bezeichnen. Das ist problematisch, weil es Unterschiede verwischt wischen Widerstand im Sinne von Gegenaktionen oder Gegengewalt und aufrechtem Handeln innerhalb eines bösen Systems. Es ist aber ein großer Unterschied, ob ich gegen etwas opponieren möchte, oder ob ich mich weigere, mich an etwas zu beteiligen. So war etwa das Attentat vom 20. Juli 1944 mit dem Ziel, Hitler zu ermorden, tatsächlich Widerstand. Die Flugblätter der Weißen Rose oder die Frauen, die sich in der Rosenstraße versammelt hatten, wo man ihre jüdischen Männer inhaftiert hatte, leisteten gerade keinen Widerstand.
Die Science-Fiction Autorin Ursula K. LeGuin lässt den Helden in einem ihrer Bücher sagen – zu einem Gefährten, der gegen die Bösen kämpfen will: »Gegen etwas opponieren, bedeutet, es zu erhalten. Man sagt hier: »Alle Wege führen nach Mishnory« (das ist die Stadt, in der die Bösen ihren Hauptsitz haben). Doch wenn man Mishnory den Rücken kehrt und es verlässt, ist man ganz eindeutig immer noch auf dem Weg nach Mishnory. Gegen Vulgarität opponieren bedeutet unvermeidlich, selbst vulgär zu sein. Nein, man muss woanders hingehen; man muss sich ein anderes Ziel setzen. Dann beschreitet man einen anderen Weg«.
Man darf also weder vor dem Bösen weglaufen, noch gegen es anrennen. Man darf dieses Böse weder ignorieren, noch zum Zentrum des eigenen Denkens machen. Oder, wie Annarosa Buttarelli es ausdrückt: »Das Böse ist nicht einfach ein Problem, das zu lösen wäre, sondern ein Mysterium, das wir ertragen müssen.« Ertragen?
Das ist für unsere Ohren ein ganz schlimmes Wort. Wer das Böse erträgt, ist feige. Gerade die linke, revolutionäre Tradition. Wie hat sie die Onkel Toms dieser Welt lächerlich gemacht. Onkel Tom ist eine Romanfigur in einem Buch aus dem 19. Jahrhundert, geschrieben von einer Frau, Harriet Beecher Stowe. Das Buch ist eine Anklage gegen die Skaverei. Der Sklave Tom erträgt das Böse wahrlich heldenhaft, er leistet seinen Herren keinen Widerstand, aber er achtet sehr darauf, das seine Seele nicht im Mitleidenschaft gezogen wird. Niemals lässt er sich zwingen, anderen Sklaven Befehle zu erteilen oder sie zu quälen, er macht sich nicht zum Handlanger der Sklaverei, egal wie hoch die Strafe ist. Aber er weigert sich ebenso, gegen seine Herren zu kämpfen. So einer ist in unserer Tradition eine Memme, weil er den Aufstand nicht versuchte. Ist er eine Memme (und mit ihm die Idee seiner Schöpferin, wie man mit dem Bösen umgehen soll?)
Onkel Tom ist seine Seele wichtiger als die Freiheit. Onkel Tom hat Recht, aber er besteht nicht darauf. Das ist in unserer auf Recht und Gesetz fixierten Welt unverständlich und unpopulär. Ich glaube aber trotzdem, wir müssen von ihm lernen.
Kürzlich saß ich mit zwei Freundinnen beim Mittagstisch, sie gerieten im Streit. Die eine war als Austauschpfarrerin ein halbes Jahr im Libanon, sie kam zurück kurz vor den jüngsten israelischen Angriffen. Die andere ist engagiert im jüdisch-christlichen Dialog und hat viele Freunde in Israel. Es sind zwei sehr nette, feministische, freundliche Frauen. Es gab keine Einigung zwischen ihnen, keine Argumente. Die eine nahm Partei für den Libanon, die andere für Israel. Wenn schon diese beiden sich fast an die Gurgel gingen, wie soll es denn jemals zwischen den Leuten vor Ort eine Einigung geben? Beide Seiten haben Recht. Ich war in Gedanken bei meinen Vorbereitungen für diesen Workshop hier und sagte: So geht es nicht, irgend jemand muss nachgeben, muss auf sein Recht verzichten und das Böse ertragen. Da sind sie dann beide auf mich losgegangen.
