Antje Schrupp im Netz

Weibliches Begehren öffnet Wege für Unvorhergesehenes

Kürzlich besuchte ich einen Informationsabend über NLP. Vielleicht kennen einige von Ihnen diese Technik, »Neuro-Linguistisches-Programmieren«. Dabei geht es darum, die eigene Kommunikation mit anderen besser zu verstehen und zu kontrollieren und bewusst einsetzen zu können. Ich erzähle Ihnen das, weil mir an diesem Abend aufgefallen ist, was das »Begehren«, das desiderio, wie es im Denken der Italienerinnen eine wichtige Rolle spielt und um das es heute gehen soll, eigentlich ausmacht. Erlauben Sie mir deshalb, dass ich hier noch etwas weiter aushole.

NLP und ähnliche kommunikations-therapeutische Methoden sind seit einiger Zeit in Mode, jedenfalls habe ich den Eindruck beim Durchblättern von Anzeigen in Stadtmagazinen und aus Begegnungen mit Leuten, die an ihrem Leben etwas verändern möchten, die vor allem in der Kommunikation mit anderen etwas verändern möchten. Besonders unter Frauen gibt es ein weit verbreitetes Bedürfnis, ihr eigenes Verhältnis zu anderen Menschen und zur Welt besser zu verstehen. In gewisser Weise steht dafür der ganze Boom auf dem Psychotherapie- oder Esoterikmarkt. Ich sehe in diesem Engagement einen Versuch, mit dem weiblichen Begehren fertig zu werden. Mit dem Gefühl, das eigene reale Leben stimmt nicht mit dem überein, was man sich eigentlich wünscht, mit dem Gefühl, die eigenen Potenziale nicht auszuschöpfen, und dem Wunsch, all dies zu verbessern. Und dabei wenden Frauen viel Zeit auf, verschiedene Methoden auszuprobieren, sie kaufen und lesen eine Unmenge von Büchern, sie investieren viel Zeit und Geld in Beratungen, Kurse, Karriereratgeber, Bücher über Kommunikationsstrategien usw.

Seit ich vor einigen Jahren den Bestseller auf diesem Markt: »Gute Mädchen kommen in den Himmel, böse überall hin« gelesen hatte, stand mein Urteil über diesem Boom fest: Das ist alles Mist. Der Hauptpunkt meiner Kritik war und ist, dass ich hierin den Versuch sehe, den Frauen männliche Verhaltensweisen anzutrainieren – nach dem Motto: Ellenbogen ausfahren, mit akademischen Titeln hausieren gehen, immer auf den eigenen Vorteil bedacht sein.

Inzwischen muss ich aber zugeben, dass die meisten Frauen, die diese Bücher lesen, sich dadurch keineswegs zu Karrieremonstern entwickelt haben. Die meisten haben immer noch ihre Ansprüche an eine sinnvolle Arbeit, die anderen nicht schadet und möglicherweise etwas Gutes bewegt, beibehalten. Die Frauen sind gar nicht so korrumpiert, wenn sie diese Bücher lesen, wie ich es vor ein paar Jahren noch befürchtet hatte. Vielleicht hatte ich ja die Stärke und die Kraft der sexuellen Differenz, die Größe des weiblichen Begehrens, unterschätzt.

Ich bin aber dennoch der Meinung, dass solche Kurse wie NLP, esoterische Methoden oder Karriereratgeber keine angemessene Antwort auf das weibliche Begehren nach besserer Kommunikation und sinnhaftem Leben sind, und das wurde mir am Schluss des Abends über NLP neulich klar. An der Wand mir gegenüber hing eine Liste mit »Grundannahmen« des NLP, mit denen ich größtenteils auch ganz einverstanden war, aber mit einer nicht. »Alle Ressourcen für eine notwendige Veränderung liegen in dir selbst« – zitiere ich jetzt mal aus dem Kopf, denn ich habe es nicht mitgeschrieben. Ich fragte den Kursleiter, ob das denn ernst gemeint sei, denn man könne doch unmöglich alles aus eigener Kraft erreichen.

Der Kursleiter, der ein sehr netter Mensch war, sagte, dieser Satz sei in der Tat missverständlich, denn natürlich könne man auch mit NLP-Techniken nichts unmögliches schaffen. Er würde in den Gesprächen mit seinen Klienten deshalb immer darauf hinweisen, dass man sich realistische Ziele setzen soll, die man mit den eigenen Ressourcen und Möglichkeiten auch erreichen kann.

