Antje Schrupp im Netz

Methusalems Mütter:

Die demografische Entwicklung und die Freiheit der Frauen

Die demografische Entwicklung ist im vergangenen Jahr zunehmend in die öffentliche Debatte gekommen. Dabei herrscht allenthalben Katastrophenstimmung: Immer weniger Kinder werden angebliche geboren, die Gesellschaft »vergreist« und bald steht der Pflegenotstand vor der Tür.

Aufs Engste verknüpft ist diese Debatte mit der Frage nach dem Anteil der Frauen an dieser Entwicklung. Sind sie an der Misere Schuld, weil sie nur noch ihrer Karriere frönen und ihre weiblichen Tugenden vergessen haben? Oder ist die Gesellschaft Schuld, die die Vereinbarkeit von Beruf und Familie nicht gewährleistet und den Frauen das Kinderhaben unnötig erschwert? Brauen wir einen neuen Feminismus, damit unsere Gesellschaft Kinder- und Frauenfreundlicher wird? Oder müssen wir uns wieder auf alte weibliche Werte wie Mutterschaft und Fürsorge besinnen?

In diesem Vortrag möchte ich die aktuelle Demografiedebatte kritisch gegen den Strich bürsten und zeigen, dass die demografische Entwicklung für Deutschland zwar in der Tat eine Herausforderung darstellt, dass sie aber unterm Strich mehr Chancen als Gefahren birgt. Und dass es vor allem die Frauen sind, die diese Chancen in der Hand haben und nutzen können.

Dabei setze ich zwei Schwerpunkte. Im ersten Teil gehe ich auf die aktuellen Statistiken zur Geburtenrate ein. Ist es wirklich wahr, dass die Frauen immer weniger Kinder bekommen? Wie glaubwürdig und stichhaltig sind die Zahlen, mit denen hier operiert wird? Im zweiten Teil setze ich mich mit kulturellen Altersbildern auseinander. Ist es wirklich ein Problem, wenn der Altersdurchschnitt der Bevölkerung steigt? Oder liegen in einer älter werdenden Gesellschaft nicht auch Potenziale, die wir nutzen können?

Zunächst zum ersten Teil.

Der Verdacht, dass der Feminismus und die Frauenbewegung schlecht sind für die Geburtenrate hält sich hartnäckig. Er ist nämlich keineswegs neu. Schon im Jahr 1914 beschäftigte sich die Frauenrechtlerin Marie Bernays in einem bemerkenswert aktuellen Artikel mit der Frage: »Besteht ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Frauenbewegung und dem Geburtenrückgang?« Schon sie sah sich allerlei aufgeregten Analysten und Statistikern gegenüber, die das Aussterben der Deutschen prognostizierten, und den Frauen die Schuld daran gaben.

Rein zahlenmäßig gab es für solche Ängste damals weit mehr Anlass als heute: Zwischen 1900 und 1920 sank die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau ganz dramatisch – von fünf auf nur noch zwei. Auch damals war die Frauenbewegung der Sündenbock: Mit ihren Forderungen nach dem Frauenwahlrecht, der Zulassung von Studentinnen an den Universitäten und dem Zugang bürgerlicher Frauen zur Erwerbsarbeit schaufele sie der deutschen Hausfrau und Mutter das Grab, so der weit verbreitete Vorwurf.

Heute wissen wir, dass dieser Vorwurf unberechtigt ist. Feministinnen bekommen nämlich keineswegs weniger Kinder als andere Frauen. Mehr noch: Dass es heute so etwas wie »Familienpolitik« überhaupt gibt, ist ja in aller erster Linie der Frauenbewegung zu verdanken. Die hat nämlich dafür gesorgt, dass die Schaffung einer »kinderfreundlichen« Gesellschaft zu einem allgemeinen politischen Anliegen geworden ist, und dass zumindest die gröbsten Ungerechtigkeiten in der wirtschaftlichen Benachteiligung von Müttern beseitigt wurden.

Zunächst einmal die Fakten: Dass Frauen in Deutschland »immer weniger Kinder« hätten, wie dauernd behauptet wird, ist schlichtweg falsch. Richtig ist, dass die Geburtenrate sinkt – also die Anzahl der Neugeborenen pro 1000 Bevölkerung. Aber das hat nichts mit weiblicher Gebärunlust zu tun, sondern liegt schlicht daran, dass die Menschen heute älter werden als früher und daher proportional immer weniger Frauen im gebärfähigen Alter sind. Die einzelnen Frauen haben im Durchschnitt immer noch genauso viele Kinder wie vor dreißig Jahren, nämlich ungefähr 1,6. (Die niedrigere statistische Fertilitätsrate von knapp 1,4 ist der Tatsache geschuldet, dass sich das Gebäralter der Frauen kontinuierlich nach hinten verschoben hat.)

