Antje Schrupp im Netz

Blicke in parallele Welten – Frauen und Aliens

Was wäre wenn?

Weibliche Zukunftsvisionen im Science Fiction-Roman

Verknickt sind sie, voller Kaffee- und Schokoladeflecken, die Seiten oft seltsam gewellt von den Sandkörnern, die sich an diversen Stränden dazwischen geklemmt haben. Science Fiction-Romane sind keine hohe Literatur, man studiert sie nicht am Schreibtisch, sondern liest sie mal eben so zwischendurch. Aber die Geschichten von fernen Planeten und unbekannten Zivilisationen stellen eine extrem spannende Frage: Was wäre wenn?

Die letzten drei Tage habe ich mich mit LOVs beschäftigt. LOVs sind winzig kleine intelligente Wesen, die sich unglaublich schnell entwickeln. Erfunden hat sie eine ehrgeizige Wissenschaftlerin, die das Projekt inzwischen aber für gefährlich hält. Denn was wäre, wenn die LOVs auf der Erde die Herrschaft übernähmen? Eine kleine Gruppe junger Rebellen hat aber entdeckt, dass man sich die kleinen Dinger sogar implantieren kann: Sie verstärken Gefühle, machen Gedanken klarer, verändern das Lebensgefühl. Was wäre, wenn man vor den LOVs gar keine Angst zu haben braucht?

Was wäre wenn? – das fragt nicht nur Linda Nagate in ihrem neuen Roman »Götterfunke«, es ist die Grundfrage des Science Fiction schlechthin: Was wäre wenn wir außerirdisches Leben träfen? Was wäre wenn man Roboter und Menschen nicht mehr auseinander halten könnte? Existenzielle Fragen, abgehandelt nicht in philosophischen Traktaten, sondern im Groschenroman. Abertausende Titel gibt es – doch leider sind die meisten davon ausgesprochen schlecht: »Primitive Geschichten, manchmal grotesk und oftmals umwerfend armselig in ihrer Phantasie«, so lautet das vernichtende Urteil der Literaturwissenschaftlerin und SF-Autorin Johanna Russ, vom kläglichen Frauenbild ganz zu schweigen. Kein Wunder, dass Science Fiction bei Frauen nicht sehr beliebt ist. Doch das Genre hat eine kleine, aber feine Tradition weiblicher Zukunftsvisionen zu bieten, die es lohnt, noch einmal genauer hinzuschauen.

Eine Pionierin auf dem Gebiet ist die Amerikanerin Ursula K. LeGuin. In ihrem 1968 erschienenen Roman Winterplanet beschreibt sie eine Welt, in der die Menschen kein Geschlecht haben, sondern nur einmal pro Monat einige Tage sexueller Potenz erleben. Dann werden sie entweder männlich oder weiblich, jedes Individuum kann also schon einmal Mann oder Frau, Vater oder Mutter gewesen sein – was für den Besucher von der Erde ziemlich irritierend ist. Ursula LeGuin betont, dass es ihr nicht darum geht, einen Idealzustand zu beschreiben, sondern um die »Aufhebung der gewohnten Denkweise, um Metaphern dessen, wofür unsere Sprache bislang noch die Worte fehlen.« Die androgyne Struktur ihres Winterplaneten hält sie deshalb auch keineswegs für eine ideale Gesellschaft: »Ich empfehle diese Sexualstruktur nicht, ich benutze sie nur, es ist ein Gedankenexperiment.«

Damit steht sie in einer langen weiblichen Tradition. Schon früh haben Frauen die Methode des »Gedankenexperimentes« genutzt, um ihre Ansichten in die jeweils zeitgenössischen Diskussionen einzubringen. Geschichten erfinden, so tun als ob – das erwies sich oft als überzeugender als vernünftige Argumente und Fakten. Die französische Schriftstellerin Christine de Pizan etwa schilderte 1405 in ihrem Buch von der Stadt der Frauen eine Gesellschaft von historischen Frauengestalten, deren Tugendhaftigkeit, Erfindergeist und Größe beispielhaft ist. Denn zu ihrer Zeit waren Pamphlete weit verbreitet, in denen verschiedene Autoren zu zeigen versuchten, dass Frauen weniger intelligent, weniger tugendhaft und überhaupt weniger wert seien als Männer. Pizans Buch war damals schon unter lesekundigen Frauen ein großer Erfolg und wird bis heute aufgelegt. Ein anderes Beispiel für die Kraft des Gedankenexperimentes ist Mary Shelleys Klassiker Frankenstein von 1818, der als erster SF-Roman überhaupt gilt: Die Geschichte von einem ehrgeizigen Wissenschaftler, der ein Monster erschafft, das dann außer Kontrolle gerät, ist eine grandiose Kritik am männlich-technokratischen Machbarkeitswahn, wurde immer wieder verfilmt und diente zahlreichen ähnlichen Romanen als Vorlage.

