Antje Schrupp im Netz

Ist das Judentum frauenfeindlich?

Interview mit Carol Myers

Ist die hebräische Bibel ein patriarchales Buch? Legte das antike Judentum den Grund für alle Männerherrschaft oder ist die altisraelische Gesellschaft gar nicht so frauenfeindlich gewesen, wie oft angenommen wird? Neue Argumente bringt die jüdische Archäologin und Bibelwissenschaftlerin Carol Meyers in diese Diskussion ein. Sie lehrt an der Durham-University in Northcarolina/USA ist dort Leiterin des Studienganges »women’s studies«.

Unzählige Kriege und Schlachten, ein männlich-autoritär auftretender Gott, – bei vielen Feministinnen steht die hebräische Bibel nicht hoch im Kurs. Nachdem über Jahrhunderte männliche Theologen Bibelstellen nach Belieben eingesetzt hatten, um Frauen in ihre Schranken zu weisen, stellen manche Feministinnen nun ihrerseits das antike Judentum als den Ursprung von Patriarchalismus und Frauenunterdrückung an den Pranger. Die Bibelwissenschaftlerin Carol Meyers glaubt, daß beide Seiten in diesem Streit einen entscheidenden Fehler machen: Sie lesen die Bibel aus heutiger Perspektive und verstehen deshalb den Sinn dieser alten Texte nicht.

Ich glaube nicht, daß man theologische oder religiöse Aussagen über die Religion im antiken Israel machen kann, solange man nicht die Lebensbedingungen der damaligen Menschen kennt. Wir übertragen häufig unsere eigenen Erfahrungen aus einer patriarchalen Gesellschaft in diese Zeit zurück, auf eine Gesellschaft, die ganz anders organisiert war. In den vormodernen Gesellschaften gab es keinen Individualismus, wie wir ihn heute kennen. Die Menschen wurden in ihre Familie und in die Gemeinschaft hineingeboren – individuelle Lebensentscheidungen, die für uns heute sehr wichtig sind, spielten keine große Rolle. Deshalb stört es mich sehr, wenn Leute sagen, damals wurden die Frauen ausgebeutet oder die Sklaven, denn ich glaube nicht, daß man Frauen oder Sklaven damals als spezielle Gruppen innerhalb der Gesellschaft gesehen hat in einem Sinn, wie wir das heute tun würden. Diese Kategorien gab es damals so nicht.

Wie aber war die Gesellschaft im alten Israel verfaßt? Wie arbeiteten die Menschen, wie trafen sie Entscheidungen? Und welche Rolle hatten die Frauen inne? Das Bemühen vieler Theologinnen, anhand von biblischen Geschichten etwas darüber herauszufinden, sind nach Ansicht von Carol Meyers nur wenig aussichtsreich.

Biblische Texte sagen uns nicht viel darüber. Die biblischen Texte interessieren sich für öffentliche Ereignisse, für Israel als Nation und das Volk als Ganzes. Sie sprechen hauptsächlich dann von Frauen, wenn sie auf der nationalen Ebene von Bedeutung waren, wie die Matriarchinnen Sara, Rebekka, Rachel und Lea, oder wichtige Prophetinnen oder militärische Führerinnen waren wie Miriam und Deborah, aber sie sagen uns überhaupt nichts über das Alltagsleben von Frauen. Außerdem sind die meisten Texte in der Großstadt Jerusalem entstanden, während über 90 Prozent der damaligen Bevölkerung auf dem Land lebte. Die Bibel zeigt also eine sehr städtische und öffentliche Perspektive und die Menschen, die dabei am unsichtbarsten sind, sind die Frauen, die, von wenigen Ausnahmen abgesehen, keine große öffentliche Rolle innehatten.

Also müssen andere Quellen herangezogen werden, wenn man etwas über die Frauen im alten Israel in Erfahrung bringen will. Und da sieht es nach Ansicht von Carol Meyers, die selbst auch Archäologin ist, für die Frauen ein gutes Stück besser aus, als es die im Kanon überlieferten Texte vermuten lassen.

Es gibt viele Hinweise aus der Anthropologie und der Archäologie, daß in den ländlichen Gemeinschaften des antiken Israel Männer und Frauen stark voneinander abhängig waren, daß die Frauen dort wichtige und schwierige Aufgaben übernahmen. Nicht jedes Familienmitglied konnte alle Arbeiten verrichten und die Frauenarbeiten waren mindestens ebenso wichtig wie die der Männer. Wir haben also es mit einer Gesellschaft zu tun, die ganz entscheidend auf Gegenseitigkeit basiert und das bedeutet, daß es diese Geschlechterhierarchie, bei der die Männer die Frauen dominieren, in der Realität so nicht gab, auch wenn manche Bibeltexte, für sich allein genommen, diesen Eindruck erwecken.

Aus diesen Widersprüchen zwischen der hebräischen Bibel und dem, was die archäologische Forschung herausgefunden hat, haben manche Forscherinnen die sogenannte Matriarchatstheorie hergeleitet: Der männliche Gott Israels habe ältere Muttergottheiten verdrängt und seine patriarchalen Anhänger einer früheren matriarchalen, von Frauen dominierten Gesellschaft den Todesstoß versetzt. Diese Ansicht ist inzwischen von Archäologie und Anthropologie als falsch erwiesen. Gleichwohl hat die Verschriftlichung und Kanonisierung des altisraelischen Glaubens dazu beigetragen, die Herrschaft der Männer zu stabilisieren – oder es mindestens versucht. Die Verehrung von weiblichen Gottheiten, die auch innerhalb der hebräischen Stämme üblich war, wurde zugunsten des einen Gottes aufgegeben. Im Zuge der Staatenbildung und der ständigen Auseinandersetzungen der israelischen Königreiche mit ihren feindlichen Nachbarn waren die kriegerischen und autoritären Seiten Gottes besonders gefragt – und das hat sich auf die Entstehung der hebräischen Bibel ausgewirkt. Entsprechende Vorsicht ist geboten, wenn Bibeltexte heute als autoritative Texte interpretiert werden. Carol Meyers:

Man muß sich immer vergegenwärtigen, daß das, was als Gottes Wort für alle auftritt, in Wirklichkeit aus einer sehr spezifischen Situation heraus erwachsen ist. Wir sind heute individualistisch geprägt. Regeln und Gesetze, die für eine an der Familie und dem Stamm orientierte Gesellschaft bestimmt sind, können für uns keine große Relevanz haben. Man muß deshalb unterscheiden, welche Teile der Bibel eine universellere Bedeutung haben können, und welche an die spezifische Situation Palästinas in der Eisenzeit gebunden sind.

Über die bürgerliche Gleichberechtigung von Frauen und Männern wurde im antiken Israel ebensowenig diskutiert wie über Umweltschutz in hochindustrialisierten Ökonomien oder über Rassendiskriminierung und andere typisch moderne Probleme. Antworten darauf, so Carol Meyers, sucht man daher in der Bibel vergebens.


Sendung 1996 in hr2