Mitte der 1970er Jahre ist die statistische Kinderzahl pro Frau in der Tat ziemlich abrupt gesunken, und zwar von 2,5 auf ungefähr den Stand von heute. Dieser »Pillenknick« kam deshalb zustande, weil eine effektive Empfängnisverhütung nun nicht mehr nur den gebildeten und aufgeklärten Frauen möglich war – die haben schon immer ihre Kinderzahl kontrolliert – sondern allen. Verhütung war nun einfach und für alle zugänglich geworden. Was zur Folge hatte, dass Frauen gerade aus einfacheren Verhältnissen, die ehedem vier, fünf oder sechs Kinder hatten, nun nur noch eins oder zwei bekamen.

Das Anliegen von Feministinnen war es noch nie, Frauen das Kinderkriegen auszutreiben, sondern im Gegenteil die Position von Müttern zu stärken und die Gesellschaft insgesamt kinderfreundlicher zu machen. Es waren Feministinnen, die schon vor dreißig Jahren eine Diskussion über Generationenpolitik angestoßen haben. Ihr Ausgangspunkt waren die Erfahrungen, die sie in der Studentenbewegung gemacht hatten: dass es nämlich praktisch unmöglich war, politisches Engagement und Mutterschaft miteinander zu vereinbaren, und dass ihre revolutionären Genossen nicht berücksichtigten, dass Menschen nicht einfach so nächtelang diskutieren und Flugblätter entwerfen können, wenn sie Kinder haben, die gefüttert und gewickelt werden wollen.

Die Mütter- und Kinderfrage war die entscheidende Initialzündung der Frauenbewegung gewesen – das wird heute oft vergessen. Feministinnen haben damals die ersten Kinderläden gegründet, neue pädagogische Konzepte entworfen und zusammen mit Erzieherinnen für eine bessere Ausstattung von Kindergärten gekämpft – lange, bevor das zum gesellschaftspolitischen Mainstream geworden ist.

Der Feminismus will dem, was Frauen wollen und sich wünschen, zu mehr gesellschaftlichem Einfluss verhelfen. Und was wollen Frauen? Sie wollen deutlich mehr Kinder haben, als sie faktisch bekommen – im Schnitt nämlich ungefähr 1,8. Geburten scheitern jedenfalls nicht an feministischen Ideologien, sondern an fehlenden Kindergartenplätzen, immer größeren beruflichen Anforderungen, unflexiblen Arbeitsplätzen – und zunehmend auch an den Männern. Fast die Hälfte der Frauen, die ein Kind möchten, findet schlichtweg keinen passenden Erzeuger – die Lust auf Vaterschaft ist in den letzten Jahren besorgniserregend zurückgegangen: 26 Prozent der jungen Männer wollen keine Kinder, gegenüber nur 11 Prozent der Frauen, wobei sich die »Kinderunlust« der Männer seit 1992 mehr als verdoppelt hat, während sie bei den Frauen kaum gestiegen ist.

Es ist doch sehr auffällig, dass ausgerechnet diejenigen, die in ihren Feuilletons über den Werteverfall und das Ende des familiären Zusammenhalts klagen, gleichzeitig in ihrem Wirtschaftsteil den Neoliberalismus prägen, also eine Wirtschaftsweise, die eindeutig familienfeindlich ist. Der Arbeitsmarkt verlangt inzwischen ein Höchstmaß an Flexibilität, die Zahl der Überstunden steigt wieder an, und es wird immer üblicher, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ständig erreichbar sein müssen, stets bereit, im Interesse des Unternehmens zu reisen oder gar umzuziehen. Das sind ja wohl alles andere als günstige Bedingungen für die Gründung einer Familie, die nun einmal auf eine gewisse Stabilität angewiesen ist.

