Chiquinha Gonzaga, Komponistin und Dirigentin
** Track 1: ** Clara Sverner: Faceiro
(Musik weiter unter dem Text liegen lassen)
Sprecherin Gonzaga:
Mein lieber Freund, ich bin froh, zu hören, dass du glücklich bist. Was mich betrifft, so fahre ich mit meiner Arbeit fort, aber … wo sind die Theater? Ich suche, und finde keine. Ich habe so viele Stücke geschrieben – und gute! – und ich habe kein Theater!
Sprecherin Text:
Als alte Dame beklagte sich Chiquinha Gonzaga bitterlich über das Musikgeschäft – nicht ahnend, dass sie einmal zu den berühmtesten Komponistinnen Brasiliens zählen würde. Und dass Pianistinnen ihre Werke auch ein Jahrhundert später immer wieder neu einspielen.
(Musik noch einmal hochziehen und dann ausblenden.)
Sprecherin Text:
Chiquinha Gonzaga wird heute in Brasilien als die Mutter der Karnevalsmusik gefeiert, ihr bewegtes Leben wurde sogar in einer Telenovela verfilmt. Doch sie selbst glaubte im Alter, dass ihr Werk bald in Vergessenheit geraten würde. Wehmütig, aber auch stolz erinnert sie sich an die Zeit, als ihre Stücke in den Theatern von Rio de Janeiro Erfolge feierten.
** Track 2: ** Corta Jaca (historische Aufnahme)
Musik anspielen, dann unter folgendem Text liegen lassen.
Wie 1914, als – auf Einladung der jungen Präsidentengattin Nair de Teffé – ihr ziemlich mehrdeutigtes Tanzstück »Corta Jaca« sogar im Präsidentenpalast aufgeführt wurde: »Corta Jaca«, was soviel heißt wie: die Brotfrucht aufschneiden, aber auch: Jemandem das Messer in den Bauch rammen.
Musik noch einmal hochziehen bis ans Ende der Strophe, dann unter folgendem Text weiter liegen lassen
Sprecherin Gonzaga:
In dieser Welt voller Elend hat der das Sagen,
der immer lustig ist,
der weiß, wie man die Brotfrucht schneidet,
in höchster Perfektion.
Ai, wie gut tut es, zu tanzen,
Ai, schneid die Brotfrucht auf, so und so und so!
Dieser Tanz ist quirlig und so ansteckend,
dass alle mittanzen wollen,
es gibt keine reiche Baroness und auch keine Marquise,
die nicht danach schmachtet,
die nicht danach schmachtet…
Musik noch einmal hochziehen und dann ausblenden
Sprecherin Text:
Die Laufbahn einer Musikerin war Chiquinha Gonzaga nicht in die Wiege gelegt. Als sie am 17. Oktober 1847 zur Welt kommt, herrscht in Brasilien noch die Sklaverei. Zwar ist ihre Mutter, Rosa Maria de Lima, keine Sklavin, sondern eine freie Frau, aber sie ist schwarz und arm; die heimliche Geliebte eines hochrangigen Militärs, José Basileu Neves Gonzaga. Dass der weiße Offizier das kleine Mischlingsmädchen Francesca, das alle bald nur mit ihrem Spitznamen Chiquinha rufen, als Tochter anerkennt, dass er ihr eine Ausbildung zukommen lässt, ist reines Glück.
** Track 3: ** Clara Sverner: Laurita – unter folgendem Text liegen lassen
Sprecherin Text:
Das Klavier im Hause Gonzaga weckt schon früh Chiquinhas Leidenschaft. Mit elf Jahren komponiert sie ihr erstes Stück – ein Weihnachtslied. Und als sie mit 16 Jahren verheiratet wird – an den acht Jahre älteren Unternehmer und Grundbesitzer Jacinto Ribeiro do Amaral, der als gute Partie gilt – wünscht sie sich nur ein Hochzeitsgeschenk: ein Piano.
Zuspiel noch einmal hochziehen
Sprecherin Text:
In fünf Jahren bringt Chiquinha drei Kinder zur Welt. Sklavinnen und Dienstmädchen sorgen für alles im Haushalt – doch es ist ein Leben, das die junge Frau nicht ausfüllt. Umso eifriger spielt sie Klavier. Schon bald ist Jacinto auf die musikalische Leidenschaft seiner Gattin eifersüchtig. Ständig ist Streit, die Ehe läuft schief. 1869, da ist sie 21 Jahre alt, zieht Chiquinha Gonzaga die Konsequenzen. Sie nimmt ihren ältesten Sohn mit und verlässt ihren Mann.
