Die Lust der Frauen, Politik zu machen
90 Jahre Frauenwahlrecht in Deutschland
Die Einführung des Frauenwahlrechts vor neunzig Jahren – oder eigentlich vor 91 Jahren, 1908 – war ein wichtiger Meilenstein für die deutsche Politik. Aber natürlich erschöpft sich die Politik der Frauen nicht darin, wählen zu gehen. Wenn wir Politik mit Hannah Arendt verstehen als den Ort, an dem Menschen über die Regeln ihres Zusammenlebens miteinander verhandeln, dann haben Frauen schon immer Politik gemacht. Nur dass die Art der Weise, in der Frauen sich für das gute Leben engagiert haben, nicht immer »kompatibel« war mit den Regeln, die eine patriarchale Kultur für die Politik erfunden hat.
Heute ist das nicht mehr so offensichtlich wie früher, als Frauen nicht wählen durften. Denn haben wir es nicht geschafft? Angela Merkel ist Bundeskanzlerin, die Hausfrauenehe ist abgeschafft, und der Feminismus ist endlich da angekommen, wo er nach Ansicht von Alice Schwarzer hingehört: In der »Mitte der Gesellschaft.«
Die bevorstehenden Kommunalwahlen sind ein guter Anlass, wieder einmal darüber nachzudenken, welche Rolle die Frauen für das Politische spielen. Mancherorts ist nämlich eine gewisse Unlust von Frauen an der Politik zu beobachten – vor allem Kommunale Parlamente sind in der Regel männerdominiert, und es liegt häufig daran, so wird zumindest gesagt, dass es keine Frauen gäbe, die zur Kandidatur bereit seien (zu dem Thema gibt es eine neue Studie, die Marit Rullmann kürzlich auf der Seite bzw-weiterdenken.de vorgestellt hat).
Ich möchte heute etwas auf die historischen und ideengeschichtlichen Hintergründe dieser Situation eingehen: Wie ist es dazu gekommen, dass Frauen zunächst einmal aus der Politik ausgeschlossen wurden und jetzt in sie integriert werden sollen?
Wir hatten 2008 ja sogar ein Doppeljubiläum. Es war nämlich auch genau 100 Jahre her, dass in Deutschland 1908 das Verbot für Frauen aufgehoben wurde, sich politisch zu betätigen. Ich meine, dass Frauen nicht wählen durften, ist das eine. Aber warum glaubte man, ihnen jede politische Äußerungen verbieten zu müssen? Was war an den Reden, den Zeitungsartikeln, den Ideen der Frauen so gefährlich, dass man verhindern musste, dass sie in Umlauf kamen? Und: Sind die Ideen der Frauen heute immer noch dissident, oder sind wir inzwischen so zahm geworden, dass unser Politik machen für die bestehenden Verhältnisse gar nicht mehr gefährlich ist?
Um zu verstehen, welche Bedeutung das Wahlrecht hat, müssen wir erst einmal verstehen, wieso es überhaupt dazu kam, dass Frauen keines hatten. Es gibt sozusagen eine alte »Antipathie« zwischen der Welt der »offiziellen«, männlich geprägten Politik, die sich – siehe schwierige Kandidatinnensuche – bis heute bemerkbar macht und die durchaus gegenseitig ist. Und ich glaube, dass es wichtig ist, sie zu verstehen, wenn es uns bei der Politik der Frauen um mehr geht als um eine bloße Anpassung an historisch männliche Werte und Normen.
Deshalb möchte ich fragen: Wie und warum wurden Frauen überhaupt aus der Politik ausgeschlossen? Mit welchen Argumenten kämpften sie für das Wahlrecht – oder auch nicht? In einem zweiten Teil möchte ich dann die Gegenwart betrachten: Was hat das Wahlrecht uns gebracht? Und welche Aufgaben liegen jetzt an?
Feminismus, wenn ich mal eine Definition wagen darf, bedeutet das Eintreten für die weibliche Freiheit, gegen die Unterordnung des Weiblichen unter das Männliche, für eine Politik der Frauen, die auf dem individuellen Begehren der jeweiligen Frauen gründet. Feminismus bedeutet also die Arbeit daran, dass Frauen als denkende und handelnde Persönlichkeiten Verantwortung für die Welt übernehmen.
Aber dabei sieht sich die Feministin – jedenfalls hier im Westen – unweigerlich einer paradoxen Situation gegenüber, und zwar der, dass bei uns das freie Subjekt, also die denkende, handelnde und Verantwortung tragende Person, sich von Beginn an als Nicht-Frau definiert hat, als Mann nämlich.