Auch die alten patriarchalen Verhaltensmuster wirken sich auf vielfältige Weise schädlich auf die Kinderzahlen aus – und zwar international durchaus unterschiedlich. So sind die Geburtenzahlen in jenen Ländern besonders niedrig, in denen es im 20. Jahrhundert nationalsozialistische oder faschistische Regime gegeben hat: Deutschland, Österreich, Spanien, Italien, Griechenland. Offensichtlich wirkt sich das entsprechende Mutterbild der mythologisch aufgeladenen Volksgebärerin, die sich ausschließlich der Kinderaufzucht widmet, noch immer negativ aus. Jedenfalls liegen die Kinderzahlen in Ländern mit einer pragmatischeren Einstellung zur Bevölkerungspolitik und ohne faschistische Vergangenheit – Frankreich, England, USA, Skandinavien – durchgängig höher. Hier gibt es keine ideologisch aufgeheizten Debatten um angebliche »Rabenmütter« oder diffuse Ängste vor den vermeintlich negativen Folgen von »Fremdbetreuung.« Das Problem sind also soziale und kulturelle Strukturen, die die Gesellschaft insgesamt betreffen. Dass alle Mütter Frauen sind ist eine Tatsache. Was genau aber Mutterschaft bedeutet, welche Aufgaben eine Mutter hat und wie sie ihre Rolle ausfüllt, das ist Interpretationssache, es ist Kultur, nicht Natur. Und zwar eine Kultur, die Frauen aktiv mitgestalten, indem sie Entscheidungen über ihr Leben treffen. Die Frage, wie eine Gesellschaft Mutterschaft definiert, ist eine politische Frage, das heißt, wir müssen und können darüber verhandeln und uns so oder so entscheiden – jede Frau für sich ebenso wie die Gesellschaft als Ganze. Wir sollten uns also endlich einmal von der Vorstellung verabschieden, alle Frauen müssten mehr oder weniger dasselbe machen. Frauen haben keine naturgegebenen Pflichten und Aufgaben – ebenso wenig wie Männer. Natürlich ist jede Frau geprägt und beeinflusst von ihrem Körper und von der Biologie, ebenso wie von ihrer Erziehung und der Kultur, in der sie aufgewachsen ist. Aber das ist doch nur ihr Ausgangspunkt. Ihre Freiheit, eigenverantwortlich zu handeln, ist davon überhaupt nicht berührt. Worauf es schließlich ankommt ist das, was eine Frau dann tut . Und das ist – genau darin liegt ja das Spannende – normalerweise eben etwas anderes , als das, was ihre Geschlechtsgenossin von nebenan tut. Frauen sind freie, handelnde, verantwortliche Wesen, und ihre vielen unterschiedlichen Ideen und Visionen sind wichtig. Das ist die Botschaft des Feminismus.

Schaut man sich allerdings die aktuellen Veröffentlichungen zum Thema Kinderhaben an, dann ist da nichts zu lesen von der Vielfalt weiblicher Ideen und Visionen zum Zusammenleben der Generationen. Was uns da begegnet, ist immer wieder eine steretoype Masse namens »die Frauen«, die statistisch vermessen wird und durch diese oder jene Maßnahme auf Norm getrimmt werden soll. Zum Beispiel scheinen sich viele eine gute, also den eigenen Bestand kontinuierlich reproduzierende Bevölkerung so vorzustellen, dass jede Frau die dafür statistisch notwendigen zwei Kinder auch höchstpersönlich bekommt. Kinderlose Frauen gelten ebenso als bevölkerungspolitische Irrgängerinnen wie Frauen, die mehr als drei Kinder haben.

Der Statistik ist es aber schlichtweg egal, ob ein neu geborenes Kind das erste, zweite, dritte, vierte oder fünfte ist. Für das bevölkerungspolitische Ziel, die Fertilitätsrate zu erhöhen, ist das Ideal der Zwei-Kind-Familie schädlich. In den USA oder in Schweden etwa ist die Quote der lebenslang kinderlosen Frauen fast genauso hoch wie in Deutschland, und dennoch liegt die Fertilitätsrate im bestandserhaltenden Bereich: weil diejenigen Frauen, die Mütter sind, dort nicht eins oder zwei, sondern drei, vier oder fünf Kinder haben.

Es wird immer Frauen geben, die keine Kinder haben möchten. Wer mit Leidenschaft berufliche Ziele verfolgt und entsprechende Schwerpunkte im Lebenslauf setzen möchte, lässt sich mit äußeren Anreizen oder Sanktionen nicht zu einer Elternschaft bewegen. 44 Prozent der kinderlosen Frauen geben an, dass sie ohne Kinder zufrieden sind – woraus sich durchaus schließen lässt, dass diese Frauen auch bei großzügigster Familienförderung an ihrem Lebensstil nichts ändern würden. Maßnahmen, die effektiv sein wollen, müssen sich doch wohl sinnvollerweise auf die 56 Prozent kinderloser Frauen richten, die mit diesem Zustand nicht zufrieden sind.