Es ist sicher der schwierigere Weg, keinen Widerstand zu leisten und damit auch dem Bösen kein Futter zu geben, keine Rechtfertigung für weitere Übeltaten. Das Problem besteht darin, den damit verbundenen Schmerz und das Leid, das das Böse bewirkt, zu ertragen, ohne selbst böse zu werden. Wir müssen das Üben. Wir müssen in ständigem Kontakt mit dem Bösen bleiben, weil in dieser Welt immer mit dem Bösen zu rechnen ist.
Wenn Widerstand doch notwendig erscheint
Es kann natürlich Situationen geben, in denen das Ertragen unmoralisch und unmöglich erscheint, in denen Widerstand nötig scheint. Aber wer Widerstand leistet, folgt damit vielleicht einer Notwendigkeit, ist aber dennoch nicht im Recht. Dies ist die Ethik von Dietrich Bonhoeffer, dem Pfarrer, der sich am Widerstand einige Wehrmachtsoffiziere gegen Hitler beteiligte und sogar soweit ging, Selbstmordattentäter zu segnen. Bonhoeffer litt sehr unter diesem Dilemma und es spiegelt sich in seiner Ethik nieder. Die wiederum überzeugt mich. Er kommt zu dem Schluss, dass es in der konkreten Situation sinnvoll erscheinen, ja notwendig sein kann, Widerstand zu leisten, etwa sich an einem Attentat zu beteiligen. Dies ist aber keinesfalls eine ethisch richtige Handlung, sondern man wird in dabei zwangsläufig sündig.
So entschied übrigens auch das Gericht in dem Frankfurter Fall von Kindesentführung. Der Polizist, der dem Verdächtigen Folter androhte, weil er hoffte, durch ein Geständnis das Kind retten zu können. Vielleicht hätte ich auch so gehandelt. Einige Leute wollten anschließend das Gesetz ändern und Polizisten rechtlich absichern, wenn sie zu solchen Mitteln greifen. Das hat das Gericht aber nicht zugelassen und festgestellt: Wenn ein Polizist sich so entscheidet, muss er die Verantwortung dafür übernehmen und das Risiko eingehen, selbst ins Gefängnis zu kommen. Niemand darf foltern, und sich dabei auf das Gesetz berufen können. Denn das ist der Weg, wie das Böse banal wird – dann hat niemand die Verantwortung, sondern nur Befehle ausgeübt.
Interessant an diesem Fall ist auch folgendes. Einige Wochen danach haben einige Leute eine gefakte Pressemeldung in die Welt gesetzt mit der Überschrift »Bund deutscher Juristen« unterstützt Folterforderung. Darin stand, maßgeblich deutsche Richter hätten sich dafür eingesetzt, »die Gewinnung von Aussagen mittels leichter Foltermaßnahmen und die Verwertung solcher Aussagen zukünftig möglich zu machen.« Diese Meldung war eine Ente, einen solchen Bund gibt es überhaupt nicht. Aber die größten Nachrichtenagenturen verbreiteten sie. Offensichtlich war diese Meldung plausibel. Hier zeigt sich, wie schmal der Grat ist, wenn ein Tabu erst einmal gebrochen ist. Dieser Spalt des Denkbaren hat sich auch in diesem Fall geöffnet und das Böse hereingelassen.
Die Herausforderung besteht also darin, nach Wegen zu suchen, um darin, den damit verbundenen Schmerz und das Leid, das das Böse bewirkt, zu ertragen, ohne selbst böse zu werden. Es ist notwendig, mit dem Bösen in Kontakt zu bleiben, damit wir nicht in Gedankenlosigkeit und Weltlosigkeit abtriften. Wie aber könnte dieser Kontakt aussehen, wenn nicht als Widerstand?