Die Frauen wurden aus der Politik nämlich exakt in dem Moment ausgeschlossen, als die Männer für sich die Gleichheit proklamierten. Die demokratische Idee, dass alle Menschen (und gemeint waren damit eben: alle Männer) gleich sind – und also zum Beispiel bei Wahlen jeder eine Stimme haben – ist ja keineswegs naturgegeben. Sie entstand erst vor gerade mal 250 Jahren und wurde mit der französischen Revolution 1789 erstmals in die Realität umgesetzt. Vorher gab es die Idee der Gleichheit im Bereich des Politischen nicht. Und entsprechend gab es auch keine strikte Trennung zwischen den Geschlechtern im Bereich des Politischen. Frauen und Männer waren unterschiedlich einflussreich bei der Gestaltung der Welt, je nachdem ob sie Königinnen oder Knechte, reiche Händler oder arme Mägde, Äbtissinnen großer Klöster oder kleine Handwerkerinnen waren. Sicher hatten Männer im Durchschnitt mehr Einfluss als Frauen, aber das Frausein oder Mannsein war nur einer von vielen Faktoren, die dabei eine Rolle spielten.
Doch je gleicher die Männer sich wurden, umso ungleicher wurden sozusagen die Frauen. Dieser Mechanismus lässt sich besonders schön am Beispiel der USA zeigen: Bis 1869 hatte dort nämlich im Gesetzestext einfach nur gestanden, dass alle Bürger, »citizens«, das Wahlrecht hätten. Schwarze Männer und Frauen jeglicher Hautfarbe durften aber dennoch nicht wählen, auch wenn sie »citizens« waren, also in den USA geboren, volljährig und steuerpflichtig. Lange kämpften beide gemeinsam für das allgemeine Wahlrecht. Nach dem Bürgerkrieg und der Abschaffung der Sklaverei 1869 wurde dann das Wahlrecht auch für schwarze Männer eingeführt – und der Begriff Bürger wurde nun im Gesetzestext um zwei erläuternde Zusätze ergänzt: »unabhängig von der Hautfarbe«, hieß es von nun an, dürften alle männlichen Bürger wählen. Frauen wurden also vom Wahlrecht genau in dem Moment explizit ausgeschlossen, als die schwarzen Männer explizit eingeschlossen wurden. Das ist ein interessanter Hintergrund für den Subtext, der bei der Konkurrenz zwischen Barack Obama und Hillary Clinton unausgesprochen eine Rolle spielte.
Die Männer definierten sich als demokratische Wesen also explizit darüber, dass sie keine Frauen waren. Und das ist wichtig, weil dies zu einer dualistischen Geschlechterordnung führte, bei der nicht nur Stereotypen von Weiblichkeit erfunden wurden, sondern auch Stereotypen von Männlichkeit.
Frauen kritisierten natürlich von Anfang an ihren Ausschluss aus der Politik, aber, und das finde ich wichtig, weil es später oft vergessen wurde, niemals nur aus reinen Gerechtigkeitsgründen. Es ging ihnen nicht etwa darum, zu sagen: Wie gemein, dass die Männer wählen dürfen und wir nicht, wir wollen das auch! Sondern sie forderten das Frauenwahlrecht immer im Hinblick auf die Gesellschaft insgesamt. Sie sahen nämlich schon früh, dass es nicht gut für die Gesellschaft ist, wenn sie sich in zwei Teile aufteilt, einen öffentlichen, in dem Männer als Gleiche sich gegenübertreten, und einen privaten, in dem die Frauen sich um den ganzen Rest kümmern, die Kinder, die Kranken, das Essen und überhaupt das Soziale.
Diejenigen, die die Sphäre des Politischen als etwas definierten, wo unabhängige freie Menschen (also Männer) einander »auf Augenhöhe« begegnen, wussten nämlich ganz genau, dass das nur möglich ist, wenn es auch andere gibt, die sich um die Bereiche kümmern, in denen diese Gleichheit nicht gegeben ist. Die Gleichheit der Menschen ist ja immer nur künstlich, sie existiert gewissermaßen nur in der Theorie. In der Realität hingegen haben wir es immer mit Ungleichheit zu tun. Und für diesen Bereich bzw. diesen Aspekt der Ungleichheit in den menschlichen Beziehungen wurden die Frauen zuständig erklärt.
Zu diesem Zeitpunkt, also am Ende des 18. Jahrhunderts, ist noch überhaupt nicht die Rede davon, dass Frauen aufgrund eines ominösen weiblichen Wesens für die Politik nicht geeignet seien. Es ist noch eine ganz pragmatische Aufgabenteilung nach dem Motto: Wenn die Frauen Politik machen, wer wäscht dann unsere Wäsche, wer erzieht die Kinder und kümmert sich um die Alten und Kranken? Eine Frage, die ja auch heute wieder offen ist, derzeit sind es ja die Frauen aus anderen Ländern, die hier in die Bresche springen.