Man kann natürlich auch an diesem Punkt die Frage nach der Gerechtigkeit stellen: Leben die Kinderlosen nicht auf Kosten der anderen? Profitieren sie nicht unverhältnismäßig von unseren Sozialsystemen, die die Rente vergesellschaftet haben, die Kosten für die Kindererziehung aber bei den Eltern belassen? In der Tat ist es mehr als überfällig, diesen Aspekt sorgfältig zu diskutieren. Allerdings wären zunächst einmal Kriterien zu entwickeln, wie der »generative Beitrag« Einzelner (wie das im Fachjargon genannt wird) quantitativ und qualitativ überhaupt erfasst werden kann. Eine schlichte Aufteilung in Kinderlose und Eltern ist jedenfalls vollkommen unsinnig. Quantitativ gesehen ist nämlich das »Ungerechtigkeitsverhältnis«, wenn man so will, zwischen einer Frau mit einem Kind und einer mit drei Kindern doppelt so hoch, wie das zwischen einer Kinderlosen und einer Frau mit nur einem Kind. Und qualitativ kann der generative Beitrag einer Kinderlosen, die sich zum Beispiel ehrenamtlich in der Hausaufgabenhilfe für sozial schwache Kinder engagiert, höher sein, als der eines biologischen Vaters, der ansonsten nichts zur Erziehung seiner Kinder beiträgt.

Hinter der offenbar unausrottbaren Aufteilung von Frauen in sich gegenüberstehende Spezies namens »Mütter« und »Kinderlose« steckt in Wahrheit nicht das Bemühen um Gerechtigkeit, sondern vielmehr, mal unterschwellig, mal offen ausgesprochen, die Vorstellung, erst durch die Mutterschaft werde eine Frau komplett und vollständig. Aber dieser Mythos transportiert nicht nur ein überholtes Frauenbild, er ist heute unter demografischen Gesichtspunkten im wahrsten Sinn des Wortes kontraproduktiv. Denn es ist eben nicht ein rasanter Anstieg der »Kinderlosen« für die prognostizierte Misere »Geburtenmangel« verantwortlich, sondern der Anteil der Frauen, die früher vier oder fünf Kinder hatten, ist geschrumpft. Nicht die Kinderlosen haben sich in erster Linie verändert, sondern die Mütter: Sie bekommen heute nur noch zwei oder noch häufiger sogar nur ein Kind – ganz im Sinne der Propaganda vom weiblichen Wesen. Denn für die imaginierte »Komplettierung« ihres Frauseins durch die Erfahrung der Mutterschaft reicht ein Kind ja völlig aus.

Natürlich ist es eine voll und ganz zu respektierende Entscheidung, wenn eine Frau nur ein Kind haben möchte. Bedenklich ist jedoch eine Kultur, die Familien mit vielen Kindern fast schon für asozial hält, und die Frauen, die in der Mutterschaft nicht nur eine kurze »Phase« und eine »Erfahrung« sehen, die sie nicht missen wollen, sondern die sich eine ganze Reihe von Jahren lang Zeit nehmen, um mehrere Kinder zu haben und groß zu ziehen, für tendenziell »unemanzipiert« hält, weil sie nicht den gleichen beruflichen Ambitionen folgen können wie ihre kinderlosen oder nur ein Kind habenden Geschlechtsgenossinnen. Was in der Tat heute ein großes Risiko ist. Denn »Nur-Hausfrau« zu sein, kann keine Option für ein ganzes Leben mehr darstellen. Selbst mit drei oder vier Kindern ist eine Frau allerhöchstens 20 Jahre beschäftigt – bei einer Lebenserwartung von 80 Jahren ist das zu wenig an »aktiver« Zeit. Wenn Frauen ihre beruflichen Ambitionen also hinten anstellen, um sich der Erziehung von Kindern zu widmen, dann bedeutet das mehr als in früheren Generationen ein wirklich großes Opfer. Für die Zeit »danach« – und die kommt nun mal unweigerlich – haben sie sich viele Optionen verschlossen.

Es ist deshalb nur »vernünftig« – im Sinne der Marktlogik unserer gegenwärtigen Erwerbsarbeitsgesellschaft – wenn die meisten Frauen versuchen, diese Kinderphase möglichst kurz zu halten und quasi nebenbei abzuwickeln. Man muss eben heutzutage (Stichwort »Eigenverantwortung«) den eigenen Marktwert pflegen. Deshalb nehmen so viele Frauen mit kleinen Kindern in Kauf, dass sie extrem belastet und überarbeitet sind. Jede Frau, die Kinder hat, vollführt einen Balanceakt zwischen den Anforderungen der Kinder und denen des Arbeitsmarktes. Natürlich leiden darunter auch soziale Beziehungen und möglicherweise auch manche Kinder: Was nebenbei erledigt wird, wird eben meistens nicht wirklich gut erledigt. Aber wessen Schuld ist das? Haben die Frauen überhaupt eine andere Chance?