Und da war mir dann auch klar, wo das Problem liegt, das ich mit diesen Formen habe: Sie räumen dem Unmöglichen, dem Unvorgesehenen keinen Platz ein. Sondern sie gehen von Zielen aus und üben Techniken ein, wie man zu diesen Zielen kommt. Die Ziele kommen nach dieser Vorstellung so zustande, dass ich mir sie selber setze, das heißt aber logischerweise, sie gehen nicht über das hinaus, was ich mir vorstellen kann.

Und dann ist mir auch aufgefallen, dass das bei vielen Konzepten so ist, die in der Frauenbewegung bisher diskutiert wurden: Ob Selbstverwirklichung, gleiche Rechte und Chancen, was auch immer – es ging immer darum, etwas auch für mich zu erreichen, was es prinzipiell bereits gibt, also entweder meine eigenen Potenziale zur Entfaltung zu bringen, die bislang ungenutzt in mir schlummern, oder aber die gleichen Chancen und Möglichkeiten für mich zu reklamieren, die andere – etwa die Männer – bereits haben.

Diese »Theorien« und »Praktiken« gehen zwar davon aus, dass der Mensch viel mehr Möglichkeiten, Fähigkeiten und Potenziale hat als die, die genutzt werden. Und sie ermutigen dazu und helfen dabei, diese Potenziale zu nutzen. Aber sie machen letztlich halt vor dem Versuch, Unmögliches zu erreichen. Und deshalb, so meine These, die ich Ihnen im Verlauf des Abends näher erläutern möchte, funktionieren sie zwar und helfen in bestimmten Situationen auch weiter, aber sie sind letztlich keine Hilfe für das weibliche Begehren. Denn – und das ist gerade der Knackpunkt, auf den es ankommt: Das, was Frauen begehren, geht über die Grenzen dessen hinaus, was bisher für möglich gehalten wird. Das weibliche Begehren ist sozusagen der Garant dafür, dass Neues in die Welt kommen kann, etwas, das es bisher noch nicht gab.

Sie haben gemerkt, ich spreche schon die ganze Zeit vom weiblichen Begehren, und vielleicht müsste ich dieses Wort jetzt erst einmal erklären. Begehren ist die deutsche Übersetzung des italienischen Wortes »desiderio», das in den Texten der italienischen Philosophinnen um den Mailänder Frauenbuchladen eine wichtige Rolle spielt. Also das Wünschen und Wollen der Frauen, den Anspruch auf Wohlbehagen, den Wunsch, sich nicht unangemessen zu fühlen, wie es die Mailänderinnen in einem ihrer frühen Texte beschreiben.

Im Feminismus ist in der Vergangenheit viel von dem die Rede gewesen, was Frauen für sich wünschen: Mehr Gleichheit mit den Männern, mehr Chancen, weniger Diskriminierung, Anerkennung, Selbstbewußtsein, mehr Geld. Der entscheidende Unterschied beim Konzept der Italienerinnen ist aber, dass es ihnen nicht um dasWasgeht – was Frauen begehren, also den Inhalt, die Forderungen, sondern um die Tatsache als solche, dass Frauen eben begehren. Dann geht es nicht mehr darum, was Frauen fehlt und was sie haben wollen (dem Inhalt dessen, was sie begehren), sondern man geht von dem aus, was da ist, was Frauen haben, nämlich ihr Begehren. Und die Italienerinnen stellten sogar die Behauptung auf, dass das Begehren das Stärkste ist, was wir zur Verfügung haben, um etwas in der Welt zu verändern, um die Welt so zu gestalten, dass wir mit Wohlbehagen in ihr leben können.

Das weibliche Begehren ist etwa für die Philosophin Luisa Muraro die Kraft, die Veränderungen bewirkt, der Garant für die Präsenz des Weiblichen in der Welt. Es ist der Motor unserer Handlungen und gleichzeitig weist es uns die Richtung bei der Suche nach einem Sinn in der Welt und in unserem Leben – das ist eine starke These: Nicht unsere Fähigkeiten und Kompetenzen, nicht die Gesetzesänderungen, die wir erreicht haben, unsere politischen Rechte, unsere soziale Absicherung sind das, was uns hilft, die Welt zu gestalten, sondern es ist unser Begehren.

»Desiderio« hat im italienischen eine größere Bedeutungsbreite als das deutsche Wort »Begehren«, und es ist ein Wort, das viel stärker in noch in der Alltagssprache verankert ist. Während das deutsche »Begehren« meist im Zusammenhang mit sexuellem Begehren gebraucht wird, wird das italienische Verb desiderare in allen möglichen Situationen verwendet – zum Beispiel von der Verkäuferin, die die Kundin fragt, che cosa desidera, was begehren Sie?