Zuspiel noch einmal hochziehen und dann ausblenden.
Sprecherin Text:
Es ist ein ungeheuerlicher Schritt, die Familie ist entsetzt. Die Ehe mit einem weißen, wohlhabenden Mann gilt für ein Mischlingskind wie Chiquinha als einzigartige Chance auf gesellschaftlichen Status – und die nutzt sie nicht…Die Familie toleriert ihre Entscheidung nicht: Ihre jüngeren Kinder darf Chiquinha nicht mehr sehen, der Geldhahn wird ihr zugedreht. Doch sie ist jung und wagemutig. Bald verliebt sie sich in einen jungen Ingenieur, dem ihre musikalische Leidenschaft kein Dorn im Auge ist, doch das Glück hält nicht lange vor: Als sie ihn zum wiederholten Mal mit einer anderen erwischt, packt Chiquinha erneut ihre Koffer und zieht nach Rio de Janeiro. Es ist der Beginn einer großen Karriere.
** Track 4: ** Zuspiel Atraente/Clara Sverner:
Sprecherin Gonzaga (im Stile einer Anpreisung gerufen)
»Atraente – Anziehend«, eine hübsche Polka für Klavier, komponiert von der unvergleichlichen Francisca Gonzaga, zum Verkauf im Musik- und Klaviergeschäft der Witwe Canongia, Adresse: Rua do Ouvidor 103.
Musik noch einmal hochziehen und etwas stehen lassen
Sprecherin Text:
Mit ihrer Polka »Atraente« landet Gonzaga 1877 ihren ersten Hit. Der Verkauf der Noten reicht – zusammen mit Klavierstunden – für ein bescheidenes Auskommen. Musikalisch sind diese Jahre in Rio de Janeiro eine aufregende Zeit. Seit 1850 ist der Sklavenhandel verboten und es kommen immer mehr Schwarze und Mischlinge in die Stadt. Ihre Rhythmen
vermischen sich mit europäischer Einwanderermusik: Walzer, Polka, Tango. Überall auf den Straßen und Plätzen liegt Musik in der Luft. Chiquinha Gonzaga trifft auf andere Musiker, die diesen reichen Schatz ebenfalls in ihre Kompositionen aufnehmen – ein künstlerisches Engagement, das gleichzeitig auch politisch ist. Gemeinsam mit anderen veranstaltet Gonzaga Benefizkonzerte für den Freikauf von Sklaven, demonstriert für die sozialen Rechte von Schwarzen, kämpft für die Abschaffung der Sklaverei, die 1888 endlich Wirklichkeit wird. In dieser Zeit entsteht auch der »Choro«, die erste typisch brasilianische Musik, die von Bands mit Flöten und Violinen bei privaten Festen aufgeführt wird. Eine Mode, die zunehmend auch in begüterteren Häusern beliebt wird – solchen, in denen es auch ein Klavier gibt. Chiquinha Gonzaga sieht die Marktlücke sofort: Sie wird die erste Choro-Pianistin.
** Track 5: ** Zuspiel: Casa do Paulista (Choro mit Piano) evtl. schon unter vorigem Text beginnen.
Sprecherin Text:
Doch wirklich populär ist nur, das merkt Chiquinha schnell, wer mit eigener Musik in den Theatern vertreten ist – dort also, wo das damalige Massenpublikum seine Unterhaltung findet. Allerdings ist es für eine Frau schwer, dort Fuß zu fassen. Sängerinnen, Tänzerinnen, auch Pianistinnen gibt es zwar viele, aber keine Dirigentinnen. Doch Chiquinha ist erfinderisch: Als ein Theaterbesitzer monatelang von einer Europareise nicht zurückkommt, schlägt sie dem arbeitslosen Ensemble vor, eines ihrer Stücke aufzuführen und die Einnahmen zu teilen. Ein voller Erfolg.