Im Grunde genommen gibt es derzeit in Deutschland überhaupt kein Modell dafür, wie eine Frau mehr als zwei Kinder haben kann, ohne damit ein sehr hohes persönliches Risiko einzugehen. Der Preis, den sie zahlen muss, ist der Verzicht auf viele Möglichkeiten, sich den eigenen Lebensunterhalt selbstständig auf einem angemessenen Niveau erwirtschaften zu können. Und das, wo gleichzeitig sozialstaatliche Sicherungssysteme zurückgefahren werden und immer weniger Männer geneigt (oder auch in der Lage) sind, den »Familienernährer« abzugeben. Mütter von drei, vier oder fünf Kindern stammen deshalb entweder aus sehr wohlhabenden Verhältnissen, sind also aufgrund ihres Vermögens auf Erwerbsarbeit nicht angewiesen oder verdienen genug, um einen Großteil der Haus- und Erziehungsarbeit an bezahlte Kräfte delegieren zu können. Oder es sind Frauen aus den unteren sozialen Schichten, die aus verschiedenen Gründen für sich im Erwerbsarbeitsmarkt sowieso keine Chance sehen. Den anderen bleibt gar nichts anderes übrig, als es bei zwei Kindern zu belassen.

Doch wer an diesem unbefriedigenden Zustand etwas ändern will, darf nicht die Frauen mit moralischen Appellen überschütten, sondern muss sich dafür einsetzen, dass unsere Gesellschaft neue Modelle von Arbeit, Einkommensverteilung, Wertschätzung und gesellschaftlichem Einfluss (sowohl in symbolischer, als auch in finanzieller Hinsicht) findet. Solange für das Problem der strukturellen Unmöglichkeit von Vielkind-Familien keine Lösung gefunden wird, kann die Fertilitätsrate gar nicht signifikant ansteigen.

Entsprechende Diskussionen haben zum Glück längst begonnen, zum Beispiel mit dem Vorschlag eines leistungsunabhängigen Grundeinkommens, mit dem Versuch also, Arbeit und Einkommen zu entkoppeln, oder auch mit Ideen für eine Umgestaltung des Arbeitslebens, damit sich Arbeitsbedingungen nicht nur an den Interessen der Unternehmen orientieren, sondern auch an den Notwendigkeiten der Familienarbeit. Auch hier sind Feministinnen wieder mal Vorreiterinnen, anders übrigens, als die meisten Herren, die sich so gerne als Bevölkerungsexperten zu Wort melden.

Bei all dem müssen wir uns außerdem klar machen, dass es ohnehin so gut wie unmöglich ist, mit Hilfe von Bevölkerungspolitik das Gebärverhalten von Frauen steuern zu wollen – die Entscheidungen, warum Frauen Kinder bekommen oder keine und wenn, wie viele, sind so komplex, hängen von so vielen unterschiedlichen Faktoren ab, dass einzelne Maßnahmen darauf so gut wie keinen Einfluss haben.

Ohnehin ist die Diskussion über die Kinderzahlen angesichts der demografischen Entwicklung nur ein Punkt – und nicht einmal der wichtigste. Und damit komme ich zum zweiten Teil meines Vortrags: Der Frage nach neuen Altersbildern.

Der Hauptgrund dafür, dass der Altersdurchschnitt der Gesellschaft steigt, ist nämlich nicht die Geburtenrate, sondern die Lebenserwartung. Die steigt kontinuierlich an. Derzeit liegt sie bei 78 Jahren, und sie steigt in den westlichen Industrienationen jedes Jahr um zwei bis drei Monate an.

Wobei das eigentlich Neue an der Entwicklung aber nicht ist, dass die Menschen immer älter werden, sondern dass immer mehr Menschen alt werden. Fast 95 Prozent aller Menschen werden heute sechzig Jahre oder älter – das hat es in der ganzen Menschheitsgeschichte noch nie gegeben. Vor hundert Jahren lag die durchschnittliche Lebenserwartung noch bei nicht einmal 50 Jahren. Das heißt aber nicht, dass die Menschen damals »mit 50 gestorben« sind, wie oft gesagt wird. Diejenigen, die damals die 50 überhaupt erreicht haben, wurden dann meistens auch noch 70 oder 80 Jahre alt. Der Unterschied ist, dass damals die wenigsten überhaupt ein solches Alter erreicht haben. Sehr viele Kinder starben schon in den ersten Lebensjahren, viele Frauen starben bei der Geburt, viele Krankheiten erforderten damals Todesopfer, während sei heute heilbar sind. Die Arbeitssicherheit hat sich verbessert, es gibt weniger Unfälle und so weiter.