Es gibt beim Begehren vier Komponenten, die zusammen spielen: Den eigenen, persönlichen Wunsch, die Realität, so wie sie ist, die Beziehung zu einem anderen Menschen, der mir diese Realität vermittelt, und den Bezug zur Transzendenz, die über die Grenzen der Realität, so wie sie ist, hinaus führt.

1. Der eigene, persönliche Wunsch:

Das Begehren ist untrennbar an eine bestimmte Person verbunden, es ist etwas Individuelles. Ich begehre, du begehrst, es gibt kein abstraktes Begehren oder das Begehren an sich. Es gibt auch kein Begehren der Frauen. Weibliches Begehren ist daher nicht so zu verstehen, dass man daraus konkrete inhaltliche Forderungen für eine Frauenpolitik ableiten könnte. Weibliches Begehren ist immer das Begehren einer bestimmten Frau, und es ist weiblich, nicht weil es dieses oder das zum Inhalt, zum Ziel hat, sondern weil es eine Frau ist, die begehrt.

Das Begehren ist aber nicht zu verwechseln mit dem Willen, denn es hat seine Ursache nicht in unserer Vernunft oder unserem Verstand – ich glaube, jede von ihnen kennt Situationen, in denen das Begehren im Widerstreit mit der Vernunft liegt. Die Vernunft ist immer schon geprägt von den Werten und Normen in unserer Gesellschaft, von dem, was wir in der Schule oder im Beruf oder an der Universität gelernt haben, das Begehren nicht.

Das Begehren ist aber auch nicht zu verwechseln mit dem Trieb oder mit der Lust – was ja in der herkömmlichen Philosophie oft der Gegenpart zu Verstand und Vernunft gilt. Trieb und Lust lassen sich nämlich nicht reflektieren und mit anderen diskutieren, sondern höchstens zulassen oder bekämpfen. Sie können nicht Gegenstand von Verhandlungen sein, das Begehren aber schon.

2. Das Begehren und sein Bezug auf die Realität

Desiderio, das Begehren, ist zwar untrennbar mit einer Person verbunden und damit individuell, es bezieht sich aber immer auf die Realität, auf die Welt also. Das kommt in dem Wort »Desiderat» zum Ausdruck. Ein Desiderat verweist auf einen Mangel, auf etwas, was fehlt, was unzureichend ist. Begehren ist also immer das Begehren, in der Welt etwas zu verändern, diesen Mangel auszugleichen, das Fehlende aufzufüllen – wohlgemerkt: Es geht nicht um etwas, was den Frauen fehlt, sondern um etwas, das der Welt fehlt. Das ist ein wichtiger Unterschied!

Dieser Mangel, das Unzureichende in der Welt, ist jedoch im Bezug auf das Begehren nichts, was sich objektiv feststellen ließe, so wie sozialistische oder andere politische Ideen und Theorien ein falsches Funktionieren irgend eines gesellschaftlichen Systems herleiten oder beweisen, indem sie objektive Mängel nachweisen durch Zahlen und Statistiken. Sondern der Mangel wird nur zum Mangel, weil das Begehren darauf hinweist, indem es nämlich etwas anderes begehrt. Es geht also nicht um richtig und falsch oder um Moral, sondern um ein Wechselspiel zwischen dem individuellen Begehren und der Welt.

An einem konkreten Beispiel gesagt: Dass früher Frauen nicht wählen durften, war so lange kein Mangel in der Realität, bis Frauen das Begehren verspürten, wählen zu gehen. Es gibt keine äußere, allgemeingültige Norm dafür, wie die Realität zu sein hat. Ihre Defizite entstehen nicht an und für sich, sondern erst dadurch, dass sie auf ein Begehren stoßen, das diese Defizite sieht.