** Track 6: ** Zuspiel: Sacy Perere /Clara Sverner – unter folgendem Text stehen lassen
Sprecherin Text:
Je berühmter Chiquinha Gonzaga wird, umso mehr rückt aber auch ihr freier Lebensstil in den Blickpunkt der Öffentlichkeit. Zeitungsartikel und Satiren stellen ihre Ehrbarkeit in Frage. Aber die »kleine Dirigentin«, wie sie genannt wird, trifft nun einmal wie keine andere den Geschmack des Publikums. Trotz moralischer Bedenken reißen sich die Theater um ihre Librettos: Der Name Gonzaga garantiert volle Häuser. Aber auch der berufliche Erfolg kann sie mit ihrer Familie nicht versöhnen. Vergeblich versucht sie, ihre Tochter Maria wieder zu treffen, doch jeglicher Kontakt wird ihr verweigert – auch jetzt, nach Jahren noch, hat die Familie ihr nicht verziehen. Das ist bitter für Chiquinha Gonzaga, doch in ihren Vorstellungen von einem freien Frauenleben bleibt sie kompromisslos: Im stattlichen Alter von 52 Jahren wird sie immer öfter in Begleitung eines 16jährigen Jünglings gesehen. Joao Batista Fernandes Lage wird die große Liebe ihres Lebens. Offiziell geben sich die beiden als Mutter und Sohn aus. Sie leben zusammen, bis der Tod – ihr Tod – sie scheidet. Aber das ist erst 36 Jahre später.
Zuspiel Saci Perere noch einmal hochziehen und ausblenden.
Sprecherin Text:
Anfang 1899 schreibt Chiquinha Gonzaga dann jenes Lied, das ihr brasilianische Unsterblichkeit verleiht. Es geschieht fast nebenbei. Zu der Zeit lebt sie im Stadtteil Andarai, wo der Karnevalsverein »Rosa de Ouro« seinen Sitz hat. Schon damals ist der Karneval in Rio ein großes Fest, und natürlich werden die Umzüge von Musik begleitet. Doch noch nie hat jemand eigens für den Karneval ein Lied komponiert. »Rosa de Ouro« ist der erste Verein, der mit einem echten Karnevalshit durch die Straßen zieht, Chiquinha Gonzaga hat ihn geschrieben. Er heißt »Abre Alas que eu quero passar« – macht den Weg frei, ich will hier durch! Ein Motto, das nicht nur für Karnevalsumzüge geeignet ist, sondern auch für Chiquinhas ganzes Leben stehen könnte.
** Track 7: ** Cordao Carnevalesco (historische Aufnahme): Zuspiel ab da, wo die Musik beginnt, schon unter vorigem Text unterlegen, den Gesang dann 1 Strophe lang frei stehen lassen und ausblenden.
Sprecherin Text:
Das Liedchen ist zunächst keine große Sache. Es wird nicht in den Theatern aufgeführt, und nicht in den Zeitungen besprochen. Doch Jahr für Jahr wird es im Karneval wieder gesungen – ein Markenzeichen. Trotzdem glaubt sich Chiquinha Gonzaga, die eine Zeitlang in Lissabon lebt, die sich politisch engagiert, für eine gerechtere Sozialpolitik, für die Anerkennung der Populärmusik als »ernsthafte« Kunst und später auch für die Urheberrechte von Komponisten und Komponistinnen, von der Welt, und vor allem von Brasilien, vergessen:
Sprecherin Gonzaga:
Mein Name ist klein und unbedeutend, aber ich selbst war es, die ihn gemacht hat. In diesem Monat ist es 41 Jahre her, dass ich mit meinem ersten Stück an die Öffentlichkeit getreten bin. Ich habe es ganz allein geschafft, habe niemals in Europa studiert, hatte keine Unterstützung von hohen Kreisen, ich allein mit meiner Willenskraft habe mir alles beigebracht und bis heute schon 72 Stücke aufgeführt, und ich habe noch weitere fünf, die auf ihre Aufführung warten! Und wie viele Polkas, Walzer und Lieder habe ich geschrieben! Wie auch immer … es ist ja leider bekannt, dass sich die Brasilianer keine Mühe geben, die Ihren zu würdigen!!! Und das, obwohl es auf der Welt für mich doch nichts anderes gibt als Brasilien!
Sprecherin Text:
Doch ganz so ist es nicht. Immer wieder werden ihre Stücke neu inszeniert und aufgeführt, ihre Anerkennung als Musikerin ist unbestritten. Chiquinha Gonzaga stirbt am 28. Februar 1935 im Alter von 87 Jahren in Rio de Janeiro, wo sie die letzen Jahre ihres Lebens zurückgezogen und in Gesellschaft des treuen Joao Batista verbracht hat. Es ist ein Donnerstag, der Vorabend von Karneval. In Rio findet damals zum ersten Mal ein offizieller Wettbewerb von Sambaschulen statt. Und bis heute heißt der erste Wagen jedes Umzugs: »Abre Alas – macht den Weg frei!«
** Track 8: ** Zuspiel: Abre Alas (historische Aufnahme) ab Trompeten, eine Weile stehen lassen und dann ausblenden.
Sendung »Neugier genügt«, WDR 5 – Donnerstag, 15. Februar 2007, 11.30-11.50 Uhr