Verfluchen, Beten, nichts fordern oder fragen
Ich möchte Ihnen dazu einige Gedanken von Annarosa Buttarelli vorstellen. Sie ist der Meinung, dass, wenn man mit dem Bösen konfrontiert ist, Passivität mehr erreichen kann, als der gute Wille. Da das Böse unabhängig davon ist, was wir ihm entgegensetzen oder wie wir darauf reagieren, bleibt uns nur eines: Gar nicht reagieren. Sie schreibt: »Mir scheint, dass das Böse sogar fähig dazu ist, sich selbst zu zerstören, wenn man ihm nichts anderes als sich selbst anbietet.« Oder anders: Das Böse wird sterben, wenn wir ihm nicht länger etwas Gutes anbieten, das es am Leben hält. Denn hier »zeigt seine Unabhängigkeit gleichzeitig seine Bezogenheit: Das Böse braucht das Gute außerhalb und das Vergnügen innerhalb seiner selbst, um weiter existieren zu können.«
Nicht auf das Böse reagieren, passiv bleiben und keinen Widerstand leisten, ist aber nicht gleichbedeutend mit Nichtstun. Annarosa Buttarelli zeigt drei Möglichkeiten auf:
Die erste ist eine traditionelle weibliche Weise, auf passive Art Politik zu machen: Der Fluch. Verfluchen heißt auf italienisch maledire, also das Böse sagen, das Böse aussprechen. Wenn ich etwas verfluche, also sage: »Das ist böse«, dann ist dies keine moralische Verurteilung, es heißt nicht, dass ich dem Bösen Unglück wünsche, sondern eher eine kluge Prophezeiung. Verfluchen, maledire, könnte etwa heißen: Wenn Ihr so weiter macht, dann wird dieses oder jenes geschehen. Annarosa Buttarelli schreibt: »Verfluchen bedeutet, das Böse nicht zu verschleiern oder schönzureden, und sich gleichzeitig doch nicht in den Kreislauf und die Logik der Anhäufung von Bösen zu begeben. Es ist auch eine mütterliche Praxis. Wie oft hat sie es gesagt: »Wenn du nicht aufpasst, wirst du dir noch wehtun.« Ja, und so war es dann auch. Sie wollte uns damit nichts Böses. Aber sie wusste, dass das Böse geschehen kann, dass wir selbst es sind, die ihm Einlass in unser Leben gewähren, und sie wies uns darauf hin, was manchmal etwas nützte, manchmal aber auch nicht. Wenn nicht, dann ist Weinen ebenfalls eine Möglichkeit, die Existenz des Bösen sichtbar zu machen, ohne sich aber von ihm anstecken zu lassen.«
Verfluchen und weinen also. Dies bedeutet nicht Untätigkeit oder beteiligungsloses Zuschauen. Verfluchen heißt ja zum Beispiel auch, bestimmten sterbenden Dingen den Tod wünschen. Ein feministischer Fluch zum Beispiel lautet an die Adresse männerdominierter Institutionen wie Parteien, Universitäten und dergleichen: Wenn Ihr euch nicht ändert, werdet ihr absterben. Dieses Absterben, das wir täglich besichtigen können, können wir laut bejubeln, begleiten, immer wieder darauf hinweisen – selbst wenn wir innerhalb dieser Institutionen tätig sind.
