Antje Schrupp im Netz

Weibliches Begehren und die Stärke der Frauen

Über das weibliche Begehren möchte ich heute morgen zu ihnen sprechen, und ich finde, es ist ein schönes Thema zum internationalen Frauentag und zum Auftakt einer Frauenwoche. Ein lustvolles Thema.

Andererseits ist »Begehren« auch ein etwas altertümliches Wort. Ein Wort, das wir nicht oft benutzen, schon gar nicht, wenn es um politische Themen geht. Begehren, das klingt nach Sexualität, nach etwas Intimem, Privatem. Im öffentlichen und politischen Kontext sprechen wir normalerweise nicht von Begehren, sondern benutzen andere Wörter: Fordern, Wollen zum Beispiel.

Man könnte nun einfach sagen: Verschiedene Wörter für dieselbe Sache. Aber ich finde, es gibt wichtige Unterschiede zwischen Begehren und Wollen. Wer etwas fordert, dem fehlt etwas, Forderungen richten sich an die anderen, die mir das, was mir fehlt, geben sollen. Vom Begehren zu sprechen, das lenkt die Aufmerksamkeit dagegen auf das, was ich habe, auf das Begehren nämlich, das am Anfang steht und mich motiviert, etwas zu tun. Das meine ich, wenn ich sage: Das Begehren macht Frauen stark. Und ein zweiter Unterschied: Das Begehren öffnet Wege für das Unvorhergesehene. Wenn ich etwas fordere, dann steht das Ziel bereits fest: Mein Ziel ist das, was ich fordere, zu bekommen. Das Begehren dagegen ist nicht so festgelegt. Es ist noch nicht klar, wodurch es befriedigt werden könnte, es ist offen, für das, was da kommen mag, ohne es bereits zu kennen.

Beides, weibliche Stärke und die Öffnung für Neues, so glaube ich, haben wir heute dringend nötig – und mit wir meine ich jetzt nicht, wir Frauen, sondern wir Menschen, wir, die Welt.

Wenn ich heute als politisch interessierte Frau die Nachrichten höre, die Welt anschaue und eine Bilanz ziehe von dreißig Jahren Frauenbewegung, dann fällt diese Bilanz für mich zwiespältig aus:

Auf der einen Seite gibt es allen Grund, sich zu freuen. Was die »Lage der Frauen« betrifft, wie man so schön sagt, hat sich sehr vieles verändert. Dass hier in Fulda diese Frauenwoche mit ihrem breiten Programm und wie ich annehme, gefördert mit öffentlichen Geldern, bereits eine Institution mit einer gewissen Tradition ist, ist ein Beispiel für diese Veränderung. Dass, zumindest in unserer westlichen Welt, niemand mehr das grundsätzliche Recht der Frauen zu einem gleichberechtigten Leben in Frage stellt, ebenfalls. Das Recht, wählen zu gehen, das Recht, einer Erwerbsarbeit nachzugehen, das Recht, die Zahl ihrer Kinder selbst zu bestimmen oder sich auch dafür zu entscheiden, gar keine Kinder zu bekommen. Das Recht auf angemessenen Lohn, das Recht, alleine zu leben, das Recht, zu heiraten, wen sie will oder auch gar nicht. Das Recht, sich scheiden zu lassen, wenn die Ehe scheitert. Das Recht auf Bildung und freie Berufswahl.

Kaum eine soziale Bewegung hat unsere Gesellschaft so gründlich verändert, wie die Frauenbewegung. Auch wenn man manches beklagen mag, auch wenn noch längst nicht alles optimal geregelt ist, so muss man doch sagen: Wir haben allen Grund, uns zu freuen. Und dankbar zu sein den Vorkämpferinnen von damals, die Mut gezeigt haben, den wir Jüngeren uns gar nicht mehr vorstellen können, denn wir haben uns an die neue Situation, an die Zeit »nach dem Feminismus«, bereits gewöhnt. Vieles hat sich durch ihr Engagement verändert: in den Gesetzen, den Arbeits- und Lebensbedingungen von Frauen, vor allem aber: In unseren eigenen Köpfen. In unserem eigenen Selbstbild. Freudensprünge können wir machen, schrieb vor einigen Jahren schon die italienische Philosophin Luisa Muraro. Und im Mailänder Frauenbuchladen feierten sie dann ein großes Fest, sie feierten das Ende des Patriarchats.

Ein großes Wort, sicherlich, und eine steile These, vom Ende des Patriarchats zu reden, mögen Sie vielleicht sagen. Vor allem angesichts der weltpolitischen Lage und andauernder Kriege. Aber dennoch finde ich es wichtig, dass wir diese Veränderung im Verhältnis der Geschlechter, und vor allem diese Veränderung im weiblichen Selbstverständnis, mit einem so großen Wort benennen. Denn es handelt sich wirklich um eine Veränderung von historischer Bedeutung.