3. Das Begehren ist immer an andere Menschen, an eine Beziehung gerichtet

Das Aufeinandertreffen von Begehren und Realität findet niemals ohne die Vermittlung durch andere Menschen statt, das heißt, es geht dabei immer in erster Linie um eine Beziehung. Zum Beispiel kann ich mir vielleicht wünschen, dass es morgen nicht regnen soll, aber ich kann schönes Wetter nicht begehren. Das ist das Wahre daran, dass wir im Deutschen dieses Wort schnell mit einer sexuellen Konnotation hören: Ich richte mein Begehren niemals an die Realität so wie sie ist, sondern immer an einen anderen Menschen – bestes Beispiel ist das Begehren kleiner Kinder, das immer an die Mutter oder eine ihrer Ersatzpersonen gerichtet ist. Das Begehren erfüllt sich nur durch Verhandlungen mit anderen: Nur so kann es befriedigt werden. Während der Wille ebenso wie bei der Trieb auch ohne andere bzw. gegen andere befriedigt werden kann, etwa durch den Gebrauch von Geld oder von Macht oder von Gewalt, verlangt das Begehren nach einem Austausch, der von beiden Seiten freiwillig geführt wird.

Aber noch aus einem anderen Grund ist das Begehren auf die Beziehung, auf die Vermittlung durch andere, angewiesen: Ich würde es anders nämlich gar nicht erkennen. Wie kann ich, wenn ich mir etwas wünsche, denn unterscheiden, ob dieser Wunsch nun meiner Lust und meinen Trieben, meiner Vernunft und meinem Willen oder aber wirklich meinem Begehren entspringt? Die Unterscheidung zu den Trieben ist vielleicht gar nicht so schwierig, denn in unserer aufgeklärten und vernunftgeleiteten Gesellschaft sind wir es überaus intensiv trainiert worden, unseren Trieben zu widerstehen. Sehr viel schwieriger ist es jedoch, unser Begehren von unserem Willen zu unterscheiden, denn der freie Wille und die Vernunft, werden in unserer Kultur überaus hoch geschätzt. Das Ich, ich, das Subjekt, ist ziemlich eingebildet und drängelt sich dauernd in den Vordergrund. Mein Ich, das etwas will, ist meistens sehr laut und kann durchaus das Begehren der Seele übertönen.

Wie können uns Beziehungen aus dieser Klemme helfen? Chiara Zamboni hat das im Rückgriff auf Hannah Arendt schön erklärt: Unsere Seele ist wie eine ständige Begleiterin, ein Teil unserer selbst, die uns von hinten über die Schulter blickt. Wir selbst können sie nicht sehen, sehr wohl aber die anderen, die vor uns stehen und uns anschauen. Durch ihre Reaktionen, durch das Verhalten derer, mit denen wir eine Beziehung eingehen, können wir Rückschlüsse auf unsere Seele ziehen. Andere Menschen können hinter dem, was wir bewusst und absichtlich von uns zeigen, immer auch jenes andere erkennen, was unser Ich, das immer nur gut dastehen will, lieber verbergen möchte. Wir erkennen uns selbst, unsere Seele, unsere Begehren, damit nur im Spiegel der anderen.

4. Das Begehren und die Transzendenz

Nun komme ich zum letzten und zum schwierigsten, aber auch dem meiner Ansicht nach entscheidenden Punkt – der Bezug zum Transzendenten. Wenn die Ursache, der Grundfür mein Begehren nicht in meinen körperlichen Trieben und auch nicht im Willen meiner Vernunft liegt, aber auch nicht in den Normen und Werten der Umwelt und aus ihrem Einfluss auf uns, woher kommt es dann? Dann bleibt nur das, was wir normalerweise mit religiösen Begriffen beschreiben: Transzendenz, das Jenseitige, Gott.

In der Psychoanalyse sind die Prägungen von außen mit dem Über-Ich, die Vernunft mit dem Ich und die Triebe mit dem Es verbunden. Um deutlich zu machen, dass es darüber hinaus noch einen weiteren Anteil im Menschen gibt, der nichts von all dem ist, hat die italienische Philosophin Chiara Zamboni den alten Begriff der Seele wieder eingeführt. Die Werte und Normen des Über-Ich und unsere Triebstrukturen bringen uns dazu, etwas zu müssen. Unsere Vernunft, unser Ich, bringt uns dazu, zu wollen. Aber unsere Seele bringt uns dazu, etwas zu begehren.

Es geht mir jetzt nicht darum, Glaubenssätze zu formulieren, sondern um den Versuch, etwas zu beschreiben und in Worte zu fassen, was sich letzten Endes einer solchen Beschreibung entzieht. Welche Bilder wir dafür nehmen, ist gleichgültig, verschiedene Religionen haben verschiedene Bilder für die Erfahrung der Transzendenz gefunden. Ich schildere Ihnen hier das Bild, das Chiara Zamboni gewählt hat.