Die Idee vom weiblichen Wesen, das angeblich dem Konkurrenzkampf nicht gewachsen ist, die entstand erst viel später, nämlich als Reaktion auf die weiblichen Proteste gegen diesen Ausschluss. Es war sozusagen eine nachträgliche Rechtfertigung für eine sehr offensichtliche Ungerechtigkeit. Das Lob auf die Mütterlichkeit, auf weibliche Tugenden und so weiter war sozusagen als Trostpflaster gedacht, und dagegen hat ja der Feminismus zu Recht und auch erfolgreich protestiert. Unberücksichtigt geblieben ist dabei aber die Tatsache, dass auch die andere Seite der Medaille, die Konstruktion von Männlichkeit als Gegenmodell dazu, kritisiert und hinterfragt werden muss.
Wohin eine Kultur führt, die sich als Ansammlung von beziehungslos Gleichen definiert, hat bereits im Jahr 1788, also ein Jahr vor der Französischen Revolution, die französische Schriftstellerin Olympe de Gouges kritisiert. In einem Aufsatz beschreibt sie mit Sorge eine gewisse Haltung, die sich unter den Wissenschaftlern, Handwerkern und Politikern ihrer Zeit breit machte. Im Zuge der beginnenden Industrialisierung, so de Gouges Kritik, würden sie zunehmend eigennützige Ambitionen verfolgen, ohne deren Auswirkungen auf die Gesellschaft allgemein zu berücksichtigen. Vor lauter Profitstreben würden sie ihren eigenen Platz innerhalb der menschlichen Gemeinschaft nicht mehr verstehen. (kommt uns das irgendwie bekannt vor?)
De Gouges endet mit den Worten: »Wenn ich in dieses Thema noch weiter verfolge, würde ich zu weit gehen und die Feindschaft der Neureichen auf mich ziehen, die, ohne über meine guten Ideen nachzudenken oder meine gute Absichten anzuerkennen mich ohne Mitleid verurteilen würden als eine Frau, die nur Paradoxes anzubieten hat und keine einfachen Lösungen für die Probleme.« Und dass wir nur Paradoxien anzubieten haben, keine einfachen Lösungen, das stimmt für kritische Feministinnen bis heute. Wir sind sowohl für wie auch gegen das neue Unterhaltsrecht, sowohl für als auch gegen Ganztagsschulen, für und gegen Karriereambitionen von Frauen, und so weiter, weil es nämlich innerhalb dieses dualistischen Denkens keine guten Lösungen gibt. Es bleibt immer irgendwie die Wahl zwischen Pest und Cholera, und nicht zufällig geht es bei so vielen politischen Debatten ja bloß um die Frage, welches Übel das kleinere ist. Und nicht, wie es in der Politik eigentlich sein sollte, darum, was wirklich gut und richtig wäre.
Olympe de Gouges war dann später, nach der Revolution, eine der schärfsten Kritikerinnen der Vermännlichung des Politischen, sie schrieb unter anderem eine Erklärung der Rechte der Frau und wurde dafür auf der Guillotine hingerichtet.
Die Argumente, die Frauen in ihrem langen, fast 150 Jahre dauernden Kampf für das allgemeine Wahlrecht vorbrachten, waren dann höchst unterschiedlich. In der Revolutionszeit von 1848 zum Beispiel stellte sich die Pariser Sozialistin Jeanne Deroin als Kandidatin für die Parlamentswahlen auf. Sie begründete die Notwendigkeit des Frauenwahlrechts so: »Gerade deshalb, weil die Frau dem Mann zwar gleich ist, aber doch nicht mit ihm identisch, sollte sie sich an der Arbeit für soziale Reformen beteiligen und darin die notwendigen Elemente verkörpern, die dem Mann fehlen, damit das Werk vollständig sein kann.« Sie argumentierte also nicht mit der Gleichheit, sondern mit der Unterschiedlichkeit, die sexuelle Differenz muss, so ihre Forderung – wie alle anderen Unterschiede zwischen Menschen – in die politische Sphäre Eingang finden. Das Wahlrecht für Frauen ist ihrer Ansicht nach nicht aus Gründen der Gerechtigkeit notwendig, sondern weil ansonsten der Gesellschaft wichtige Kompetenzen verloren gehen, die nur die Frauen einbringen können.