Aber meine Bilanz hat noch eine andere Seite. Kaum jemand wird bestreiten, dass die gegenwärtige Situation der Politik und der Wirtschaft desolat ist, und zwar in Deutschland genauso wie weltweit. Die überlieferten Mechanismen der Politik, ihre Rituale, die Strategie- und Planspiele, die hohlen Phrasen sind widerwärtig, und wir wissen: So bekommen wir die Probleme ganz bestimmt nicht in den Griff. Natürlich gibt es überall Menschen, vor allem Frauen, aber auch Männer, die versuchen, etwas besser zu machen, im Privatleben, im Beruf, in öffentlichen Institutionen, in der Wirtschaft. Aber sie stoßen immer wieder auf Bürokratien, Hierarchien, eingeschliffene Abläufe, die ihnen die Lust dazu nehmen, sich zu engagieren. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich finde es unendlich langweilig, die Zeitungen zu lesen oder die Tagesschau zu hören. Alles scheint so vorhersehbar, da ist kaum mal etwas Echtes, alles nur Strategie und Taktik. Natürlich wird allerorten gesagt, dass vieles sich verändern müsste – alleine: es bleibt dann doch alles beim Alten.

So, wie derzeit Politik gemacht wird, funktioniert es nicht. Auch dann nicht übrigens, wenn mehr Frauen in die Parlamente und Gremien kommen. Denn dort müssen sie, wenn sie Erfolg haben wollen, weitgehend nach den selben Regeln spielen, die dort eben herrschen. Eine Folge davon ist, dass viele Frauen – inzwischen auch Männer, aber besonders Frauen – keine Lust haben, dort noch mitzumachen. Sie verzichten auf Chefsessel und hohe Posten, weil sie den Eindruck haben, dort nicht mehr authentisch handeln zu können, am Ende vielleicht sogar selbst »so« zu werden. Sie sind resigniert, entmutigt, wollen nicht mehr dagegen anrennen, weil es ja doch nichts nützt. Dass das fatal ist für unsere politischen Institutionen, für die Wirtschaft und für unsere Gesellschaft, liegt auf der Hand.

Wir brauchen also neue Ideen, neue Wege, neue Inspirationen. Den Mut, etwas zu verändern. Woher sollen die kommen?

Ich habe darauf natürlich auch keine Antworten. Aber ich habe mir aufgrund dieser merkwürdig zwiespältigen Bilanz – meiner Freude über die Veränderungen, die die Frauenbewegung bewirkt hat, und meiner Wut und meinem Ärger darüber, dass so vieles im Argen liegt und es so unmöglich erscheint, das zu ändern – eine Frage gestellt: Könnte es nicht möglich sein, aus den Erfolgen der Frauenbewegung etwas zu lernen? Wie haben es die Frauen geschafft, solche weitreichenden Veränderungen zu bewirken? Ließe sich daraus nicht auch für andere politischen Prozesse etwas lernen?

Ich bin davon überzeugt, dass die Frauen der Welt etwas zu geben haben: Und zwar ein Verständnis von Politik und persönlichem Engagement für die Welt, das fruchtbarer ist, als alles, was wir unter dem Begriff »Politik« so in den Nachrichten zu sehen bekommen.

Und an diesem Punkt kommen die beiden Stichworte »Begehren« und »Stärke« wieder ins Spiel. «Stärke« ist ja ein Begriff, den wir auch aus der offiziellen Politik bereits kennen: »Stärke« will US-Präsident Bush gegenüber dem Irak beweisen, oder die Gewerkschaften gegenüber den Unternehmen, oder der Bundeskanzler bei seinen Regierungsgeschäften. Sie alle setzen dabei normalerweise »Stärke« mit Macht gleich, mit: die Mitte zu haben, um sich – notfalls auch gegen den Willen der anderen – durchzusetzen.

Ganz anders jedoch die Stärke der Frauen. Nicht aus einer Position der Macht heraus haben sie diese große gesellschaftliche Veränderung bewirkt, die wir heute als Ende des Patriarchats feiern können, sondern aus einer Position der Ohnmacht. Sie hatten nicht die Mehrheit im Parlament, sie hatten keine großen Finanzmittel, keine Waffen. Aber sie hatten etwas anderes: Ein großes Begehren. Sie hatten ihre Liebe zur Freiheit, die in ihnen den Wunsch weckte, die Dinge zum Bessern zu verändern. Sie hatten ihr Begehren nach einem Leben mit Sinn, nach gelingenden Beziehungen. Dieses Begehren der Frauen war die Triebkraft der Frauenbewegung.

Wodurch unterscheidet sich dieses Begehren von dem Willen der Mächtigen, dem politischen Kräftemessen?

Vor einiger Zeit nahm ich an einem Informationsabend über NLP teil – »Neuro-Linguistisches Programmieren«, eine inzwischen recht verbreitete Methode, die eigene Kommunikation mit anderen zu verbessern – vermutlich haben Sie schon einmal davon gehört. Der Kursleiter hatte eine Liste mit »Grundannahmen« des NLP aufgehängt, und da stand unter anderem der Satz: »Alle Ressourcen für eine notwendige Veränderung liegen in dir selbst«. Ich fragte ihn, ob das denn ernst gemeint sei, denn man könne doch unmöglich alles aus eigener Kraft erreichen. Und er gab zu, dass dieser Satz in der Tat missverständlich sei. Deshalb würde er seine Klienten immer darauf hinweisen, dass sie sich realistische Ziele setzen müssen, die sie auch mit den eigenen Ressourcen und Möglichkeiten erreichen können.