Die Realität, so wie sie ist, sagt Chiara, wird manchmal durch »Lichtfunken der Qualität» durchbrochen. Das kann zum Beispiel die Lektüre eines guten Buches sein, oder ein anregendes Gespräch, ein schönes Konzert, irgend eine Situation oder ein Augenblick, wo alles zusammenpasst, wo »Qualität» da ist. Es sind Momente der Qualität, die nicht vorhersehbar waren, die man auch nicht arrangieren kann, sondern die sich ereignen, und die zwangsläufig auch wieder vorbei gehen. Chiara hat dafür auch die schöne Formulierung »Das Lächeln des Seins« gefunden. Manchmal lächelt uns das Sein zu, und unsere Seele ist der Ort, der diese Qualität, dieses Lächeln wahrnimmt und genießt – und das Begehren entsteht dadurch, dass unsere Seele danach strebt, diese Momente der Qualität wieder zu erleben.

Resumee

Das Begehren ist also, so könnte man nun sagen, ist diejenige Kraft, die eine Verbindung herstellt zwischen uns als Individuum, der Welt, so wie sie ist, den Menschen, mit denen wir in Beziehungen stehen, und dem Transzendenten, dem Jenseitigen, den »Lichtfunken der Qualität«.

Als ich neulich diese Theorie – denn es ist ja immer ein fragwürdiger Versuch, die Komplexität dessen, was ist, in Worte und 4-Punkte-Kategorien zu fassen – als ich also neulich diese Theorie einem Freund vortrug, sagte er, er glaube nicht, dass es so etwas wie Begehren, wie ich es hier beschrieben habe, überhaupt gebe, und all unser Handeln bestehe nur aus einer Mischung von Außenprägung und eigener Veranlagung. Er bestritt also, dass es eine Seele, den Einfluss des Transzendenten überhaupt gebe, deshalb mache es auch keinen Sinn, das Wort »Begehren« auf diese Weise zu definieren. Alles, was ich Begehren nenne, sei letztlich eben auch nur eine Mischung aus Wille und Trieb.

Ich fing an, mit ihm darüber zu argumentieren, aber dann merkte ich, dass es darum gar nicht geht. Es ist nämlich so, dass mir die Theorie, die hier vorgetragene Vorstellung vom Begehren, hilft, das, was ich fühle und was ich tue und was meine Motivation dabei ist, besser zu verstehen. Ich möchte Sie bitten, das auch für sich zum Kriterium zu machen: Also dass wir nicht diskutieren, ob es so ist oder so richtig ist, ob es Begehren gibt oder nicht, sondern ob es hilfreich ist, ob Sie sich mit Erlebnissen und Situationen in dem Geschilderten wiederfinden.

Das ist letztlich die Bedeutung dessen, was die Italienerinnen die »Arbeit am Symbolischen« nennen. Denn es geht hier um den Versuch, das, was ist und geschieht, in Worte zu fassen, dafür eine Sprache zu finden. Realität ist immer interpretierte Realität. Die Realität, so wie sie ist, die kenne ich gar nicht, sondern ich kenne nur die Realität, so wie sie mir durch andere Menschen vermittelt wurde. Ich habe gesagt, dass mein Begehren auf einen Mangel in der Realität hinweist, und dass es mich herausfordert, Ansprüche an andere zu stellen und mit ihnen darüber zu verhandeln. Das, worüber wir, wenn wir etwas begehren, mit anderen verhandeln, ist also nicht einfach nur die Realität als solche, sondern die Interpretation der Realität, wobei aber natürlich eine Veränderung im Symbolischen, in der Interpretation der Realität, tatsächliche Veränderungen nach sich zieht.

Stellen wir nun also die Frage, wie das geht, dem eigenen Begehren zu folgen, und warum darin notwendig der Kern zu etwas Neuem liegt:

Der Grund ist, dass solche Momente der Qualität nicht durch Wiederholung hergestellt werden können. Wenn ich einmal in einer bestimmten Situation Qualität erfahren habe, nützt es nichts, zwei Wochen später diese Situation zu wiederholen, denn so wird sich die Qualität nicht einstellen. Das haben Sie sicher alle selbst schon einmal erlebt: Da war ein schöner Abend, ein schöner Urlaub, ein wunderbares Gespräch, und dann versucht man, das selbe noch einmal zu wiederholen, man fährt noch einmal an denselben Urlaubsort, trifft sich noch einmal mit derselben Person, und dann mag es zwar immer noch schön gewesen sein, aber es hat nicht die Qualität des ersten Mals.