Eine andere Weise, mit dem Bösen umzugehen, ist natürlich das Gebet, die klassische passive Handlung, zum Beispiel im Fall der Trauerklagen nachdem jemand gestorben ist. Beten heißt in diesem Fall, so Buttarelli, dass ich bei dem, was passiert, also dem Bösen, anwesend bleibe, ohne dass ich mir wünsche, dass es nicht geschehen soll, ohne mir etwas anderes zu wünschen. Ich trauere, dass jemand gestorben ist, ohne mir zu wünschen, dass er ewig leben möge. Dies gilt als eine paradoxe Haltung – wir sind, rationalistisch gepolt, gewohnt, darin eine Alternative zu sehen: Wenn ich etwas beklage, dann muss ich doch auch versuchen, es zu ändern! Der Tod, der unausweichlich, aber eben doch beklagenswert ist, zeigt, wie dumm dieses kurzschlüssige Denken ist. Ich kann durchaus etwas betrauern ohne meinen Willen daran zu setzen, es zu verändern. Zum Beispiel kann ich beten. Beten hilft mir, das Böse zu überleben, ohne mich davon anstecken zu lassen – und auf diese Weise entzieht es dem Bösen die Macht, sich überall hin auszubreiten.
Der dritte Vorschlag, den Buttarelli macht, ist der, dem Bösen gegenüber nichts zu fragen und nichts zu fordern. Denn egal wie lange man das Böse erfragt und erforscht, man wird darin keinen Sinn finden. Vielmehr eröffnet die Frage: »Warum?« sogleich einen Diskurs über Rechte und Rechtfertigungen, über Opfer und Täter, über Schuldner und Gläubiger, man beginnt zu Verhandeln und zu Relativieren, begibt sich also letztlich zwangsläufig auf eine gemeinsame Ebene.
Jede Forderung und jede Frage bedeutet eine Öffnung, stellt also jenen Spalt her, der das Eindringen des Bösen ermöglicht. Ich kann nicht fragen, ohne mich zu interessieren, und jedes Interesse bringt mich dazu, mich auf mein Gegenüber einzulassen. Auch Widerstand und Kampf ist ein solches Einlassen.
Die Frage: »Warum geschieht Böses?« hat keinen Sinn, schreibt Buttarelli und verweist auf das Beispiel von Frauen, die von ihren Männern geschlagen und misshandelt werden und die ja ebenfalls immer wieder genau diese Frage an den Übeltäter stellen: »Warum tust du mir Böses?« Wie Therapeutinnen aber wissen ist diese Frage sinnlos und bewirkt lediglich, dass die Bindung an diese Männer bestehen bleibt. Sinnlos ist die Frage deshalb, weil es nur eine mögliche Antwort darauf gibt, die aber niemals gehört und eingestanden werden kann, weil sie die Beziehung sofort beenden würde: »Weil ich dich nicht liebe.«
Wo keine Liebe ist, keine Bindung, kein gemeinsames Ziel – also da, wo das Böse eben ist – ist es sinnlos, Fragen zu stellen, nach Gründen und Erklärungen zu suchen, Forderungen zu erheben. Es gibt – neben Verfluchen und Beten – nur eine Möglichkeit, und es ist dieselbe wie bei den geschlagenen und misshandelten Frauen: Nichts fragen, nichts fordern, sondern einfach weggehen.
Und dennoch in Kontakt bleiben. Vielleicht wie in dem Sprichwort, von dem Ursula Pöppinghaus mir erzählte: Wenn der Teufel ins Haus kommt, soll man ihn nicht beschimpfen, nicht bekämpfen, nicht herausfordern und sich auch nicht ängstigen, sondern einfach sagen, setz dich her, wir kennen uns ja.
Oder, in den Worten von Diana Sartori: »Eine Politik, die mit dem Negativen rechnet, ohne sich auf die gleiche Ebene mit dem Teufel zu begeben, können wir uns nicht leicht vorstellen. Vielleicht weil die Vorstellung sich nicht auf das stützt, was man nur von Mal zu Mal tun kann, wirklich alleine wir, in diesem Moment, in diesem Kontext, an diesem kleinen Punkt. Der Teufel steckt im Detail, sagt man, und vielleicht gilt das, was für die Arbeit des Teufels gilt, auch für die Arbeit des Symbolischen. Und dass, um ihn auszutreiben, man den Teufel mit dem Namen ansprechen muss, was eine große Aufmerksamkeit für die Sprache bedeutet, denn er hat nicht nur einen Namen.«
Das Gute tun
Die Frage, was wir mit dem Bösen machen, ist das eine. Die andere, die hier auch dazu gehört, und die ich zum Schluss noch ansprechen möchte, ist die, wie man das Gute tut, ohne in die vorhin angesprochene »Versuchung des Guten« zu verfallen. Denn es ist ja notwendig, das Gute zu tun. Wenn das Gute ebenso wenig ein theoretisches, absolutes Prinzip ist, wie das Böse, was ist es dann?