Das ist so ein Beispiel für den Unterschied zwischen dem weiblichen Begehren als Motor für Veränderungen und den herkömmlichen therapeutischen oder auch politischen Methoden und Strategien, Veränderungen herbei zu führen, und für die NLP nur ein Beispiel ist: Sie gehen von fertigen Zielen aus – mehr Geld, Wahlen gewinnen, ein besserer Job, oder etwas in der Art, aber auch: Saddam Hussein aus dem Amt jagen, höhere Lohnabschlüsse, den eigenen Gesetzentwurf durchbringen), wobei ein wichtiger Punkt ist, ob diese Ziele »realistisch« sind. Und dann üben sie Techniken ein, wie man zu diesen realistischen Zielen kommt: Also entweder eine neue Kommunikationsmethoden oder politische Strategien, Klungeleien und Absprachen, im schlimmsten Fall eben ein Krieg.

Das Begehren hingegen hat keine fertigen Ziele im Kopf. Und es scheut sich auch nicht, zuzugeben, dass es ohne die Hilfe von anderen nicht erfüllt werden kann. Anstatt nach Methoden und Werkzeugen zu suchen, um irgend etwas Vorgegebenes zu erreichen, weckt das Begehren erst einmal die Notwendigkeit, sich über die eigenen Ziele Gedanken zu machen. Und alles ist erlaubt, auch das scheinbar Unmögliche, das Unrealistische, auch das, was wir sowieso nicht erreichen können, nach herkömmlichen Maßstäben, logisch gedacht. Die »Emanzipation« der Frauen, also ihre Gleichstellung mit den Männern, war so ein »realistisches« Ziel. Deshalb war die Verwirklichung dieses Ziels, seine Umsetzung, auch vorhersehbar und nur eine Frage der Zeit. Aber Emanzipation, die Gleichstellung mit den Männern, war nie das hauptsächliche Anliegen der Frauenbewegung. Das Begehren der Frauen ging und geht weit darüber hinaus. Was sie begehren ist Freiheit, weibliche Freiheit und eine gute Welt, ein schönes Leben. Wobei sie selbst nicht genau wissen, was damit gemeint ist, weil niemand das wissen kann. Aber das heißt ja nicht, dass man es nicht begehren kann.

Schon immer ging das, was Frauen begehren, sehr oft über die Grenzen dessen hinaus, was bislang für möglich gehalten wurde. Diejenigen von Ihnen, die gerne Biografien lesen, werden das vermutlich bestätigen können: Frauen wollen zum Beispiel studieren, obwohl sie an den Universitäten gar nicht zugelassen sind, wie Dorothea Erxleben, die erste deutsche Ärztin. Oder sie wollen ihren Orden reformieren und neue Klöster gründen, obwohl sie kein Geld haben, wie Theresa von Avila. Oder sie wollen Präsidentin von Amerika werden, obwohl Frauen noch gar kein Wahlrecht haben, wie Victoria Woodhull im Jahr 1872.

Hätten diese Frauen »vom Ende her« gedacht, also von ihren Zielen her, wären sie vermutlich gescheitert. Sie hätten sich verkämpft, verrannt und schließlich verloren oder resigniert. Aber sie dachten vom Anfang her: von ihrem Begehren, das sie motivierte, einen neuen Weg zu gehen, einen neuen Anfang zu machen, und offen zu sein, für das, was daraus folgt, ohne es alleine in der Hand haben zu wollen, ohne es kontrollieren zu können.

Es sind nicht immer nur berühmte, besondere Frauen, die uns ein Beispiel für weibliches Begehren und die daraus resultierende Stärke geben. Und es sind auch nicht unbedingt die großen, spektakulären Dinge, um die es dabei geht. Eine kleine Tür, durch die etwas Neues in die Welt kommt, ist wertvoller, als große Uno-Konferenzen, wo doch nicht mehr gesagt wird, als wieder einmal dasselbe, Altbekannte.

Vor einigen Tagen war ich zusammen mit einer Freundin essen, die ich lange nicht gesehen hatte. Sie lebt schon seit einigen Jahren in einer recht schwierigen Lebenssituation, als selbstständige Kleinunternehmerin (und das in diesen wirtschaftlich schwierigen Zeiten), als Mutter zweier Kinder, und verheiratet mit einem Afrikaner, mit dem die Ehe sich kulturell wie persönlich als sehr schwierig darstellte: Zum Beispiel ging er lange Zeit nicht arbeiten, zeigte wenig Verantwortungsgefühl, auch in finanzieller Hinsicht usw. Meine Freundin hatte, wie ich aus früheren Begegnungen weiß, lange unter all dem Druck gelitten und war in dauernde Kämpfe verwickelt: Mit ihrem Mann stritt sie jeden Tag darüber, dass er im Haushalt hilft, dass er sie entlastet, dass er mehr Verantwortung für die Kinder übernimmt usw. Ich denke, viele von Ihnen kennen diese zermürbenden Beziehungskämpfe, in diesem Fall liefen sie vielleicht nur etwas krasser ab wegen der kulturellen Unterschiede. Dazu kam für meine Freundin noch der Druck von außen: Ihre Mutter, ihre »feministischen« Freundinnen, viele Leute kritisierten sie dafür, dass sie in dieser Beziehung drin blieb, forderten sie auf, auszubrechen, ihren Mann zu verlassen.