Das Begehren ist sozusagen gleichzeitig rückwärtsgewandt (angetrieben durch die Erinnerung an erlebte Momente der Qualität, an die Sehnsucht nach einer bestimmten Person, einem bestimmten Erleben) und doch radikal vorwärts gewandt, denn es kann nicht durch Wiederholung befriedigt werden, sondern nur durch den Anfang von etwas Neuem. Oder, wie Chiara es sagt: Wiederholungen, festgefahrene Bahnen langweilen die Seele, und wenn sie sich langweilt, dann wendet sie sich ab und unser Begehren verschwindet. Unsere Seele, unser Begehren richtet sich auf diese jenseitigen Lichtfunken, die sich mit allem Geschick, aller Planung nicht herstellen lassen, weil sie transzendent sind, also Wunder, Unmögliches. Das weibliche Begehren, schreibt Luisa Muraro, lehnt sich über die Grenzen dieser Welt hinaus, daher wird es häufig auch für verrückt, für irrational, für hysterisch gehalten. Deshalb ist das Begehren unsere Stärke, das Stärkste, was wir haben, wenn wir in dieser Welt etwas verändern wollen. Ohne das Begehren entsteht nichts Neues, ohne das Begehren wird nur das bereits vorhandene neu gruppiert, mit neuen Namen und Etiketten versehen.

Es geht nun darum, zu verstehen, in welcher Weise wir aktiv werden können, um unserem Begehren zu folgen. Um das zu verstehen, müssen wir wissen, dass das Ich, unsere Vernunft und unser Wille, leicht dazu tendiert, sich in den Vordergrund zu spielen und das Begehren zu verdrängen. Gerade in unserer heutigen Leistungsgesellschaft werden wir dazu gedrängt, das Begehren klein zu halten, denn nur so kann das Ich Karriere machen. Das ist meiner Meinung nach der wichtigste Grund, warum Frauen immer noch nicht zu gleichen Teilen die Chefsessel besetzen: Das weibliche Begehren sträubt sich dagegen. Und das ist auch der Grund, warum der Gleichheitsfeminismus gefährlich ist für das weibliche Begehren und damit für die Welt: Weil er Frauen dazu verführt, sich ihr Begehren abzutrainieren, sich anzupassen und sich mit dem zufrieden zu geben, was es gibt.

Wenn ich es einmal provokant formulieren will: Forderungen aufzustellen und dem eigenen Begehren zu folgen, schließt sich aus. Jedenfalls, wenn man den Erfolg und den Sinn des eigenen Handelns danach bemisst. Forderungen, Sie alle kennen das sicherlich, immer pragmatisch sein müssen, durchsetzbar, mehrheitsfähig, nicht überzogen. Sie gehen von einem vorher festlegbaren Ziel aus, das heißt, dem Machbaren, dem Vorstellbaren. Das heißt: sie machen das Begehren klein. Denn das Vorhersagbare – unsere Emanzipation etwa war vorhersagbar – stellt die weibliche Liebe zur Freiheit nicht zufrieden. Damit will ich nicht sagen, dass man nie und nirgends etwas fordern soll, es ist eine politische Option wie viele andere auch, aber die Forderungen sind keine Unterstützung für unser Begehren, sondern ein politisches Mittel, das in bestimmten Situationen vielleicht mal angebracht ist, mehr aber nicht.

Nach den derzeitigen Spielregeln zumindest unserer Gesellschaft, aber vielleicht aller patriarchalen Gesellschaften, kann eine Frau nur Erfolg haben, wenn sie das eigene Begehren klein hält. Das ist der Grund dafür, warum diese Spielregeln von Frauen verlangen, im gleichen Maß wie sie an Einfluss gewinnen, die weibliche Differenz abzulegen, zum Neutrum zu werden. Sich mit dem Machbaren zufrieden zu geben. Zum Glück scheint es ja nicht zu funktionieren, das weibliche Begehren ist zu stark – hoffentlich bleibt es so.

Lassen Sie mich noch einmal auf meinen Ausgangspunkt, den NLP-Abend zurückkommen. Wir machten an diesem Abend immer mal wieder kleine Übungen, um manche Thesen des NLP selbst zu erproben. Und einmal sollten wir uns alle ein Ziel vorstellen, das wir verfolgen. Und mir fiel kein Ziel ein. Ich machte noch mit meinem Nachbarn einen Witz darüber, ich sei eben so ein zielloser Mensch, aber dann fiel mir auf, dass das gar kein Witz ist. Offenbar ist es in der Gedankenwelt dieser Therapien und Kommunikationsstrategen ganz selbstverständlich, dass jeder Mensch Ziele hat, die er erreichen will, und dass das Problem nur darin besteht, wie man diese Ziele erreicht. Mein Problem, die Frage, die mich wirklich beschäftigt, ist aber viel eher die: Welche Ziele soll ich mir setzen? Bin wirklich ich es, die sich die Ziele ihres Lebensweges setzt, oder ist es nicht eher so, dass die Ziele mir viel eher in Form von Möglichkeiten zufliegen?