Nicht alle Frauen forderten aber im Übrigen das Wahlrecht. Es gibt ja einen alten Konflikt innerhalb der Frauenbewegung, der heute wieder höchst aktuell ist: und zwar den Konflikt zwischen Sozialistinnen und bürgerlichen Frauenrechtlerinnen. Während die bürgerlichen Frauenrechtlerinnen das Wahlrecht für die wichtigste aller politischen Fragen hielten, interessierten sich die Sozialistinnen eher für die Arbeitsbedingungen, Frauenlöhne, die sozialen Lebensbedingungen der unteren Klassen. Sie warfen den bürgerlichen Frauen vor, diese wichtigen Aspekte zu vernachlässigen, wenn sie sich ganz und gar auf das Wahlrecht kaprizierten. Heute reproduziert sich dieser Konflikt angesichts der auseinanderdriftenden Schere zwischen Arm und Reich. Es gibt auch heute Interessensgegensätze zwischen emanzipierten Frauen aus privilegierten Schichten, die den Zugang zu männlichen Privilegien fordern, und den benachteiligten Frauen der ärmeren Bevölkerungsschichten, die ganz andere Probleme haben. Beim neuen Erziehungsgeld zum Beispiel wird ganz klar Geld umverteilt von den schlecht verdienenden Frauen und den Hartz IV Empfängerinnen hin zu den gut verdienenden Frauen, die einen Lohnersatz bekommen, wenn sie wegen der Kinder ihre Erwerbstätigkeit einschränken.
In der Geschichte der Frauenbewegung gibt es nur wenige Vorkämpferinnen, die aus der Unterschicht kommen, die meisten Frauenrechtlerinnen stammten aus gut situierten Mittelschichtfamilien – so ähnlich wie die Vertreterinnen es so genannten neuen Feminismus in Deutschland. Wir haben also oft ein sehr eingeschränktes Bild von der historischen Frauenbewegung, für die das Wahlrecht insgesamt gar nicht so ein wichtiges Thema war, wie es uns im Rückblick scheint.
Eine der wenigen Frauen aus der Unterschicht, deren Argumente wir kennen, war die Amerikanerin Victoria Woodhull. Sie ist auch deshalb interessant, weil sie 1872 die erste Frau war, die sich für das Amt der Präsidentin beworben hat. Auch für Victoria Woodhull stand das Wahlrecht nicht im Zentrum ihrer politischen Interessen. Sie interessierte sich vor allem für die Alltagsprobleme von Frauen, zum Beispiel für den schwierigen Zugang zu Verhütungsmitteln, sexuelle Gewalt gegen Frauen, für die schlechten Erwerbsmöglichkeiten gerade der Unterschichten. Das waren auch die Punkte, unter denen sie selbst viel mehr gelitten hat, als darunter, dass sie nicht wählen durfte. Auch die meisten Männer der Unterschicht gingen ja nicht wählen, obwohl sie es gedurft hätten. Sie war auch, wie viele Frauen ihrer Klasse, skeptisch gegenüber den Versprechungen der Frauenrechtlerinnen, dass sich, wenn Frauen erst einmal das Wahlrecht hätten, die sozialen Probleme quasi von selbst lösen würden.
Aber Victoria Woodhull war klug genug zu sehen, dass sie, wenn sie sich auf der politischen Bühne Gehör verschaffen wollte, unbedingt etwas zum Thema Wahlrecht sagen musste. Interessant ist nun, dass sie einen sehr unkonventionellen Zugang zu dem Thema fand. Sie war nämlich nicht, wie die Mehrheit der bürgerlichen Frauenrechtlerinnen, der Ansicht, dass es eine Änderung des Wahlgesetzes geben muss, die den Frauen das Wahlrecht zugesteht. Im Hinblick auf die Geschichte des Ausschlusses der Frauen, von der ich vorhin berichtet habe, vertrat sie im Gegenteil die Ansicht, dass Frauen das Wahlrecht schon längst hätten, es aber bisher einfach nicht ausgeübt hätten.
Sie beschloss, diese Einsicht auch gleich in die Praxis umzusetzen, und ließ im April 1870 im Herald (das war eine der wichtigsten New Yorker Zeitungen) folgende Annonce drucken, in der sie sich indirekt von den Strategien der bürgerlichen Frauenrechtlerinnen distanziert: »Während andere meines Geschlechts einen Kreuzzug gegen Gesetze führen, die die Frauen des Landes einschränken, habe ich meine persönliche Unabhängigkeit behauptet. Während andere für bessere Zeiten beteten, tat ich etwas dafür. Während andere für die Gleichheit von Frauen mit den Männern argumentierten, habe ich sie unter Beweis gestellt, indem ich eine erfolgreiche Geschäftsfrau wurde. Während andere zu zeigen versuchen, dass es keinen vernünftigen Grund gibt, warum Frauen als dem Mann untergeordnet behandelt werden sollten, habe ich unerschrocken die Arena der Politik und der Wirtschaft betreten und die Rechte ausgeübt, die ich bereits besaß. Deshalb beanspruche ich für mich das Recht, für die vom Wahlrecht ausgeschlossenen Frauen des Landes zu sprechen und kündige hiermit meine Kandidatur für die Präsidentschaft an.«
Sie war also nicht der Meinung, dass Frauen das Wahlrecht schon haben müssen, um für Veränderungen einzutreten, sondern dass es andersrum ist: Wenn Frauen erst einmal selbstbewusst sind und sich als politisch verantwortliche Wesen verstehen, wenn sie sich aktiv einmischen, dann wird das Wahlrecht automatisch irgendwann kommen.