Das heißt, das so genannte demografische »Problem« hat seine wichtigste Ursache darin, dass sich die medizinischen und hygienischen Bedingungen so sehr verbessert haben, dass das Alter nichts ist, was nur wenige Glückliche erreichen können, sondern praktisch alle. Wollen wir uns ernsthaft darüber beklagen und das als Katastrophe an die Wand malen? Das wäre ja nun wirklich ein Armutszeugnis für unsere Kultur.

Natürlich liegt es auf der Hand, dass diese Entwicklung weit reichende gesellschaftliche Veränderungen nach sich ziehen muss. Schaut man sich zum Beispiel den Begriff »Rentenversicherung« an: Als Ende des 19. Jahrhunderts die Bismarck’sche Rente für männliche Industriearbeiter eingeführt wurde, war das tatsächlich eine Versicherung gegen einen Ausnahmefall – nur wenige Industriearbeiter wurden nämlich überhaupt 70 Jahre alt. Heute können wir aber alle so gut wie sicher sein, dass wir unsere Rente erleben. Aber was soll das für eine »Versicherung« sein, wenn der Versicherungsfall so gut wie sicher auch eintritt?

Das heißt, wenn heute über die so genannten »Probleme« der Veralterung der Gesellschaft diskutiert wird, dann müssen wir uns zunächst einmal vor Augen führen, dass wir hier mit einer sehr positiven Veränderung zu tun haben. Und zwar mit einer, die unausweichlich ist: Egal, wie gut es uns gelingt, in Zukunft es den Frauen zu ermöglichen, so viele Kinder zu bekommen wie sie wollen, und egal wie viel Zuwanderung von jungen Menschen aus anderen Ländern wir auch fördern – darauf, dass die Bevölkerung älter wird, müssen wir uns so oder so einstellen. Dabei wird es vor allem darauf ankommen, dass wir uns von überkommenen Altersklischees lösen. Denn wenn wir in den »Alten« nur eine Belastung sehen, dann ist das in der Tat fatal.

Zum Glück hat diese Debatte auch längst begonnen. So wird inzwischen schon viel über die Notwendigkeit nach lebenslangem Lernen, nach neuen Altersbildern, nach Aktivität und Engagement von Älteren diskutiert. Die Wirtschaft entdeckt ältere Menschen als kaufkräftige Konsumentinnen und Konsumenten, sogar in der Werbung sieht man inzwischen manchmal ein älteres Gesicht. Neue Projekte entstehen von Wohngemeinschaften, Netzwerken, Ehrenamtsakademien.

Doch leider geschieht das meist aus einer männlichen Perspektive. So wird zum Beispiel gefordert, dass sich die Lebensläufe ändern müssten, dass es nicht mehr stetig auf der Karriereleiter hinauf gehen kann, dass ältere Mitarbeiter auch einmal Verantwortung abgeben und kürzer treten sollen, dass wir flexibler werden und immer weiter dazu lernen und uns auch in höherem Alter noch mal umorientieren müssten. Aber ist das für Frauen denn wirklich etwas Neues? Frauen hatten doch schon immer gebrochene Arbeitsbiografien, viele Frauen haben längst im Alter von um die Fünfzig, wenn die Kinder aus dem Haus waren, noch einmal mit einer neuen Arbeit oder einer neuen Ausbildung begonnen. Frauen hatten ja nie mehrheitlich diese Karrieren, in denen es stetig aber sicher bergauf ging. Und muss man den Scharen älterer Frauen, die die Volkshochschulen oder Universitäten des dritten Lebensalters besuchen, wirklich erst erklären, dass lebenslanges Lernen notwendig ist? Das machen sie doch schon längst.

Frauen machen sich auch theoretisch schon lange über da Alter Gedanken. Schon Ende der 1960er Jahre hat die bekannte Feministin Simone de Beauvoir ein sehr detailliertes Buch über die Kultur des Alters geschrieben. Damals war die Situation der Alten noch sehr prekär, und sehr schonungslos und ehrlich hat sich Simone de Beauvoir auch dem eigenen Alternsprozess gestellt.