Ich glaube, das Problem vieler Frauen ist nicht so sehr, dass sie nicht wissen, wie sie ihre Ziele verwirklichen sollen, sondern dass sie nicht wissen, welches ihre Ziele sind. Und zwar zu recht – wenn nämlich die These stimmt, dass sich das weibliche Begehren aus der Welt hinauslehnt, die Grenzen des bisher für möglich gehaltenen ausdehnt. Denn was wären das für Ziele, die ich selbst mir setzen und vorstellen könnte?

Dem eigenen Begehren zu folgen, das ist gerade etwas anderes als Selbstverwirklichung. Ich sagte ja schon: Das Selbst, unser Ich, eitel und selbstverliebt, wie es ist, hält natürlich das für das Wichtigste, was es selbst erfunden hat. Nichts neues also. Das ist vielleicht der Grund dafür, warum wir gerade von den Mystikerinnen so viel über das weibliche Begehren lernen können – zu ihrer religiösen Praxis gehörte ja gerade, die Absehung vom eigenen Ich einzuüben und die Seele Gott zu öffnen, man könnte auch sagen, sich für die Qualitätsfunken der Transzendenz, wach und empfänglich zu machen.

Dem eigenen Begehren zu folgen – dieser Weg geht nicht so, dass ich mir das Ziel aufmale und dann strategische Schritte tue und immer ausgefeiltere Techniken anwende, um dann schließlich dieses Ziel zu erreichen. Sondern es geht, indem ich mich auf ein Spiel einlasse, das Spiel des Lebens sozusagen. Ich spiele mit mir selbst – oft müssen wir auch zwischen uns und uns selbst verhandeln, wenn es darum geht, dem eigenen Begehren zu folgen, zum Beispiel bei der Frage: worauf bin ich bereit zu verzichten, um etwas anderes machen zu können? Bin ich bereit, auf Geld und Karriere zu verzichten? Was bin ich bereit, zu geben im Tausch wofür? – Dieses Spiel, bei dem es um Austausch und Verhandeln geht (ganz wie bei einem Kartenspiel), spiele ich zusammen mit mir, mit der Welt, mit anderen Menschen, ja sogar mit Gott. Wenn ich mich auf diese Verhandlungen einlasse, wenn ich mich dabei selbst aufs Spiel setze (wenn ich nämlich das Risiko eingehe, mich selber in diesem Prozess zu verändern), dann kann Neues entstehen, dann kann mein Begehren befriedigt werden. Ich kann das nicht planen und kontrollieren oder gar herbeizwingen. Aber ich kann die Wahrscheinlichkeiten erhöhen. Da es immer darum geht, mit anderen zu verhandeln, muss ich diesen Verhandlungsspielraum möglichst erweitern.

Es geht hier nicht um hochdramatische Dinge, um Wunder gar, sondern um ganz alltägliche Dinge. In dem Moment, wo eine Frau etwas tut, was bisher noch keine getan hat, ist etwas möglich geworden. Sie hat es, indem sie ihrem Begehren folgte, möglich gemacht, auch für andere. Sie hat sozusagen den Verhandlungsspielraum für alle erweitert. Solche Situationen kennen wir ganz alltäglich: Die ältere Schwester, die den Eltern die Teilnahme an einer Freizeit abtrotzt, hat dieselben Verhandlungen für ihre jüngere Schwester erleichtert. Ob etwas möglich ist oder nicht, das hängt nicht von den äußeren Umständen ab, sondern davon, ob wir es begehren und deshalb nach Wegen suchen, es zu tun – und es dann tun. Ein schönes Beispiel dafür ist für mich die erste deutsche Ärztin, Dorothea Erxleben. Sie hat im 18. Jahrhundert durchgesetzt, dass sie an einer Universität das medizinische Examen machen konnte. Das ist ihr nur gelungen, weil sie unbedingt als Ärztin arbeiten wollte und das nur mit Examen tun konnte. Ohne dieses Begehren hätte sie niemals die Leidenschaft, die Ausdauer, die Geduld aufgebracht, so etwas durchzusetzen, das damals als absolut unmöglich galt. Und so war es plötzlich möglich, dass Frauen in Deutschland ein medizinisches Examen machen.