Einige Jahre lang verkämpfte sie sich so an zwei Fronten: Einerseits hatte sie die ständigen Auseinandersetzungen mit ihrem Mann, andererseits musste sie sich ihrer Umgebung gegenüber für ihre Lebenssituation auch noch rechtfertigen. Als ich sie neulich jedoch traf, war sie völlig anders: Ruhig, sie strahlte Zufriedenheit und Stärke aus. Irgendetwas hatte sich verändert, und sie selbst stellte es so dar: An einem gewissen Punkt, so sagte sie, erinnerte sie sich an ihr altes Begehren, das sie bewogen hatte, diesen Mann zu heiraten. Sie hatten doch einmal gesagt: Wir heiraten, weil wir uns lieben und weil wir zusammen leben wollen. Aber im Lauf der Jahre war, zumindest bei ihr, dieser Gedanke in den Hintergrund gerückt: Und es hatte sich für sie eine Zeitlang so dargestellt, als hätte sie nur die Wahl: Entweder so schlecht und recht mit ihm zusammen zu bleiben, oder ihn zu verlassen.

Aber das war es nicht, was sie begehrte. Sie wollte mit ihm zusammen sein und ihn lieben. »An einem bestimmten Punkt hat es mir gereicht«, so waren ihre Worte, »ich wollte nicht immer nur gegen Widerstände anrennen und kämpfen, ich wollte auch ein schönes Leben führen«. Sie begehrte also, und zwar etwas, das – allem Anschein nach – unmöglich war. Und diesem Begehren ist sie gefolgt. Sie verweigerte Diskussionen mit Freundinnen, die sie dazu überreden wollten, diesen Mann zu verlassen, denn das war es nicht, was sie begehrte. Und sie verweigerte sich den häuslichen Scheingefechten über Prinzipienfragen, sondern konzentrierte sich auf die Verhandlungen über die Dinge, die ihr in der Ehe wirklich wichtig waren. Und das hat eine Veränderung bewirkt – langsam und nicht ohne Enttäuschungen, aber ihr Leben hat sich verändert. Ihre Selbstwahrnehmung hat sich verändert, sie hat die Situation neu beurteilt und ein neues Verhältnis dazu eingenommen. Und irgendwann hat sich auch der Mann verändert, die Mutter, die Freundinnen. Indem sie ihren eigenen Standpunkt verändert hat, haben sich auch ihre Beziehungen und damit die ganze Situation verändert. Wenn ich meine Beziehung zur Welt verändere, hat es Chiara Zamboni einmal formuliert, dann verändert sich die Welt.

Im Begehren den Motor für Veränderung zu sehen, und nicht in den Zielen, die man sich setzt, das bedeutet ein radikales Umdenken. Es bewirkt eine neue Sicht auf die Welt. Nicht mehr vom Ende her zu denken, also von dem optimalen Zustand, den ich mir ausdenke, wie es sein sollte, sondern vom Anfang her zu denken, von dem Begehren, das ich in mir spüre. Nicht von dem auszugehen, was mir fehlt, sondern von dem, was ich habe: Mein eigenes Begehren, das mir Stärke und Energie gibt. Weil es mich offen macht, für Unvorhergesehenes, weil ich mich nicht mehr an allen möglichen Fronten verkämpfe, weil es mir nicht mehr ums Prinzip geht, sondern ich mich auf das konzentriere, was mir wichtig ist.

Es gibt beim Begehren vier Komponenten, die zusammen spielen: Den eigenen, persönlichen Wunsch, die Realität, so wie sie ist, die Beziehung zu einem anderen Menschen, der mir diese Realität vermittelt, und den Bezug zur Transzendenz, die über die Grenzen der Realität, so wie sie ist, hinaus führt.

1. Der eigene, persönliche Wunsch:

Das Begehren ist untrennbar an eine bestimmte Person verbunden, es ist etwas Individuelles. Ich begehre, du begehrst, es gibt kein abstraktes Begehren oder das Begehren an sich. Es gibt auch kein Begehren der Frauen. Weibliches Begehren ist nicht so zu verstehen, dass man daraus konkrete inhaltliche Forderungen für eine Frauenpolitik ableiten könnte. Weibliches Begehren ist immer das Begehren einer bestimmten Frau, und es ist weiblich, nicht weil es dieses oder das zum Inhalt, zum Ziel hat, sondern weil es eine Frau ist, die begehrt. Weibliches Begehren sage ich, weil es Frauen waren, von denen ich viel über das Begehren gelernt habe – es schließt keineswegs aus, dass es auch ein männliches Begehren gibt. Es sind ja auch einige Männer hier, und vielleicht können wir in den anschließenden Gesprächen dem einmal zusammen nachgehen.

Das Begehren ist aber nicht zu verwechseln mit dem Willen, denn es hat seine Ursache nicht in unserer Vernunft oder unserem Verstand – ich glaube, jede von ihnen kennt Situationen, in denen das Begehren im Widerstreit mit der Vernunft liegt. Die Vernunft ist immer schon geprägt von den Werten und Normen in unserer Gesellschaft, von dem, was wir in der Schule oder im Beruf oder an der Universität gelernt haben, das Begehren nicht.

Das Begehren ist aber auch nicht zu verwechseln mit dem Trieb oder mit der Lust – was ja in der herkömmlichen Philosophie oft der Gegenpart zu Verstand und Vernunft gilt. Trieb und Lust lassen sich nämlich nicht reflektieren und mit anderen diskutieren, sondern höchstens zulassen oder bekämpfen. Sie können nicht Gegenstand von Verhandlungen sein, das Begehren aber schon. Ich kann über mein Begehren mit anderen verhandeln.