Diana Sartori schreibt: »Das Gute wiederholt sich niemals auf dieselbe Art und Weise, es geschieht einmalig in der Zufälligkeit, der Kontingenz, der bestimmten Gelegenheit, die sich bietet, um gut zu sein. Deshalb ist das Gute nicht irgend etwas, das sein müsste, sondern ein Sein, ein Da-Sein im Realen, genau hier, genau wir in Fleisch und Blut. Wir sind es, lebende Vermittlungen des Sinns und der Wirklichkeit, des Guten und des Bösen.«
Hannah Arendt ist in ihrem Buch über »Das Böse« zu einer ähnlichen Schlussfolgerung gekommen. Zuerst hat sie versucht, logisch herzuleiten, was das Böse und was das Gute ist, aber auch sie kommt zu dem Schluss, dass das nicht geht. Sie schlägt daher vor, es am konkreten Einzelfall zu entscheiden. Denn sie stellt fest, dass ich zwar das Gute nicht definieren kann, dass ich aber sehe, wenn ein Mensch etwas Gutes tut, ebenso wie ich sehe, wenn er etwas Böses tut. Ihre Idee ist: Wenn wir uns an diesen Menschen ein Beispiel nehmen, wenn wir ihre Gesellschaft suchen, dann können wir dieses Gute gewissermaßen auf uns abfärben lassen.
Arendt schreibt – am Ende eine Vorlesung über moralphilosophische Fragen: »Ich versuchte zu zeigen, dass unsere Entscheidungen über Recht und Unrecht von der Wahl unserer Gesellschaft von der Wahl derjenigen, mit denen wir unser Leben zu verbringen wünschen, abhängen werden. Diese Gesellschaft wird durch Denken in Beispielen ausgewählt, in Beispielen von toten oder lebenden wirklichen oder fiktiven Personen und in Beispielen von vergangenen oder gegenwärtigen Ereignissen. In dem unwahrscheinlichen Fall, dass jemand daherkommen könnte und uns erzählen, er würde gerne mit Ritter Blaubart zusammen sein, ihn sich also zum Beispiel wählen, ist das einzige, was wir tun können, dafür zu sorgen, dass er niemals in unsere Nähe gelangt. Doch ist, so fürchte ich, die Wahrscheinlichkeit weitaus größer, dass jemand kommt und uns sagt, es sei ihm egal, jede Gesellschaft wäre ihm gut genug. Diese Indifferenz stellt, moralisch und politisch gesprochen, die größte Gefahr dar, auch wenn sie weit verbreitet ist. Und damit verbunden und nur ein bisschen weniger gefährlich ist eine andere gängige moderne Erscheinung: die häufig anzutreffende Tendenz, das Urteilen überhaupt zu verweigern. Aus dem Unwillen oder der Unfähigkeit, seine Beispiele und seinen Umgang zu wählen, und dem Unwillen oder der Unfähigkeit, durch Urteil zu Anderen in Beziehung zu treten, entstehen die wirklichen »skandala«, die wirklichen Stolpersteine, welche menschliche Macht nicht beseitigen kann, weil sie nicht von menschlichen oder menschlich verständlichen Motiven verursacht wurden. Darin liegt der Horror des Bösen und zugleich seine Banalität.«
Workshop in der Ev. Akademie Oldenburg, 17.11.2006 und im Ev. Frauenbegegnungszentrum Frankfurt am 28.2.2007 sowie in der Reihe »Studium Generale« der Uniklinik Schleswig-Holstein in Lübeck, 23.4.2009.