Krass gesagt: Wenn eine Frau etwas nicht macht, dann liegt das nicht in erster Linie anden äußeren Umständen, sondern ihr Begehren war nicht groß genug. Eine Frau, die vor fünfzig Jahren Abgeordnete im Parlament wurde, hatte sicherlich ein großes Begehren, genau das zu tun. Heute dagegen kann es schon mal vorkommen, dass Frauen Abgeordnete werden, obwohl sie eigentlich was ganz anderes wollen, einfach, weil sie sich verpflichtet fühlen. Es ist kein prinzipieller Unterschied, ob eine Frau Hausfrau wird, weil sie meint, das sei die Frauenrolle, oder ob sie Abgeordnete wird, weil sie meint, das müsse sie im Dienste der Frauenbewegung tun. Besser sollte sie ihrem Begehren folgen, das würde der weiblichen Freiheit mehr nützen.

Übrigens, um ein verbreitete Missverständnis aufzugreifen, das ich in diesem Zusammenhang immer wieder höre: Dass etwas möglich ist, heißt nicht, dass es einfach ist. Nur weil es möglich ist, dass Menschen fünf Meter weit springen, kann ich das noch lange nicht. Aber überall dort, wo mein Begehren mich hinzieht, kann ich an die Grenzen des Möglichen kommen und, wie gesagt, sogar darüber hinaus.

Immer wenn eine einen neuen Anfang macht und so »die Welt zur Welt bringt«, wie die Italienerinnen eines ihrer Bücher überschrieben haben, hat sie die Möglichkeiten dessen, was eine Frau tun kann, erweitert und damit weibliche Freiheit vorangetrieben. Und das hat Einfluss auf die Welt – deshalb haben wir unsere Flugschrift mit dem Satz begonnen: Die Liebe der Frauen zur Freiheit hat die Welt verändert. Die Möglichkeiten erweitern, das geschieht nicht dadurch, dass wir Gesetze ändern, bessere Rahmenbedingungen schaffen usw., sondern dadurch, dass wir anfangen, etwas zu tun, etwas Neues.

Im weiblichen Begehren schlummert aber auch eine Gefahr , die des weiblichen Größenwahns nämlich: Wir laufen, wenn wir unserem Begehren folgen, in der Tat Gefahr, dass man uns für verrückt hält, und dass wir scheitern – eine Erfahrung, die viele Frauen ja tatsächlich gemacht haben und machen. Das weibliche Begehren wurde schon immer für verrückt, für wahnsinnig gehalten. Wenn es keinen angemessenen Platz in der Welt findet, dann besteht die Gefahr, dass Frauen sich in Phantasiewelten verstricken und dabei von dem absehen, was sie in der Welt erreichen können. Frauen können auch – und werden es häufig – depressiv werden, weil sie entmutigt sind, und weil sie für ihr Begehren keine Antwort finden in der Welt, weil es nicht klappt. Etwas hilft es schon weiter, wenn man das Prinzip besser versteht und sich zumindest selbst nicht für verrückt hält. Aber trotzdem stimmt es: Es ist immer auch ein Risiko dabei, dem eigenen Begehren zu folgen.

Dass das weibliche Begehren so stark ist, ist also durchaus auch nur die eine Seite der Medaille, und es braucht dringend das Gegenstück dazu, nämlich weibliche Autorität. So wie die kleine Tochter, die etwas begehrt, die Autorität der Mutter braucht, die ihr die Realität vermittelt, die sie auf ihrem Weg unterstützt. So brauchen wir, wenn wir unserm Begehren folgen, weibliche Autorität, an der wir uns orientieren können. Wir brauchen für unsere großen Wünsche eine, die die Erfahrung der Niederlage bereits gemacht hat, und die deshalb vermitteln, und an die Hand nehmen kann. Ohne Autorität ist das weibliche Begehren manisch-depressiv, größenwahnsinnig und in der Tat verrückt. Aber ich will jetzt nicht noch einen Vortrag über Autorität dranhängen.

Ich möchte es für diesmal mit der einen Seite der Medaille enden lassen – und frage mich gerade, warum es mir bei meinen Vorträgen über Autorität noch nie so schwer gefallen ist, auf die Schilderung der anderen Seite der Medaille, nämlich das Begehren, zu verzichten. Vielleicht ist es der Respekt vor der großen Kraft des weiblichen Begehrens.

Vortrag im Kulturcafé Groß-Gerau, 14.11.2001