2. Das Begehren und sein Bezug auf die Realität

Das Begehren ist zwar untrennbar mit einer Person verbunden und damit individuell, es bezieht sich aber immer auf die Realität, auf die Welt also. Im Italienischen heißt Begehren »desiderio«, und wir haben diesen Wortstamm auch in dem deutschen Wort »Desiderat«: Ein Desiderat verweist auf einen Mangel, auf etwas, was fehlt, was unzureichend ist. Begehren ist also immer das Begehren, in der Welt etwas zu verändern, diesen Mangel auszugleichen, das Fehlende aufzufüllen – wohlgemerkt: Es geht nicht um etwas, was den Frauen fehlt, sondern um etwas, das der Welt fehlt. Das ist ein wichtiger Unterschied!

Dieser Mangel, das Unzureichende in der Welt, ist jedoch im Bezug auf das Begehren nichts, was sich objektiv feststellen ließe, so wie sozialistische oder andere politische Ideen und Theorien ein falsches Funktionieren irgend eines gesellschaftlichen Systems herleiten oder beweisen, indem sie objektive Mängel nachweisen durch Zahlen und Statistiken. Sondern der Mangel wird nur zum Mangel, zum Desiderat, weil das Begehren darauf hinweist, indem es nämlich etwas anderes begehrt. Es geht also nicht um richtig und falsch oder um Moral, sondern um ein Wechselspiel zwischen dem individuellen Begehren und der Welt, so wie sie derzeit ist.

An einem konkreten Beispiel gesagt: Dass früher Frauen nicht wählen durften, war so lange kein Mangel in der Realität, bis Frauen das Begehren verspürten, wählen zu gehen. Es gibt keine äußere, allgemeingültige Norm dafür, wie die Welt zu sein hat. Ihre Defizite entstehen nicht an und für sich, sondern erst dadurch, dass sie auf ein Begehren stoßen, das diese Defizite sieht und dann anfängt, zu handeln.

3. Das Begehren ist immer an andere Menschen, an eine Beziehung gerichtet

Das Aufeinandertreffen von Begehren und Realität findet niemals ohne die Vermittlung durch andere Menschen statt, das heißt, es geht dabei immer in erster Linie um eine Beziehung. Zum Beispiel kann ich mir vielleicht wünschen, dass es morgen nicht regnen soll, aber ich kann schönes Wetter nicht begehren. Das ist das Wahre daran, dass wir im Deutschen dieses Wort schnell mit einer sexuellen Konnotation hören: Ich richte mein Begehren niemals an die Realität als solche, sondern immer an einen anderen Menschen – ein gutes Beispiel ist das Begehren kleiner Kinder, das immer an die Mutter oder eine ihrer Ersatzpersonen gerichtet ist. Sie begehren zwar die Milch, aber ihr Schreien richtet sich nicht an die Milch, sondern an die Mutter. Denn schon die kleinen Kinder wissen, vielleicht besser als die Erwachsenen, dass sich das Begehren nur durch Verhandlungen mit anderen erfüllt: Nur so kann es befriedigt werden.

Das unterscheidet das Begehren sowohl vom Willen als auch vom Trieb: Der subjektive Wille und der unreflektierte Trieb können beide auch ohne andere bzw. sogar gegen andere befriedigt werden, etwa durch den Einsatz von Geld oder durch Gewalt. Das Begehren dagegen verlangt nach einem Austausch, der von beiden Seiten freiwillig geführt wird, sonst ist das Begehren nicht befriedigt.

4. Das Begehren und die Transzendenz

Dieser Punkt führt uns zum Anfang zurück, nämlich zu der Frage: Woher kommt mein Begehren? Warum begehre ich überhaupt, und warum ausgerechnet das oder das? Wenn die Ursache nicht in meinen körperlichen Trieben und auch nicht im Willen meiner Vernunft liegt, aber auch nicht in den Normen und Werten der Umwelt und aus ihrem Einfluss auf uns, dann bleibt nur das, was wir normalerweise mit religiösen Begriffen beschreiben: Transzendenz, das Jenseitige, Gott.

In der Psychoanalyse sind die Prägungen von außen mit dem Über-Ich, die Vernunft mit dem Ich und die Triebe mit dem Es verbunden. Um deutlich zu machen, dass es darüber hinaus noch einen weiteren Anteil im Menschen gibt, der nichts von all dem ist, hat die italienische Philosophin Chiara Zamboni den alten Begriff der Seele wieder eingeführt. Die Werte und Normen des Über-Ich auf der einen und unsere Triebstrukturen auf der anderen Seite bringen uns dazu, etwas zu müssen. Unsere Vernunft, unser Ich, bringt uns dazu, zu wollen. Aber unsere Seele bringt uns dazu, etwas zu begehren.

Es geht mir jetzt nicht darum, Glaubenssätze zu formulieren, sondern um den Versuch, etwas zu beschreiben und in Worte zu fassen, was sich letzten Endes einer solchen Beschreibung entzieht. Welche Bilder wir dafür nehmen, ist gleichgültig, verschiedene Religionen haben verschiedene Bilder für die Erfahrung der Transzendenz gefunden. Ich schildere Ihnen hier zunächst das Bild, das Chiara Zamboni gewählt hat.