Im Übrigen waren aber keineswegs alle Frauen der Ansicht, dass das Wahlrecht überhaupt eine erstrebenswerte Angelegenheit sei. Die Anarchistin Louise Michel zum Beispiel hielt das Wahlrecht nicht nur für eine vergleichsweise nebensächliche Forderung im Vergleich zu den schwierigen sozialen Fragen von Armut, Bildung, sexueller Selbstbestimmung, sondern sie hielt diese Forderung der Frauenrechtlerinnen sogar für falsch. In den 1880er Jahren schrieb sie an die Adresse der Männer: »Was wir wollen, ist Wissen und Freiheit. Eure Privilegien? Die Zeit ist nicht mehr weit, wo Ihr sie uns anbieten werdet, um durch diese Teilung zu versuchen, ihnen wieder Glanz zu verleihen. Behaltet diese Lumpen, wir wollen sie nicht.« Es gab also von Anfang an auch eine Skepsis gegen den Trend, Frauen an männlichen Privilegien teilhaben zu lassen, ohne die Gesellschaft insgesamt zu verändern. Auch dieser Aspekt ist keineswegs historisch, sondern beschäftigt uns bis heute.
An Louise Michel musste ich denken, als ich kürzlich las, dass irgendein Bankmanager angesichts der Finanzkrise forderte, mehr Frauen in die Vorstände und Aufsichtsräte großer Konzerne zu holen. Ist das nicht genau das, was sich die Männer von der Integration der Frauen versprechen: frischer Glanz für ein falsches, eigentlich bereits dem Untergang geweihtes System? Es passt ja dazu, dass Frauen neuerdings als leistungsfähige und gut qualifizierte Fachkräfte in den Unternehmen gefragt sind, damit die deutsche Wirtschaft auf dem globalisierten Märkten konkurrenzfähig bleiben kann.
1918 wurde dann in Deutschland, 1920 in den USA und mit etwas Verspätung 1944 auch in Frankreich das allgemeine Wahlrecht auch für Frauen eingeführt wurde. Und es zeigte sich schon bald, dass das Problem der weiblichen Unterordnung unter das Männliche damit in der Tat keineswegs gelöst war. Simone de Beauvoir, deren 100. Geburtstag in diesem Jahr war, und deren Buch »Das andere Geschlecht« eine direkte Erwiderung auf die Einführung des Wahlrechtes ist, hat das al erste nachgewiesen. Sie zeigt anhand von unzähligen Beispielen, dass aufgrund von Erziehung, sozialer Ungleichheit und einer sich durch alle gesellschaftlichen Bereiche hindurch ziehende Benachteiligung der Frauen, es ihnen unmöglich ist, sich allein mithilfe des Wahlrechts Gehör zu verschaffen.
Mit dieser Einsicht ist Beauvoir zur Stichwortgeberin einer neuen feministischen Epoche geworden, nämlich der Epoche der Gleichstellung der Frauen mit den Männern und ihrer vollen Integration in das öffentliche Leben. Beauvoirs Gedanken wurden zwar nicht gleich, aber später in der Frauenbewegung der 70er und 80er Jahre aufgegriffen und umgesetzt. Der Gleichberechtigung folgte die Gleichstellung. Beauvoirs Lösungsvorschlag war ja gewesen, dass Frauen sich von allen als weiblich definierten Rollenzuschreibungen lösen sollten, dass sie berufstätig sein sollten, dass sie die männlichen Domänen für sich erobern sollten. Ihre Kritik richtete sich vor allem gegen eine Mädchenerziehung, die den Fokus auf das Hausfrau- und Muttersein legte. Und wir wissen alle, wie erfolgreich diese Politik gewesen ist. Heute ist das Bekenntnis zur Gleichstellung der Frauen mit den Männern nicht mehr das Anliegen nur von Feministinnen, sondern offizielle Regierungspolitik in allen europäischen Ländern und in den USA. Wir haben aktive Frauenförderung, Gleichstellungsprogramme, Gender Mainstreaming und andere Instrumente gesetzlich verankert. Natürlich wissen wir auch, dass diese Gleichstellung faktisch noch nicht überall erreicht ist, aber dass sie gewollt ist, wird heute nicht mehr bestritten.