1993 hat die US-amerikanische Feministin Betty Friedan eine ebenfalls sehr dicke Studie über das Alter vorgelegt, in der viele der Themen, die neuerdings so aufgeregt in den Feuilletons diskutiert werden, bereits angesprochen sind. Leider wird auf dieses Wissen und diese Ideen der Frauenbewegung praktisch nie Bezug genommen – so ist Friedans Studie nur noch antiquarisch zu bekommen. Aber die Lektüre lohnt sich. Unter vielem anderen macht sie sich Gedanken darüber, warum die Lebenserwartung von Frauen und Männern sich so sehr auseinander entwickelt hat. Inzwischen leben Frauen ja im Durchschnitt rund sieben Jahre länger als Männer, und zwar vor allem in den Industrieländern, in den Ländern mit emanzipiertem Frauenbild. Erklären lässt sich das heute nicht mehr einfach mit dem risikoreicheren Leben von Männern. Auch die Arbeitsplätze von Männern sind inzwischen recht sicher, auch Männer leben nicht mehr so ungesund wie früher. Und trotzdem driftet die Lebenserwartung der Geschlechter noch weiter auseinander. Friedan glaubt, das liege daran, dass Frauen besser auf die neuen Zeiten eingestellt sind, dass das Ende der Erwerbsarbeit, das Ende der patriarchalen Denkmuster, Frauen nicht so schwer fällt wie Männern.

Ich glaube in der Tat, dass hier Frauen Protagonistinnen, Vorreiterinnen einer gesellschaftlichen Veränderung sind, dass sie vieles schon ausprobieren und leben, was die Männer in der heutigen Demografiedebatte gerade erst als neues Feld für sich entdecken. Leider gilt die alte Frau in unserer Kultur nicht viel. Ich nenne das das Miss-Marple-Prinzip. Miss Marple weiß gut Bescheid, aber sie wird leicht übersehen, niemand hört auf das, was sie sagt. Das ist aber schlecht für unsere Gesellschaft, wir brauchen das Wissen und das Engagement der Miss Marples.

Was ich mir von der älter werdenden Gesellschaft erhoffe, das ist überhaupt ein realistischeres Menschenbild. Derzeit wird doch immer noch so getan, als seien alte Menschen irgendwie ein Sonderfall, der Probleme verursacht: Sie sind langsam, brauchen Hilfe oder sogar Pflege, kosten Geld, leisten nichts. Doch wer sagt eigentlich, dass ein »normaler« Mensch nur ist, wer rundum funktionstüchtig ist, sich selbst versorgen kann und auf niemandes Unterstützung angewiesen ist? Sind wir nicht alle einmal als schreiende und völlig unselbstständige Babies auf die Welt gekommen? Ist das Normale nicht, dass Menschen aufeinander angewiesen sind? Die Illusion des patriarchalen Menschenbildes, wonach der erwachsene Mann die Norm ist und um den Rest sich die Frauen kümmern, ist nicht mehr aufrechtzuerhalten, und das ist auch gut so.

Stellen Sie sich einmal vor, wir würden unsere Welt so einrichten, dass alte Menschen gut in ihr leben könnten: Alle Schilder wären so groß und kontrastreich beschrieben, dass man sie gut lesen kann, die Ampelphasen wären lang genug, dass auch langsam gehende Menschen über die Straße kommen, überall gäbe es Rampen und Aufzüge, an der Supermarkt könnte man wählen zwischen Schlangen für Eilige und Schlangen für solche, die Zeit haben. Würde das nicht auch jungen Menschen zugute kommen? Würden nicht auch sie sich über verständliche Bedienungsanleitungen freuen? Wären nicht auch sie dankbar für den Aufzug, wenn sie mit Kinderwagen unterwegs sind oder Getränkekisten schleppen müssen? Eine Welt, die für Alte lebenswert ist, ist für alle lebenswerter.

Die Wirtschaft ist da schon weiter. Sie entwickelt nicht nur längst entsprechende Produkte, weil sie die Alten als Konsumentinnen und Konsumenten entdeckt hat, sie verzichtet auch darauf, ihre so entwickelten Produkte als »für Alte« anzupreisen. Sie hat nämlich verstanden, dass es Produkte für alle sind. So haben sich die japanischen Autos, die als erste hohe Sitze zum bequemen Ein- und Aussteigen hatten, und die ursprünglich für Seniorinnen und Senioren entwickelt worden waren, inzwischen auch als Verkaufsschlager bei jungen Leuten herausgestellt. Ich bin deshalb der Meinung, dass wir uns von den Alten mehr positive als negative Impulse für die gesamte Gesellschaft erwarten dürfen, und dass es gut ist, wenn es mehr Alte werde. Allerdings gehört dazu auch, dass wir uns von überkommenen Altersklischees entfernen. Denn die zukünftigen Alten werden nicht so sein, wie die heutigen Alten, ebenso wie die heutigen Alten ja auch schon nicht mehr so sind, wie die Alten der Generation vor ihnen.