Die Realität, so wie sie ist, sagt Chiara, wird manchmal durch »Lichtfunken der Qualität« durchbrochen. Das kann zum Beispiel die Lektüre eines guten Buches sein, oder ein anregendes Gespräch, ein schönes Konzert, irgend eine Situation oder ein Augenblick, wo alles zusammenpasst, wo »Qualität« da ist. Es sind Momente der Qualität, die nicht vorhersehbar waren, die man auch nicht arrangieren kann, sondern die sich ereignen, und die zwangsläufig auch wieder vorbei gehen. Chiara hat dafür auch die schöne Formulierung »Das Lächeln des Seins« gefunden. Manchmal lächelt uns das Sein zu, und unsere Seele ist der Ort, der diese Qualität, dieses Lächeln wahrnimmt und genießt – und das Begehren entsteht dadurch, dass unsere Seele danach strebt, diese Momente der Qualität wieder zu erleben. Sehnsucht, könnte man auch sagen.(vgl. Chiara Zamboni: Der Materialismus der Seele, in: Diotima u.a.: Die Welt zur Welt bringen, Königstein 1999)

Ich möchte Ihnen noch ein zweites Bild zeigen, das Dorothee Markert gefunden hat, ich zitiere: »Ich bin überzeugt, und alle, mit denen ich darüber gesprochen habe, haben es bestätigt, dass wir bei allem, was uns begegnet, ganz genau wissen, ob es uns hundertprozentig gefällt – sei es nun ein Kleidungsstück, ein Essen, ein Möbelstück, eine Wohnung, ein Arbeitsplatz oder eine Arbeit, eine Freundin, ein Liebespartner oder eine Liebespartnerin. Wir können sogar im allgemeinen angeben, wie viel Prozent wir für eine Sache oder einen Menschen haben. Ein Hundert-Prozent-Kleidungsstück tragen wir so lange, bis es auseinander fällt. Sogar wenn wir nicht gern flicken, für dieses Kleidungsstück tun wir es. Eine Hundert-Prozent-Arbeit macht uns auch dann Freude, wenn sie uns eine Menge Schwierigkeiten bereitet. Einer Hundert-Prozent-Freundin kündigen wir auch dann nicht die Freundschaft, wenn sie sich unmöglich benommen hat. In einer Hundert-Prozent-Beziehung stehen wir auch schwierige Phasen miteinander durch und klären immer wieder die Konflikte, um diese Qualität, die wir einmal kennen gelernt haben, wieder hinzubekommen. In Beziehungen, in denen beide oder ein Partner keine hundert Prozent haben, wird viel Energie gebraucht, um zu verdecken, um zu »reparieren«, um Schuldgefühle zu beschwichtigen. Haben wir keine hundert Prozent für unsere Arbeit, reparieren wir das durch Pläne für die Zukunft, durch zahlreiche Fortbildungen und Zusatzausbildungen, vielleicht auch durch Therapie, oder auch durch häufige Stellenwechsel. Auch hier verschwenden wir ständig viel Energie fürs Reparieren und werden trotzdem nicht froh.

Dass es in unserer Kultur – oder in der verkehrten symbolischen Ordnung, in der wir leben – weit verbreitet ist, sich mit dem zweitbesten zufrieden zu geben, kommt daher, dass uns eingeredet wird, wir lebten in einer Situation des Mangels, in der es nur darum gehe, wie wir überleben können. Von klein auf wird uns eingeredet – und ganz besonders uns Frauen -, man müsse halt Kompromisse machen, manchmal müsse man kleine Brötchen backen, der Spatz in der Hand sei besser als die Taube auf dem Dach, wer hoch hinauswolle, falle tief, wahrscheinlich kennen Sie auch noch ein paar derartige Sprichwörter und Redensarten. Wenn ich eine Bekannte frage, wie es ihr beispielsweise bei ihrer Arbeit gehe, und zur Antwort bekomme: »Eigentlich kann ich mich nicht beklagen …«, dann werde ich mittlerweile schon hellhörig, denn dann liegt der Verdacht nahe, dass diese Arbeit für sie nicht die Hundert-Prozent-Qualität hat. In einer symbolischen Ordnung, die von der Fülle ausgeht, können wir uns das volle Leben gönnen, und das heißt, unserem Begehren entsprechend leben. Es sind ganz bestimmte Dinge und ganz bestimmte Menschen, die für mich und mein Begehren die hundertprozentigen sind, die Lichtfunken ausschicken, wenn ich mit meinem Begehren in die Nähe komme. Sie passen nicht für alle Menschen. Ich muss also gar nicht mit allen darum konkurrieren. Sehr vieles wird sich sehr schnell ändern, wenn sich mehr und mehr Menschen bei ihren Entscheidungen nicht mehr von scheinbar objektiven Vernunftargumenten, sondern von ihrem Begehren leiten lassen.« – soweit Dorothee Markert. (vgl. Dorothee Markert: Wachsen am Mehr anderer Frauen, Rüsselsheim 2002, S. 28. u.a.) .

Resumee

Das Begehren ist also, so könnte man sagen, diejenige Kraft, die eine Verbindung herstellt zwischen uns als Individuum, der Welt, so wie sie ist, den Menschen, mit denen wir in Beziehungen stehen, und dem Transzendenten, den »Lichtfunken der Qualität«, dem, was uns 100-Prozent passt.

Und genau darin, diesem Begehren dann zu folgen, liegt notwendigerweise der Kern zu etwas Neuem. Warum? Der Grund ist, dass solche Momente der Qualität nicht durch Wiederholung hergestellt werden können. Wenn ich einmal in einer bestimmten Situation Qualität erfahren habe, nützt es nichts, zwei Wochen später diese Situation zu wiederholen, denn so wird sich die Qualität nicht einstellen. Das haben Sie sicher alle selbst schon einmal erlebt: Da war ein schöner Abend, ein schöner Urlaub, ein wunderbares Gespräch, und dann versucht man, dasselbe noch einmal zu wiederholen, man fährt noch einmal an denselben Urlaubsort, trifft sich noch einmal mit derselben Person, und dann mag es zwar immer noch schön gewesen sein, aber es hat höchstwahrscheinlich nicht die Qualität des ersten Mals.