Und wieder ist das feministische Paradies nicht ausgebrochen! Warum eigentlich nicht? Weil es in der Gleichstellung noch nicht hundertprozentig klappt? Sicherlich gibt es immer noch Benachteiligungen, aber ich glaube nicht, dass sie der wesentliche Kern dessen sind, was heute weibliche Freiheit behindert. Sondern das wesentliche Problem ist das Fehlen weiblicher Autorität, oder anders gesagt, Tatsache, dass die Integration von Frauen in eine ehedem männliches System nichts an der grundsätzlichen Unterordnung des Weiblichen unter das Männliche geändert hat: All die Fördergesetze, die Ermutigungskurse für erziehungswillige Väter oder die Wie-werde-ich-Topmanagerin-Ratgeber für Frauen sind nur Flickwerk, solange wir uns nicht noch einmal der grundsätzlichen Frage zuwenden, die nicht nur Simone de Beauvoir, sondern auch die ganzen Feministinnen, die für das Wahlrecht gekämpft hatten, beschäftigt hat: Was ist Freiheit? Wie wollen wir leben? Wie gestalten wir unsere Beziehungen? Was ist der Sinn unseres Lebens? Wie wollen wir arbeiten und in der Welt tätig sein? Welche Bedeutung geben wir der Geschlechterdifferenz?
Während früher ein Geschlechterdualismus propagiert wurde, der eine feste Grenze zwischen Weiblich und Männlich zog, kursiert heute das Versprechen, dass Frausein und Mannsein nichts mehr bedeuten soll. Aber was heißt das, es bedeutet nichts?
Die italienische Philosophin Carla Lonzi schrieb bereits 1974 einen Satz, den ich im Rückblick für prophetisch halte: »Die Gleichheit der Geschlechter ist heute das Gewand, mit dem sich die Unterordnung der Frau tarnt.«
Die Gleichheit ist nämlich längst zum Argument derer geworden, die weibliche Autorität zurückweisen. Zum Beispiel ist es immer noch so, dass unbezahlte Haus- und Fürsorgearbeiten zu cirka 90 Prozent von Frauen gemacht werden. Bloß dass sie heute, in emanzipierten und gleichgestellten Zeiten, sich bitte nicht mehr darüber beschweren dürfen, wenn ihnen daraus Nachteile erwachsen. In der Logik der Gleichheit sind nämlich die Frauen selbst daran schuld sind, wenn sie zum Beispiel beruflich ins Hintertreffen geraten, weil sie wegen der Kinder einige Jahre Teilzeit gearbeitet haben. Sie hätten ja nicht gemusst. Es zwingt sie ja niemand dazu. Die Abwesenheit von Diskriminierung kann also durchaus ein Problem für die weibliche Freiheit sein, denn in einem geschlechtsneutralen Diskursrahmen gibt es keine Möglichkeit mehr, die eigene Differenz in Worte zu fassen.
Es gibt einen schönen Comic von Pat Carra, der das gut auf den Punkt bringt: zwei Frauen sitzen auf einem Sofa, sagt die eine zur anderen: Frauen und Männer sind gleich. Fragt die anderen zurück: gleich den Männern oder gleich den Frauen?
Wenn Frauen nicht dasselbe machen wie Männer, dann müssen sie eben mit den Konsequenzen leben. In ihrem Handeln ein politisches Urteil zu sehen, das über die Logik der bereits vorgefundenen und historisch männlichen Ordnung hinausführt, kommt uns gar nicht in den Sinn. Insofern hat sich seit den Zeiten der französischen Revolution nicht allzu viel geändert. Noch immer gilt: frei sein und politisch relevant können nur Menschen, die den Männern gleich sind. Auch wenn sie heute manchmal einen Rock tragen.
Vielleicht stehen wir jetzt vor einer ähnlichen Aufgabe, wie Simone de Beauvoir vor 60 Jahren: Nämlich uns klar zu machen, dass auch dieses Erreichte, das uns bisher so wichtig war und die Lösung aller Probleme zu versprechen schien, ebenfalls nicht das feministische Paradies bringt. Auch die Emanzipation hat an der prinzipiellen Unterordnung des Weiblichen unter das Männliche, das für die westlichen Demokratien konstitutiv ist, nichts Wesentliches geändert hat. Simone de Beauvoir hat gesehen, dass Feminismus mehr sein muss als das Wahlrecht. Wir sehen heute, dass Feminismus auch mehr sein muss als die Gleichstellung der Frauen mit den Männern. Wie können wir eine Welt schaffen, in der die männliche Vorstellung des autonomen, eigenverantwortlichen Menschen, der nicht auf die Fürsorge anderer angewiesen ist und auch keine Zeit dafür aufwendet, für andere zu sorgen, nicht mehr das Maß aller Dinge ist?