Dies ist übrigens ein grundsätzliches Problem der Altersforschung: Wenn ich Alte mit Jungen vergleiche und dabei Unterschiede feststelle – zum Beispiel dass die Jungen mehr am Computer sitzen oder die Alten mehr Volksmusik hören – dann kann ich damit nämlich noch nicht wissen, ob diese Unterschiede am Alter selbst liegen oder ob sie nicht an unterschiedlichen Lebenserfahrungen liegen. Bei der Volksmusik oder beim Computer werden Sie mir da sicher zustimmen: Dass es hier Unterschiede zwischen Alten und Jungen gibt, liegt sicher nicht am Alter, sondern an den Zeitläufen. Die heute Jungen, werden im Alter nicht aufhören, mit dem Computer zu arbeiten oder plötzlich anfangen, Volksmusik zu hören.

Bei anderen Dingen hingegen finden wir diese Schlussfolgerungen durchaus, obwohl sie da nicht weniger unlogisch sind. Zum Beispiel, wenn oft gesagt wird, alte Menschen seien tendenziell konservativer als Junge. Mich überzeugt das nicht. Ich glaube, dass diese Beobachtung (wenn sie denn heute überhaupt noch stimmen sollte) nichts mit dem Alter zu tun hat, sondern mit dem Erbe einer patriarchalen Gesellschaftsform. Patriarchat bedeutet ja, dass der Vater das Sagen hat – Patriarchat heißt wörtlich übersetzt: Vaterherrschaft. Das heißt, die jüngeren Männer müssen sich den alten Männern unterordnen, solange bis diese zu alt werden, dann treten die jüngeren Männer an ihre Stelle, entmachten den Vater und übernehmen dessen Position – so war unsere Gesellschaft bis vor wenigen Jahrzehnten strukturiert. Kein Wunder, das unter solchen Verhältnissen alte Männer konservativ sind und junge Männer revoutionär – schließlich haben bei einer Veränderung die Alten alles zu verlieren und die Jungen alles zu gewinnen.

Dieser Konflikt hat aber nichts mit dem Alter zu tun, ist nicht notwendig in den Generationen angelegt, sondern hängt direkt mit den patriarchalen Strukturen zusammen. Eigentlich, so finde ich nämlich, könnten ältere Menschen durchaus flexibler und innovativer sein. Sie haben schließlich im Laufe ihrer langen Lebenserfahrung schon so manche Veränderung miterlebt. Sie wissen , dass die Dinge sich verändern können. Junge Menschen können sich das nur theoretisch vorstellen, für sie ist die Welt doch eigentlich viel fest gefügter.

Dies waren nur einige Beispiele, was es bedeutet, die älter werdende Gesellschaft ausgehend von der weiblichen Liebe zur Freiheit zu verstehen und zu gestalten. Ich bin mir sicher, dass Ihnen selbst noch viele andere Beispiele aus Ihrer Erfahrung einfallen.

Mit dieser positiven Vision will ich Probleme nicht schön reden. Sozialsystem, Geldverteilung usw. das alles sind schwierige Themen, die heute nicht zur Sprache kamen. Aber ich glaube, dass halbherzige Herumschrauben an Details, die wir derzeit erleben, bringt nicht viel. Ich glaube, es ist ein mental-kultureller Wandel notwendig, der von der Freiheit der Frauen und dem Potenzial des Alterns ausgehend sich den Herausforderungen und auch Problemen stellt und Lösungen sucht. Dabei können wir von eigenen Erfahrungen ausgehen und wir sollten das Thema nicht an »Experten« delegieren. Denn was ich über das Frausein gesagt habe – dass es ein Gegenstand politischer und kultureller Verhandlungen ist und nichts, was »von Natur aus« so und so sein muss – das stimmt ganz genauso für das Alter. Ich freue mich, mit Ihnen ins Gespräch zu kommen.

Vortrag VHS Stadt Bornheim, 27.3.2007

In Auszügen veröffentlicht in: »Frauengenerationen stehen zueinander – wie sieht das aus?« Reader zur 20. Frauenkonferenz der »kda«, Augsburg 2007.