Das Begehren ist sozusagen gleichzeitig rückwärtsgewandt (angetrieben durch die Erinnerung an erlebte Momente der Qualität, an die Sehnsucht nach einer bestimmten Person, einem bestimmten Erleben) und doch radikal vorwärts gewandt, denn es kann nicht durch Wiederholung befriedigt werden, sondern nur durch den Anfang von etwas Neuem. Oder, wie Chiara es sagt: Wiederholungen, festgefahrene Bahnen langweilen die Seele, und wenn sie sich langweilt, dann wendet sie sich ab und unser Begehren verschwindet. Dem Begehren zu folgen ist ein Experiment, das nie zu Ende geht.

Natürlich ist das nicht einfach. Zumal wir gerade in unserer heutigen Leistungsgesellschaft wir dazu gedrängt werden, das Begehren klein zu halten, denn nur so können wir »vernünftig« funktionieren. Und wer wollte nicht erfolgreich sein, beliebt bei den Kolleginnen, gelobt vom Chef, wer hätte nicht Angst davor, soziale Anerkennung, aber auch Einkommen und mehr aufs Spiel zu setzen? Da muss das Begehren schon sehr groß und stark sein.

Aber diese äußeren Hindernisse sind nicht einmal die schwierigsten. Viel öfter stehen wir uns selbst im Weg. Unsere Vernunft und unser Wille tendieren nämlich leicht dazu, sich in den Vordergrund zu spielen und das Begehren zu verdrängen. Wir sind eitel, wollen gerne glauben, alles zu kontrollieren und im Griff zu haben, zumindest doch unsere eigene Biografie. Wir hören nicht auf unsere Begehren, weil wir damit beschäftigt sind, all die ehrgeizigen Ziele zu erreichen, die wir uns einmal gesteckt haben. Weil wir zu festgelegte Vorstellungen von dem haben, was wir wollen.

Dem eigenen Begehren zu folgen, das ist nämlich etwas vollkommen anderes als Selbstverwirklichung. Ich habe mal gesagt, es ist eher so wie Gehorsam gegenüber einer Notwendigkeit, die von außen an uns herangetragen wird. Wie etwa von den Kranken ihrer Heimatstadt, die von ihr behandelt werden wollten, an Dorothea Erxleben. Die dann einwilligte, das Wagnis einzugehen – ohne Erfolgsgarantie, ohne Sicherheitsnetz. Dem Begehren zu folgen – das geht nicht so, dass ich mir das Ziel aufmale und dann strategische Schritte tue und immer ausgefeiltere Techniken anwende, um dann schließlich dieses Ziel zu erreichen. Sondern es geht nur, indem ich mich auf ein Spiel einlasse, wenn ich zulasse, dass das Ende offen bleibt. Das Spiel des Lebens sozusagen. Ich spiele mit mir selbst – denn oft muss ich auch zwischen mir und mir selbst verhandeln, wenn es darum geht, dem eigenen Begehren zu folgen, zum Beispiel bei der Frage: worauf bin ich bereit zu verzichten, um etwas anderes machen zu können? Bin ich bereit, auf Geld und Karriere zu verzichten, um eine sinnvolle Arbeit zu tun? Bin ich bereit, auf meine Spontanität zu verzichten, um ein Kind zu haben? Bin ich bereit, diese nervige Frau zu ertragen, weil sie wichtig ist für ein Projekt, das mir am Herzen liegt? Wenn wir – mit uns selbst oder mit anderen – über unser Begehren verhandeln, dann stellt sich uns immer wieder die Frage: Was bin ich bereit, zu geben im Tausch wofür? Und je größer unser Begehren ist, desto mehr sind wir bereit zu geben, aufs Spiel zu setzen. Desto kreativer, wagemutiger, offener sind wir. Dieses Spiel, bei dem es um Austausch und Verhandeln geht, spiele ich zusammen mit mir, mit der Welt, mit anderen Menschen, ja sogar mit Gott. Wenn ich mich auf diese Verhandlungen einlasse, wenn ich mich dabei selbst aufs Spiel setze (wenn ich nämlich das Risiko eingehe, mich selber in diesem Prozess zu verändern), dann kann Neues entstehen, dann kann mein Begehren befriedigt werden. Ich kann das nicht planen und kontrollieren oder gar herbeizwingen. Aber ich kann die Wahrscheinlichkeiten erhöhen. Da es immer darum geht, mit anderen zu verhandeln, muss ich diesen Verhandlungsspielraum möglichst erweitern.

Indem Frauen ihrem Begehren folgen, einen neuen Anfang machen, sich »aus dem Fenster der Welt hinauslehnen«, wie die Philosophin Luisa Muraro einmal schrieb, kann es geschehen, dass etwas möglich wird, was bislang nicht möglich war. Indem Dorothea Erxleben ein so großes Begehren hatte, Ärztin zu sein, dass sie viel riskierte, viel aufs Spiel setzte, beharrlich und leidenschaftlich dafür arbeitete, bis sie ihr Universitätsexamen bekam, hat sich etwas verändert: Nun war es möglich, dass Frauen ein medizinisches Examen bekamen. Oder sogar: Nun war der Beweis erbracht, dass es immer schon möglich gewesen war, dass die Realität in Wahrheit ganz anders war, als man sie bis dahin wahr-genommen hatte.