Noch interessanter als die Kritik an der männlichen Sicht der Welt ist jedoch die Suche nach Alternativen. Was wäre, wenn nicht die Männer, sondern die Frauen das Sagen hätten? Die amerikanische Frauenrechtlerin Charlotte Perkins Gilmans zum Beispiel erfand in ihrem 1918 erschienenen Buch Herland eine Frauengesellschaft, der durch eine Naturkatastrophe die Männer abhanden gekommen sind. Wie durch ein Wunder gelang es den Frauen, Töchter zu gebären, und seitdem organisierten sie ihre Welt ganz im Hinblick auf die Erziehung und das Wohlergehen des Nachwuches – was sich im Ergebnis ziemlich perfekt anhört. Allerdings wird »Frauenland« schließlich von drei Männern entdeckt, die im Flugzeug den Weg über die Berge schaffen. Ob die nicht alles durcheinander bringen? Die Gefährdung, das wissen gute SF-Autorinnen, ist immanenter Bestandteil jeder Ordnung, selbst der besten. Und meistens kommt sie nicht aus den Tiefen des Universums, sondern von innen heraus. Die freie, anarchistische Gesellschaft auf Ursula LeGuins Planet der Habenichtse zum Beispiel wird nicht nur vom kapitalistischen Nachbarplaneten bedroht, sondern auch von der Sturheit, mit der viele Leute an alten Gewohnheiten festhalten. Und die schöne, freiheitliche Zukunftswelt, die Marge Piercy 1976 in ihrem Buch Die Frau am Abgrund der Zeit vorwegnimmt, hat den Haken, dass sie nur eine von mehreren Möglichkeiten ist und Hilfe aus der Vergangenheit braucht. Ihre Botschaft: Das Hier und Jetzt entscheidet darüber, wie die Zukunft einmal aussehen wird.

Die meisten SF-Autorinnen »experimentieren« in ihren Romanen mit Gesellschaften, die auf Traditionen und Konsens gründen, in der das Gemeinwohl im Mittelpunkt aller Entscheidungen steht. Keinen starken Staat wünschen sie sich herbei, sondern legen stattdessen großen Wert auf die Erziehung und Ausbildung der Kinder – ein Thema, das in männlicher SF-Literatur merkwürdig selten behandelt wird. Es sind Welten, in denen es keine Polizei, kaum Gesetze, dezentrale Entscheidungsstrukturen und eine hoch entwickelte Technik gibt, die nicht privatwirtschaftlichen Interessen dient, sondern dem gemeinsamen Nutzen. Überhaupt die Technik: Nur selten langweilen SF-Autorinnen ihre Leserinnen mit pseudowissenschaftlichen Erklärungen zu den physikalischen Hintergründen des Beamens, den technischen Schwierigkeiten des neuen Warp-Antriebes oder ähnlichen Finessen. Ihre technischen Visionen sollen neue soziale Möglichkeiten aufzeigen, Probleme sichtbar machen, die gegenwärtig noch verdeckt sind.

In jedem guten Science Fiction geht es nämlich letztlich nicht um die Frage, was technisch machbar ist, sondern um die Suche nach einem intelligenten Umgang mit »dem anderen«, wobei es völlig egal ist, ob dieses andere auf fernen Planeten haust oder mitten unter uns. Gleichgültig ob wir es mit grünen Männchen, intelligenten Computern, Frankensteins Monstern oder eben mit Menschen anderen Geschlechts zu tun haben: das Problem ist, dass wir, trotz aller Unterschiede und Kommunikationsprobleme, irgendwie miteinander klar kommen müssen. Und die Spannung – zumindest wenn es gute Geschichten sind – liegt gerade darin, dass bis zum letzten Moment offen bleibt, ob das gelingt. Wie in dem 1996 erschienenen Roman Sperling von Mary Doria Russell: Von einem nicht sehr entfernten Planeten wurden Signale mit wunderschöner Musik aufgefangen, die auf intelligentes Leben schließen lassen. Was wäre, so fragen sich prompt einige Menschen auf der Erde, was wäre, wenn wir dorthin fliegen und diese fremden Wesen kennen lernen würden?

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aus: Frauen unterwegs, September 2003.