Kürzlich war ich bei einer Podiumsdiskussion, an der auch eine 18 Jahre alte Schülervertreterin teilnahm. Was sie sich wünschte, formulierte sie ganz deutlich: Sie wollte viele Kinder haben und sich nicht nur »nebenbei« mit ihnen beschäftigen, sondern Zeit für sie haben. Sie wollte ihr Privatleben und also das soziale Leben nicht ganz und gar den Erfordernissen der Wirtschaft unterordnen. Sie erzählte von vielen anderen jungen Frauen ihres Alters, die sich wünschen, soziale Berufe zu ergreifen. Sie wünscht sich eine Welt, in der sie sich zugehörig fühlen kann, in eine Gemeinschaft der gegenseitigen Sorge eingebunden ist, sie wünscht sich ein persönliches Leben, das sie glücklich macht.
So, wie die Welt heute ist, wird sie sich diese Wünsche wohl abschminken müssen, oder? Soziale Berufe, wenn wir das schon hören! Und dann auch noch: viele Kinder! Der direkte Weg in Hartz IV – höchstens eins oder zwei, müssen wir ihr raten, oder?
Tatsächlich wiederholten die älteren Podiumsteilnehmerinnen das, was derzeit der Stand gleichstellungspolitischer Argumentation ist: Dass es das Wichtigste ist, dass die jungen Frauen einen Beruf lernen, dass sie genug Geld verdienen, dass sie finanziell unabhängig sind. Erst wenn das sozusagen geregelt ist, dürfen sie weitergehende Wünsche nach Zugehörigkeit, sozialem Engagement, Zeit mit Kindern verwirklichen. Vor allem das Stichwort Unabhängigkeit fiel dabei ständig. Frauen müssen unabhängig sein, sie müssen für sich selbst sorgen.
Ich warf dann die Frage in die Diskussion, ob dieses Ideal der »Unabhängigkeit« nicht einfach das alte männliche Denken ist, wonach freie Menschen autonom und unabhängig sind, auf niemandes Hilfe angewiesen und niemandem verpflichtet? (Sie erinnern sich, damals bei der Französischen Revolution).
Worauf hin die Erwiderung kam, ja, das sei ja alles richtig, aber die Welt sei nun einmal momentan so organisiert, dass eine Frau, wenn sie nicht in Abhängigkeit und Benachteiligung geraten will, sich eben vernünftig verhalten muss. Sie darf nicht einfach ihren spontanen Wünschen nach Kindern und sozialem Engagement nachgeben, sondern sie muss an ihre Unabhängigkeit denken und Geld verdienen.
Diese Argumentation der älteren Frauen gegenüber den Wünschen der Jüngeren hat mich an die Konflikte zwischen Müttern und Töchtern erinnert, die Jane Austen in ihren Romanen schildert, die am Anfang des 19. Jahrhunderts spielen. Nur dass damals die Mütter den Töchtern gesagt haben: Das Wichtigste ist, dass du einen Mann heiratest, der dich versorgen kann. Die Welt sei nun einmal so. Frauen müssen »vernünftig« sein, erst einmal sehen, dass sie abgesichert sind – und danach erst können sie ihren romantischen Gefühlen nach Liebe, Kreativität, Politik und so weiter nachgehen. Damals wie heute rieten also die Mütter den Töchtern, vernünftig zu sein und sich in die Verhältnisse, wie sie nun einmal sind, zu fügen. Nur dass eben dieses vernünftig sein heute anders aussieht. Damals bedeutete es heiraten, heute, einen Männerberuf ergreifen.
Sicher haben die älteren Frauen recht, wenn sie den jungen Frauen sagen, dass sie vernünftig sein müssen. Frauen tragen Verantwortung sowohl für die Welt als auch für sich selbst, und deshalb ist es richtig, wenn wir die jungen Frauen auf die Fallstricke hinweisen, in denen sie sich verfangen, wenn sie blauäugig ihren Idealen von Familienleben und so weiter anhängen.
Aber ich finde, wir dürfen es damit nicht bewenden lassen, sondern wir sollten auch das Unbehagen ernst nehmen, das sich in den Wünschen der jungen Frauen nach Zeit für Kindern, nach gegenseitiger Fürsorge äußert. Ihre Skepsis gegenüber einer Welt, die nur auf individuelle Leistungsfähigkeit setzt, ist richtig, denn so eine Welt funktioniert nicht.