Um ein Missverständnis zu vermeiden: Dass etwas möglich ist, heißt natürlich nicht, dass es einfach ist. Nur weil es möglich ist, dass Menschen fünf Meter weit springen, kann ich das noch lange nicht. Dem eigenen Begehren zu folgen, das kann auch gefährlich sein, Größenwahn ist so eine Gefahr, Leichtsinn auch. Das ist einfach so, es liegt nicht am Patriarchat oder an den bösen Umständen. Das Problem ist aber, dass es die Welt des Patriarchats keinen angemessenen Ort für das weibliche Begehren hat. In dieser alten symbolischen Ordnung gibt es keinen Platz für ein Begehren, das sich auf das richtet, was heute noch als unmöglich gilt. Deswegen gelten Frauen, die ihrem Begehren folgen, manchmal auch als verrückt, unlogisch, nicht ernst zu nehmen. Zuweilen scheitern sie tatsächlich, es wäre falsch, das zu verschweigen, sie scheitern an den Verhältnissen, daran, dass es sich wirklich als unmöglich herausstellt. Viele Frauen sind zum Beispiel auf dem Scheiterhaufen gelandet, oder im Irrenhaus, oder im Selbstmord, weil sie ihrem Begehren folgten.

Was wir in diesen Zeiten am Ende des Patriarchats brauchen, das ist deshalb eine neue Kultur, eine neue symbolische Ordnung, die dem Begehren einen angemessenen Raum gibt, es aber gleichzeitig auch davor bewahrt, größenwahnsinnig und leichtsinnig zu werden. Die Beziehungen unter Frauen, das Wirken weiblicher Autorität kann hier eine Antwort sein. Eine Autorität, die das Begehren ernst nimmt und nicht in die Schranken weist, die eine Antwort bietet, die auf Gegenseitigkeit und Freiwilligkeit beruhen, so wie es eine Mutter tut, die dem Kind die Milch oder auch die Süßigkeiten gibt, die es begehrt – aber nicht in jeder Situation, überall und sofort. Sie wägt auch ab, ob zuviel Bonbons dem Kind vielleicht schade und ob sie selbst Zeit, Geld und Lust hat, welche einzukaufen. Dem Begehren einen Raum in unserer Welt zu geben, das ist keine leichte Aufgabe, sie erfordert unsere Aufmerksamkeit und unsere Anstrengung. Es ist die Arbeit an einer neuen symbolischen Ordnung und an einer Kultur der Beziehungen unter Frauen, in denen Begehren und Autorität wirksam sind, damit sich etwas verändern kann. Das geschieht bereits auf vielen Ebenen.

Es ist auch der Grund dafür, warum die Frauenbewegung heute keineswegs überholt und überflüssig geworden ist. Denn, wie gesagt, Emanzipation war nie ihr hauptsächliches Ziel. Es geht um Freiheit und ein gutes Leben – nicht nur für die Frauen, sondern überhaupt – und in dieser Hinsicht gibt es auch heute noch viel zu tun. Heute ist der internationale Frauentag, Sie stehen am Beginn einer Woche, die weibliche Freiheit in ihren vielfältigen Möglichkeiten zum Ausdruck bringt. Nutzen wir diese Chancen. Lassen wir uns also nicht davon entmutigen, dass so vieles unmöglich erscheint: Die Herrschaftsansprüche der Mächtigen aufzuhalten, Kriege zu verhindern, die Welt gerechter zu machen. Das alles erscheint uns heute unmöglich. Aber eine Frau, die ihrem Begehren folgt, kann an die Grenzen des Möglichen kommen und sogar darüber hinaus. Immer wenn eine einen neuen Anfang macht, dann erweitert sie die Möglichkeiten dessen, was eine Frau tun kann. Sie vergrößert die weibliche Freiheit. Sie verändert die Welt. Nicht spektakulär, das kommt nicht in der Tagesschau, ist aber nachhaltig und wirksam.

Wir haben keine Patentrezepte. Wir wissen vielleicht nicht einmal, was genau anders werden soll. Aber solange wir begehren, solange wir die Freiheit lieben und bereit sind, uns selbst dafür aufs Spiel zusetzen mitsamt unseren vorgefertigten Meinungen und Positionen, solange es Frauen gibt, die ihrem Begehren folgen, solange gibt es immer auch die Möglichkeit eines neuen Anfangs. Nichts muss so bleiben, wie es ist – diese befreiende Erfahrung haben wir unter anderem der Frauenbewegung zu verdanken. Und wir können uns in jeder Situation klar machen, dass es niemals nur ein entweder – oder gibt. Wir haben immer die Wahl, auch etwas ganz anderes zu probieren, etwas Neues, Unterwartetes, Verrücktes, solange wir uns nur von der Vorstellung verabschieden, wir könnten alles kontrollieren und im Griff haben, solange wir offen sind für das, was da kommen mag. Das Begehren ist der Garant dafür, dass Neues in die Welt kommt. Es kommt aber darauf an, sich auf das Spiel einzulassen, sich auch selbst aufs Spiel zu setzen, und einen neuen Anfang zu machen. Jede an dem Ort, wo ihr eigenes Begehren sie hinführt.


Vortrag am 8.3.2003 zur Eröffnung der 13. Fuldaer Frauenwoche