Und etwas unterscheidet uns doch heute von den Müttern bei Jane Austen: Wir sind nicht mehr ins private eingesperrt, wir haben Ämter und Einfluss. Nutzen wir sie, um die Welt so zu verändern, dass junge Frauen sich nicht mehr anpassen müssen, damit die Welt so ist, dass Frauen und Männer und Kinder und Alte und überhaupt alle Menschen mit Wohlbehagen in ihr leben können.
Nicht die »Nützlichkeit« der Frauen für die Gesellschaft ist das Ziel, sondern die freie Gestaltung der Welt nach den Wünschen und Vorstellungen der Frauen selbst. Und das ist, trotz aller Gleichstellung und Emanzipation, auch heute noch nicht in das allgemeine Denken hinein gekommen. Nachdem man die Gleichstellung für weitgehend abgeschlossen hält, werden Frauen wieder für verzichtbar gehalten. Zum Beispiel las ich kürzlich die Ankündigung für eine große Zukunftswerkstatt, und unter den ganzen vielen Referenzen war nur eine einzige Frau. Eine evangelische Akademie veranstaltetes sogar eine mehrtägige Tagung zum Thema Zukunft der Pflege, und auch hier war unter den Referenten keine einzige Frau. Wie kann man aber über die Zukunft der Pflege diskutieren, ohne auf die Erfahrungen der Frauen zu hören? Wenn man Frauen nur aus Gerechtigkeit gründen »zulässt«, dann haben sich zwar möglicherweise die Karrierechancen für die Frauen, die sich anpassen, verbessert. Aber das ist es nicht, was jemals Anliegen der Frauenbewegung war.
Wir sind noch lange nicht am Ziel, sondern erst auf dem Weg zu einer Welt, in der Weibliche nicht mehr als dem Männlichen untergeordnet gilt. Auf diesem Weg war das Wahlrecht eine ganz wichtige Etappe. Und auch die Gleichstellungspolitik ist eine oft nützliche und vielleicht auch notwendige Etappe auf diesem Weg.
Heute, nach der Gleichstellung, beginnt die Epoche, in der Frauen Verantwortung für die Welt übernehmen, ohne sich an männlichen Maßstäben zu orientieren. Schon wieder ist also der Feminismus nicht am Ende. Gerade wenn Frauen emanzipiert und gleichberechtigt sind, brauchen wir den Feminismus umso nötiger. Denn je mehr emanzipierte und einflussreiche Frauen wir haben, umso wichtiger ist es, was sie tun und welchen Sinn sie ihrem Frausein geben. Umso wichtiger ist, dass sie sich nicht anpassen und einem deformierten Stereotyp von Männlichkeit nacheifern.
Wir brauchen eine Kultur, die weibliche Freiheit ernst nimmt und schätzt, auch wenn sie etwas anderes will, als die Männer, oder auch die Mehrheit der Frauen. Eine Kultur, die auf Frauen hört, nicht weil sie durch Quoten oder Gleichstellungsgesetze dazu gezwungen ist, sondern aus echtem Interesse an dem, was Frauen zu sagen haben. Denn es ist heute immer noch so, wie Jeanne Deroin es 1848 formuliert hat: »Gerade deshalb, weil die Frau dem Mann zwar gleich ist, aber doch nicht mit ihm identisch, sollte sie sich an der Arbeit für soziale Reformen beteiligen und darin die notwendigen Elemente verkörpern, die dem Mann fehlen, damit das Werk vollständig sein kann.«
Diese Elemente liegen nicht in der Biologie der Frau gegründet, nicht in ihren Genen, und auch nicht bloß in ihrer Erziehung, sondern im Gegenteil: In der Freiheit der Frauen, in ihrem Personsein, in der Individualität jeder einzelnen Frau. Die weibliche Differenz ist im Bereich des Politischen deshalb letztlich nur ein Platzhalter für die Pluralität der Menschen schlechthin. Die Geschlechterdifferenz, die bis heute leider keinen Eingang in das Politische gefunden hat, steht daher ebenso für die vielfältigen anderen kulturellen Differenzen, die im Zuge einer globalisierten Welt ebenfalls politisch auf den Verhandlungstisch müssen. Die Frauen können hierbei Vorreiterinnen sein, denn nur, wenn wir kulturelle Differenzen als eine unabdingbare Ressource in den Diskussionen über ein gutes Leben für alle zu schätzen lernen, wird die Politik aufhören, ein Spezialrefugium für bestimmte privilegierte Menschentypen zu sein und wirklich zu dem werden, was sie in einer echten Demokratie sein sollte: ein Ort, an dem die vielen verschiedenen Menschen in aller ihrer Unterschiedlichkeit über die Regel verhandeln, nach denen sie gemeinsam leben wollen.
Vortrag am 12. November 2008in Nürnberg, veranstaltet von der Gleichstellungsstelle
und am 25. Mai 2009 in der VHS Aalen.